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BERLINER FREUNDESKREIS um 1938

Der Maler Karl Wyrwoll erzählt:

Gern erinnere ich mich an unseren Berliner Freundeskreis am Anfang der Dreißiger Jahre. Engert war der Initiator und oft auch  unser Gastgeber. Wir trafen uns sporadisch in den Ateliers und Wohnungen zu Gesprächen, Diskussionen und Geselligkeiten. Es kam, wer eben erreichbar war und kommen konnte. Jeder hatte etwas zu bieten und mancher skurrile Einfall steigerte die Fröhlichkeit.

In den Dreißigerjahren gehört Gräser zum Freundeskreis um den Silhouettenkünstler Ernst Moritz Engert. Dieser stellt ihn seinen Gästen  - Schauspieler, Maler, Musiker, Tänzer - als den Sprachwissen-schaftler Professor Gräser vor, um ihn so vor Missachtung zu schützen. Als der Freund sich in Berlin nicht mehr halten kann, kauft er ihm 1940 sein leckes Hausboot ab und ermöglicht ihm dadurch die Reise nach Leipzig und München.

Ernst Moritz Engert
(1892-1986)

Dem strömenden Leben aller Künste geöffnet, entzündeten sich die Diskussionen am aktuellen Zeitgeschehen. Zu diesem zwanglosen kreativen Kreis gehörten zeitweilig der Karikaturist und Graphiker Albert Schaefer-Ast, ein langjähriger Freund von Engert, der Pressezeichner Dolbin, der Pianist Zadora, das junge Designer-Ehepaar Krugmann, die Maler Brauer, Nalbandian,  der Zauberkünstler Buttgereit, die Tänzerin La Jana, Roda-Roda und der Arzt und Wissenschaftler Gerhard Pagel.

Die Tänzerin und Filmschauspielerin La Jana (1904-1940)
 war in den Dreissigerjahren ein höchst erfolgreicher Revuestar.

       

Nicht zu vergessen ist der fast schon abenteuerliche "Gustogras" alias Prof. Dr. phil. Gustav Gräser. Sein ungewöhnlicher Habitus - das mit langem, schneeweißem Haar umrahmte Haupt, der Vollbart, die nackten, in Sandalen steckenden Füße, seine Kutte aus Sackleinen - gab in der Öffentlichkeit immer den Anlaß für mancherlei Gespött, das er aber würdevoll mißachtete.

Karl Wyrwoll



Selbstporträt von Engert


Der  Vogelfreund

"Nachts zu Emmy aufs Atelier. Das ist eine wüste Bude. ... Morax und Ida und Engert lagerten in dem Atelier, in dem Emmy, angetan oberhalb mit einem verschlissenen Herrengehrock, unten mit feinen batistenen Höschen, herumsprang und den schmierigen Engert karessierte. Morax besaß eine Familienkarte für die Blumensäle ... Wir nahmen vor dem Café Bauer eine Droschke ... Ich auf dem Rücksitz, nach vorn Engert, dessen Abgeschabtheit nachgerade beängstigend wirkt und der in seiner unerhörten Länge, mit dem gewaltigen Maul, der schwarzgeränderten Brille, den wilden Haaren und den dürren Bewegungen unerhört auffällig wirkt." (Erich Mühsam: Tagebücher S. 38f.)

Mühsams Bild von Ernst Moritz Engert ist nicht gerade mit Sympathie gezeichnet. Kein Wunder: der hochgewachsene Maler und Silhouettenkünstler ist Mühsams stärkster Konkurrent im Kampf um die Gunst des "kleinen Hurenweibs" Emmy Hennings (ebd. S. 34). Notgedrungen muss er mit ihm teilen. Andererseits darf er ihm nicht feind sein. Denn Engert gehört zur Schwabinger Boheme-Familie um Otto Gross, und Eifersucht passte nicht zu den Regeln der neuen Moral. Gerade die nicht-besitzergreifende Liebe lehrt ja das Gross'sche Evangelium.

Ernst Moritz Engert (1892-1986), den man später den bedeutendsten Silhouettenkünstler des Jahrhunderts nennen wird, beginnt als Porträtist der Schwabinger Bohème. Er hat sie alle ausgeschnitten in seinen Schattenrissen: Karl Otten, Emmy Hennings, Max Halbe, Oskar Maria Graf, Georg Schrimpf, Carlo Holzer, Emilio Holzer, Erich Mühsam, John Höxter, Marietta di Monaco, Lotte Pritzel, Stefan George, Karl Wolfskehl, René Prévot, Leonhard Frank, Ringelnatz, Kati Kobus und andere mehr. Auch Gusto Gräser – doch davon später.

Es sind die Menschen um den Psychoanalytiker und „Sexualrevolutionär“ Otto Gross, denen er mit Schere und Pinsel zu Leibe rückt. Nur einer fehlt in seiner Galerie der Schwabinger Enormitäten: Gross selbst. Kein Schattenriss von Otto Gross – warum?

Engert war am Politischen dieses Debattier- und Experimentierclubs offenbar nicht interessiert. Wohl auch nicht an der Psychoanalyse. Er war nicht, wie so viele andere in diesem Kreis, ein geprügeltes Proletarierkind, vermutlich auch nicht ein Opfer bürgerlichen Ehrgeizes und strenger Elterngewalt. Am 24. Februar 1892 war er in Yokohama geboren als Sohn eines Kaufmanns und Bankiers aus Hadamar in Hessen. Der Urgroßvater war Oberamtmann gewesen, der Großvater Besitzer einer Zündholzfabrik. Engert musste nicht um sozialen Aufstieg kämpfen und es lag ihm auch nichts an sozialem Protest. In Japan aufgewachsen, von hoher Statur, mit der Gabe, aus der Hand zu lesen, umgeben vom fernöstlichen Flair seiner Herkunft und das Dandy-Gehabe eines Weltmanns verbreitend, hatte er keine dringenden Seelenprobleme zu bieten, keine Panzerungen zu lüften. Er sah die Welt mit Ironie und ergab sich dem Genuss des Augenblicks. Die Gross-Familie war ihm ein angenehmes Milieu, die Ideologie war ihm schnuppe.

Gross, so darf man vermuten, bedeutete ihm nichts oder er lehnte ihn sogar ab. Denn merkwürdigerweise scheint er Freundschaft geschlossen zu haben mit einem Mann, der, obwohl aus der gleichen asconesischen Wurzel kommend, doch in manchem als der Antipode von Gross zu bezeichnen ist: Gusto Gräser.

Wir wissen darüber nichts Näheres, haben dazu keinen Beleg. Wir können das nur rückschließend vermuten aus der Tatsache, dass Gräser in den Dreißigerjahren zum Berliner Freundeskreis von Engert gehörte. Der lebte in den Zwanzigern abwechselnd in Darmstadt, Bonn, München und Berlin. In Bonn gehörte er zu den "Rheinischen Expressionisten" um August Macke, Carlo Mense, Heinrich Campendonck, Max Ernst. Seit 1934 lebte er ständig in Berlin. Dort porträtiert Engert die bekannten Schauspieler und andere Berühmtheiten seiner Zeit. Um ihn sammelt sich ein Freundeskreis von Künstlern und Schriftstellern, dem auch Gusto Gräser angehörte. Engerts Freund und Schüler, der Maler Karl Wyrwoll, schreibt:

"Gern erinnere ich mich an unseren Berliner Freundeskreis am Anfang der Dreißiger Jahre. Engert war der Initiator und oft auch unser Gastgeber. ... Dem strömenden Leben aller Künste geöffnet entzündeten sich die Diskussionen am aktuellen Zeitgeschehen. Zu diesem zwanglosen kreativen Kreis gehörten zeitweilig der Karikaturist und Graphiker Albert Schaefer-Ast, ein langjähriger Freund von Engert, der Pressezeichner Dolbin, der Pianist Zadora, das junge Designer-Ehepaar Krugmann, die Maler Brauer, Nalbandian, der Zauberkünstler Buttgereit, die Tänzerin La Jana, Roda-Roda und der Arzt und Wissenschaftler Gerhard Pagel.

Nicht zu vergessen ist der fast schon abenteuerliche "Gustogras" alias Prof. Dr. phil. Gustav Gräser. Sein ungewöhnlicher Habitus – das mit langem, schneeweißem Haar umrahmte Haupt, der Vollbart, die nackten, in Sandalen steckenden Füße, seine Kutte aus Sackleinen – gab in der Öffentlichkeit immer den Anlaß für mancherlei Gespött, das er aber würdevoll mißachtete" (Karl Wyrwoll: Ernst Moritz Engert. Hadamar 1988, S. 57).

Dass Gräser hier von Wyrwoll mit Doktor- und Professorentitel geschmückt wird, war keinesfalls ironisch gemeint. Wie sich in einem Gespräch mit Wyrwoll in den Neunzigerjahren herausstellte, hielt er ihn allen Ernstes für einen Professor der Sprachwissenschaft, behauptete gar, Gräser sei von Berlin weggezogen, weil er eine Berufung auf einen Lehrstuhl nach Leipzig erhalten habe. Tatsächlich zog Gräser um 1940 für einige Zeit nach Leipzig, freilich aus ganz anderen Gründen.

Was erhellt daraus? Nichts anderes, als dass Engert seinen Freund Gräser hoch respektierte und diese Achtung auch von seinen Gästen erwartete. Er ernannte den unakademischsten aller Menschen kurzerhand zum Professor, einerseits wohl in Anerkennung von dessen Forschungen auf dem Feld der Sprache, zum andern, um ihn vor der üblichen Verkennung und Missachtung zu schützen.

Nun – auch wenn dies kein sicherer Beweis ist – man darf wohl vermuten, dass Gräser schwerlich in den Freundeskreis von Engert Zugang gefunden hätte, wenn ihn dieser nicht von Schwabinger Zeiten her gekannt und geschätzt hätte. Darauf verweist auch der Beiname "Gusto Gras", den Wyrwoll überliefert. So nannte sich Gräser in seinen frühen, eben den Schwabinger Jahren, in den Dreißigern aber längst nicht mehr.

Gemeinsame Erinnerungen verbanden sie auch mit der Künstlerpension Fürmann in München-Freimann, wo sowohl Engert als auch Gräser zeitweise (und vielleicht gleichzeitig) gewohnt hatten.

Im Jahre 1938 erwarb Gräser ein Hausboot auf dem Seddinsee in der Nähe von Eichwalde. Der Kaufvertrag hat sich erhalten. In der rings von Wald und Wasser umgebenen Lage am äußersten Rand von Berlin fand der Dichter einen idealen Rückzugsort. Sein Boot hatte allerdings ein Leck, und  es kostete Gusto viel Mühe, täglich das eingedrungene Wasser auszuschöpfen. Nachdem seine Situation in Berlin unhaltbar geworden war, verkaufte er das Boot an Engert und zog erst nach Leipzig, dann, 1942, nach München.

Aus dem Jahr 1938 stammt ein Scherenschnitt-Porträt Engerts von Gräser (in Wyrwoll, S. 45). Karikaturhaftes, das sonst den Bildnissen von Engert oft eignet, ist hier kaum zu erkennen, wohl aber eine pastorale Weichheit, die der prophetischen Härte des Abgebildeten nicht ganz gerecht wird. Aus dem Schattenriss spricht warme Sympathie für den besinnlichen Träumer, den nachdenklichen Menschenfreund, der gewiss auch pastorale Züge hatte. Wollte er doch ein "Wirt" und "Hirt" für seine Mitmenschen sein 

Gräser war in mancher Hinsicht – mit seinem Ernst, seiner Schwere, seiner Unbedingtheit - ein Gegenbild zu dem kauzigen Dandy und Ironiker Engert. Der war ein großer Vogelfreund, in seiner Wohnung ständig umgeben von einer Wolke aus Papageien. Wie diese bunten Vögel mag er auch den bunten Vogel Gräser geschätzt und geliebt haben – als ein Gegengewicht für die eigene Neigung zu Spottlust und Frivolität. Der lebenslustige Dandy, als den Mühsam ihn sah und erlebte, hatte die reine und reinigende Luft des Waldmenschen Gräser ebenso nötig wie das wilde Urwaldgekreisch seiner Papageien.

 
    

Gräser schreibt am 26. September und am 24. November 1938 aus seinem Hausboot an Wolfgang Kassner,
 einen Freund aus der Jugendbewegung. Der unterstützte ihn noch nach dem Krieg mit gelegentlichen Geldspenden.

  

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