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Freunde in Ascona

Siehe auch hier: "Demians Milieu"


Frau Stocksmayr beim Sticken in einer Felsgrotte bei Ponte Brolla

Foto: Archivio Fondazione Monte Verità (ASTi), Fondo Harald Szeemann

In der Ausstellung: "1922. Le Origini della Collezione" des Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona, die vom 30. April bis 12. September 2010 gezeigt wurde, waren jene Bilder versammelt, die Asconeser Künstler im Jahre 1922 zur Gründung des Städtischen Museums gestiftet haben. Einige dieser Künstler, nämlich Adolf Stocksmayr, Jacob Wagner, Clara Wagner-Grosch und Hermann Hesse, gehörten zum Freundeskreis von Gusto Gräser, über den wir durch diese Ausstellung und den zugehörigen Katalog Näheres erfahren.


HERMANN HESSE
Über Hermann Hesse und seine Beziehung zu Gusto Gräser schreibt Mara Folini im Katalog: 

Hesse è famoso per la sua attività di letterato e poeta che a cultivato per tutta la vita … Il suo contatto con il Ticino risale al 1901, quando vi soggiorna durante il suo viaggio in Italia, ma è nel 1907, quando è ospite del sanatorio di Monte Verità, che avviene l’incontro cruciale con il predicatore errante, pacifista, poeta e filosofo Gustav Gräser.

Sarà tale rapporto a portarlo a più riprese in Ticino, per far visita all’amico, ritiratosi nella sua grotta ad Arcegno, quando studierano insieme le Upanishad delle sacre scritture induiste. Con Gräser, suo “guru”, Hesse condivise l’esperienza di eremitaggio, “vivo nudo e sveglio, come un cervo nel suo boschetto di rocce”, mantenendo con lui stretti rapporti almeno fino al 1919, anno die pubblicazione del suo romanzo di formazione giovanile Demian. Il protagonista, ispirato proprio alla figura di Gräser, come maestro di vita spirituale, nel romanzo cercherà d’aiutare il giovane Sinclair-Hesse a crescere, prospettandogli una vita piena, influenzata del pensiero di Nietzssche ma anche dalla psicologia analitica junghiana.

Mara Folini in:
Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona (Hg.): 1922.
Le Origini della Collezione. Locarno 2010,  S. 78

In deutsch:

Hesse ist berühmt für seine Lebensleistung als Literat und Dichter … Seine Bekanntschaft mit dem Tessin geht bis ins Jahr 1901 zurück, als er sich während seiner Italienreise dort aufhielt. Aber erst 1907, als er Gast des Sanatoriums Monte Verià wird, ereignet sich die entscheidende Begegnung mit dem Wander-prediger, Pazifisten, Dichter und Denker Gustav Gräser.

Es entwickelt sich eine enge Beziehung, die ihn wiederholt ins Tessin führt, um den Freund zu besuchen. Mit ihm zog er sich in dessen Grotte zurück, wo sie gemeinsam die Upanishaden der heiligen hinduistischen Schriften studierten. Hesse teilte das Einsiedlerleben seines „Gurus“ Gräser - „ich lebe nackt und aufmerksam wie ein Hirsch in meinem Geklüfte“ - und unterhielt enge Beziehungen mit ihm bis mindestens 1919, dem Erscheinungsjahr seines Bildungsroman Demian. Der Held der Erzählung, der als spiritueller Meister sicher durch das Vorbild Gräser inspiriert ist, versucht dem jungen Sinclair-Hesse zu Wachstum zu verhelfen, indem er ihm, unter dem Einfluss von Nietzsche aber auch der Jungschen analytischen Psychologie, das  Bild eines erfüllten Lebens vor Augen stellt.

                  

Aquarell von Hermann Hesse,
1920, im Museo Comunale von Ascona


ADOLF STOCKSMAYER
An ihn schreibt Gusto Gräser am 28. August 1918 aus dem Justizgefängnis in Zürich:

An Adolf Stocksmeier [1] in Ascona.

Du, du, du und Du - Ihr Alle [2] seid gegrüsst! - Wie geht's? Was geht? Wo geht's? - Schreibt, dass ich, wenn ich wieder heraus komm (wann, weiss ich immer noch nicht) mich darnach richten kann.

Ihr habt doch wohl Geld [3] und Nachricht, dass ich hier im Zuchthaus bin, erhalten? - "Ungehorsam" soll das Büblein wieder mal gewesen sein! - Es war aber, Er war nur wieder zu vertrauensseelig und meinte, man hätte doch wohl an zwei oder drei Missgriffen [4] genug und würde sich, würde mich mit weiteren verschonen. Es war zu hoch gemeint - oder halt - ich war ja noch nicht vor dem Richter. Vielleicht werd ich doch nicht nach dem freilich schwungs- und schamlosen Buchstaben, vielleicht werd ich doch vom menschlich fühlenden Urteil gerichtet [5].

Abwarten und Wassersuppe trinken.

Bist du, Stocksmeier, noch zuhause? Was tust du, was willst du tun? Wäre wohl nicht schlecht, wenn du hierher kämst, könntest vielleicht für die Herausgabe der Bilder [6], wofür ich, auch bei Druckerei, schon angeknüpft hab, weiterknüpfen, weiterwirken. Oder liegt dir anderes näher? Ob ich gleich nach Entlassung von hier Aufenthaltsbewilligung erhalt, weiss ich auch noch nicht. Jedenfalls will ich nun das Ansuchen darum gleich stellen. - Denn auf die heilende Zeit will ich mich nun doch nicht mehr verlassen.

Mich verlangt freilich auch sehr zu sehn, was auf unsrem Grund alles grünt und reif und rund wird, wie sich die Kinder zusammenfinden und Ihr Grohsen - - ?

O dass Wir doch reif zum Menschen, dass wir doch Wieder-Kinder würden, die mit Überzeugung in die Triebe treiben, mit Inbrunst in dem All-Tag bleiben.

                    Wohlauf!

Beiliegend 2275 Gramm für Euch gesparte Brotmarken; wär ich draussen geblieben, wären's mehr.

 

*„Wie sich die Gräser-Kinder und die Stocksmayer-Kinder zusammenfanden, dafür haben wir nun ein Dokument aus der Sammlung von Harald Szeemann.

Frau Stocksmayr mit ihren Kindern Hermann und Margarethe
 und der Gräsertochter Heidi, etwa 1918

Foto: Archivio Fondazione Monte Verirà (ASTi), Fondo Harald Szeemann

Frau Stocksmayr liest den Kindern aus einem Märchenbuch vor. Sie sitzt mit ihrem Töchterlein Margarethe in einem mächtigen Baumstamm, der als Sitzbank ausgehöhlt wurde. Auch die Rückenlehne besteht aus einem Baumstamm. Die ganze Machart weist darauf hin, dass die Bank von Karl oder Gusto Gräser gebaut wurde und sich an der Vorderseite der sogenannten „Ruhinne“ befand. Hinter diesem ersten Gräserhaus soll es einen Weiher gegeben haben, der nach starken Regenfällen das Gebäude unter Wasser setzte. Die Umrisse dieses Weihers sind im Hintergrund noch zu erkennen.

Die barfüßige Frau Stocksmayr trägt ein einfaches Reformgewand, die Mädchen halten ihre Haare mit einem Stirnband zurück. Bei der oben sitzenden Gräsertochter handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Gustos zweite Tochter Heidi, die im Januar 1913 geboren wurde, 1918  also fünf Jahre alt war.

Das Foto bestätigt die Aussage von Gräsers Brief: dass die Familie Stocksmayr mit Elisabeth und ihren Kindern zusammengelebt hat. Sie bezog vermutlich Gustos ehemaliges Atelier, in dem er sich auch mit Hermann Hesse traf, die sogenannte „Ruhinne“ . Heidi Gräser-Christeller konnte sich noch im Alter daran erinnern, wie sie, unter dem Tisch sitzend, die Gespräche ihres Vaters mit Hesse angehört hat.

 
Jacob und Carla Wagner-Grosch
In ihrem Tagebuch schreibt die Mutter der Gräserbrüder, bezogen auf den Winter 1906/7:

Nach Ernstens Ausstellung in Locarno machten wir zusammen eine Ausstellung mit an die 40 Bildern. Ernst hatte viel zu tun, bis er den Raum für seine Ausstellung praktisch und gut gestaltet hatte. Durch die Ausstellung hatten wir auch viele Besucher; in einem Monat sind 50 bis 60 Billets à 50 Centimes verkauft worden.

Ich hatte einen schönen Wirkungskreis, den ich nicht nur für die Kinder, sondern auch etwas weiter ausgedehnt habe. Die vielen lieben Menschen, die ich dort kennenlernte, werden mir stets in angenehmer Erinnerung sein.

Die Wintermonate brachte Gust seine Zeit in München zu. Ernst kam Mai 1907 zu seiner dritten Stellung, wurde frei und machte dann einer Schweizer Reise mit selbsterworbenem Geld. Er verkaufte die "Ruine" an Schneiders, an Schriftsteller Hesse das zweite und an Dr. Brupbacher ein drittes Bild. Er malte am Bodensee viel, von denen er auch zwei kleinere Bilder verkaufen konnte. Gustens Bild "Erfüllung" haben wir auch kommen lassen und haben ihm einen Platz in Ernstens Ausstellung gegeben. Der Geist, das Leben haben mir gefallen, was in Askona herrschte solange ich dort war.

Es gab im Winter 1906/7 also zwei Ausstellungen in Locarno: zunächst eine von dem damaligen Kunststudenten Ernst Heinrich Graeser (1884-1944) allein, dann eine zweite zusammen mit seinem älteren Bruder Gusto (1879-1958). Und beide fanden statt im Saale Wagner-Grosch. Das Ehepaar Jacob und seine Frau Clara, geb. Grosch aus Karlsruhe, beide Maler, hatte eine ehemalige Turnhalle zu einem großräumigen Atelier umgebaut, in dem auch Ausstellungen und Veranstaltungen stattfanden. Im Herbst 1909 trug Gusto Gräser dort seine Gedichte vor.

Anzeige in der Tessiner Zeitung vom 20. 11. 1909

Die Familie Wagner-Grosch besass ein Rustico auf dem Monte Bré über Locarno, was ebenso für ihre Liebe zu Landleben und Einfachheit spricht wie insbesondere die Landschaften von Jacob Wagner (1861-1915). Von ihm stammt auch ein Gemälde, das ihn zusammen mit seiner Frau zeigt, in Wanderkleidung und eine Klampfe im Arm. Aus dem Bild spricht der Geist des Wandervogels. Seine Frau Clara (1863-1932), eine hervorragende Porträtistin,  gehörte zudem zu den wenigen Frauen, die sich im 19. Jahrhundert eine künstlerische Ausbildung erkämpften. Auch dass sie Porträts der Familie des lebensreformerischen Großherzogs von Hessen-Darmstadt malte, spricht für ihre Einstellung. Obwohl nähere Zeugnisse fehlen, dürfen wir also annehmen, dass die Beziehung der Gräsers zu den Wagners weniger eine geschäftliche als eine persönliche und freundschaftliche war.

Witwe. Gemälde von Clara Wagner-Grosch, 1913

Karl Vester

Der Deutsche Karl Vester gehörte zu den eigenwilligsten Siedlern des Monte Verità.  Wie die Gräsers lebte er außerhalb des Sanatoriums von Oedenkoven und ernährte sich von den Erträgnissen seines Grundstücks. Er neigte jedoch mehr zu den Theosophen auf dem Berg und scheint zu den Gräserbrüdern freundliche Distanz gehalten zu haben. Ein Eintrag von Vester im Poesie-Album von Gräsers Tochter Heidi zeigt immerhin, dass man trotz gewisser Verschiedenheiten in der Lebens- und Denkweise sich doch gut gesinnt war. Eine Nachbarin der Gräsers, die deutsche Malerin Friederike Krüger de Beauclair, hat ein flammendes Porträt des Feuerkopfes Carlo Vester geschaffen.

Carlo Vester. Gemälde von Friederike  Krüger de Beauclair, 1908

„Un dipinto eccentrico di tendenza espressionista, apertamente mistico, ritrae l’amico Karl Vester (1879-1963), che fu, come De Beauclair, tra i primi naturisti del borgo rimasti ad Ascona fino alle morte. (Veronica Provenzale)

Alle  Bilddokumente,  abgesehen von der Zeitungsanzeige,  stammen aus dem  obengenannten Katalog des  Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona, hg. von Mara Folini, Veronica Provenzale und Michela Zucconi-Poncini, Locarno 2010.


Fussnoten

[1]   Der Maler Adolf Stocksmayer war 1915-17 Mitglied von Oedenkovens Cooperativa Monte Verità. Von ihm stammen Zeichnungen von Elisabeth Gräser und ihrer Kinder. Er beteiligte sich, neben Paul Klee, Jawlensky, Marianne Werefkin und anderen, an der Gemeinschaftsausstellung Asconeser Künstler von 1922. Eine Zeichnung, die Tänzerinnen der Labanschule auf dem Monte Verità darstellend, und ein  (Reform-)Hemd von ihm sind im Monte Verità-Museum von Ascona ausgestellt. Das Original des hier in normalisierter Rechtschreibung abgedruckten Briefes, das einzige Zeugnis seiner Verbindung mit Gusto Gräser, befindet sich ebenfalls in der Casa Anatta. Gräser hatte Stocksmayer offenbar die Verwaltung seines Anwesens - Haus und Garten auf Monte Verità - während seiner Abwesenheit übertragen.

[2]   Gräser denkt hier an die Familie Stocksmayer und an seine (eigene)  Frau und seine (eigenen) Kinder. Er hatte sich zu dieser Zeit bereits von seiner Frau getrennt, die daraufhin mit den Kindern hinunter nach Ascona gezogen war, wohl aber zeitweise, vor allem während der Abwesenheit ihres Mannes, wieder auf dem Berg im einst gemeinsamen Anwesen sich aufhielt. Die Nachricht von der Trennung dieser Lebengefährten könnte für Frau Mia Hesse mit ein Anlaß gewesen sein, sich aus ihrer zerrütteten Ehe nach Ascona zu flüchten in der verzweifelten Hoffnung, hier die leergewordene Stelle an der Seite Gräsers einnehmen zu können. - Nicht mehr als eine Vermutung, die sich jedoch aus dem Zusammensinn der Umstände nahelegt.

[3] Gräser hatte vermutlich während seines Aufenthalts in Deutschland - im besonderen beim Wandervogeltreffen in Tübingen - etwas Geld sammeln können.

[4]  Gräser war bereits im November 16 in Zürich und einige Wochen später wiederum in Bern verhaftet worden, aber mit kurzer Haft und Abschiebung nach Ascona davongekommen. Ein weitere Inhaftnahme 1917 in Locarno - wegen seiner als anstößig geltenden Tracht - war ebenfalls nur von kurzer Dauer geblieben.

[5]   Damit sollte er sich täuschen: Das Gericht verfügte seine Ausweisung aus der Schweiz zum Jahresende 1918. Unter diesem Zeitdiktat war es Gräser nicht mehr möglich, sein im Dezember abgeschlossenes Manuskript des TAO-Buches Hesse persönlich vorzulegen. Nach Überschreiten der Grenze schickt er es Anfang Januar von Schaffhausen aus nach Bern.

[6]   Gemeint ist wohl der Zyklus "Zeichen des Kommenden", 7 Zeichnungen mit erläuternden Textblättern, die dann erst in den Zwanzigerjahren gedruckt wurden.
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