Gusto Gräser in Schwabing

In der Mitte mit Bart: Michael Georg Conrad, Romanautor und Herausgeber der ‚Gesellschaft‘.  Links außen: Otto Julius Bierbaum.
Matriarchale Revolution
München wurde unter Bismarck zum Zentrum einer geistigen Opposition, Schwabing zu einer symbolischen Stätte. Wer heute "Schwabing" sagt, assoziiert geduldete Subkultur: Fasching, Peter Paul Althaus, Café Stephanie, vielleicht noch die Elf Scharfrichter. In Wirklichkeit war Schwabing der Mittelpunkt einer matriarchalischen Revolution gegen den preußisch-maskulinen Chauvinismus und eines großen Kampfes gegen alle Väter dieser Welt. ... In Schwabing wurden um die Jahrhundertwende Minen gelegt, die heute noch hochgehen; überall auf der Welt.
Peter Glotz: Die Innenausstattung der Macht. München 1979, S. 78.
Spätestens im Herbst 1900 kam Gusto Gräser nach München-Schwabing. Vom 15. August bis 23. September wohnte er in der Theresienstrasse 60/II bei Fuchs. Er nannte sich „Gusto Gras“. Als Berufsbezeichnung gab er an: „Diener“. Er befreundete sich mit dem einflussreichen Schriftsteller Michael Georg Conrad, dem Herausgeber der ‚Gesellschaft‘, der sich leidenschaftlich für Gräsers ehemaligen Meister Karl Wilhelm Diefenbach eingesetzt und ihn in einem Roman verewigt hatte. Der kämpferische Conrad war der Kopf einer liberalen, antipreußischen und antiklerikalen Revolte, Vorbild für die intellektuelle Jugend, prägend für die Atmosphäre des Künstlerorts Schwabing.
Conrad, früher Nietzscheaner und frankophil, Abgeordneter des Reichstags, sammelte und förderte junge dichterische Talente, darunter den noch unbekannten Thomas Mann. Ein Dichterkreis unter seiner Ägide, „Die Seelenvagabunden“ genannt, mit Hans Brandenburg, Waldemar Bonsels und anderen, nahm Gusto Gräser freundschaftlich auf. In seiner Spur haben die sog. Seelenvagabunden „Eros und die Evangelien“, Naturliebe und Geistfrömmigkeit, wandernd und dichtend vereinigt. Bonsels‘ ‚Biene Maja‘ wurde ein Welterfolg; Hans Brandenburg wurde der Propagandist des Ausdruckstanzes von Gräser, Laban und Wigman.
Von diesen Schwabinger Literaten um die progressiven Zeitschriften ‚Jugend‘, Simplizissimus‘, ‚März‘ und ‚Gesellschaft‘, wurde Gusto enthusiastisch begrüsst: „Er wird zeigen, daß das Leben so göttlich wie unfaßbar sei. Ihm wird der Mensch gelten, welcher der Natur nicht entfremdet ist. Wohl wird er ein Prophet sein, wohl wird er die Stimme eines Patriarchen haben. Aber mehr: ihm gebührt der Ruhm des Dichters“ (Wilhelm Walther Krug in ‚Die Jugend’, 1904, Nr. 2, S.23).

Das Künsterlokal ‚Simpl‘ mit der legendären Wirtin Kathi Kobus
Gräser trat auch in dem Künstlerlokal ‚Simpl‘ auf, rezitierte dort seine Gedichte, neben Brettl-Künstlern wie Emmy Hennings, Ringelnatz, Erich Mühsam. Im ‚Simpl‘ und im ‚Café Stefanie‘ trafen sich die Literaten, die seit 1905 aus Ascona kamen und ab 1915 wieder nach Ascona gingen. Ihr publizistisches Organ war die kurzlebige Zeitschrift ‚Die Revolution‘. Nach Ausbruch des Weltkriegs verzog ein Teil der Mitarbeiter, darunter Hugo Ball, Emmy Hennings und Klabund, in die Schweiz und begründete in Zürich, den ‚Simpl‘ auf radikalere Weise fortführend, das Cabaret Voltaire und damit den Dadaismus.
      
Leonhard Frank, Erich Mühsam und Richard Seewald waren in Ascona gewesen, Karl Otten und Johannes R. Becher gehörten zum Schülerkreis von Otto Gross, Hugo Ball, Emmy Hennings und Klabund zogen während des Weltkriegs nach Ascona, Max Brod schrieb einen Roman über den Monte Verità. Aus dieser Gruppe der Schwabing-Asconesen, die sich durchweg dem Kriegsdienst entzogen, rekrutierte sich sowohl der Widerstand gegen das Regime von Kaiser Wilhelm wie später die Revolution von 1918/19. Ihre Gesichter, auf fahndungsähnlichen Plakaten wie Verbrecher abgebildet, dienten den Nazis als Feindbild für ihre Propaganda. Ihr Aufstand wurde 1919 von der Reaktion blutig niedergeschlagen, Hunderte erschossen, Gustav Landauer bestialisch ermordet, Mühsam inhaftiert, Gräser und sein Freund Silvio Gesell nach Verhaftungen aus Bayern ebenso ausgewiesen wie Rainer Maria Rilke, der sich daraufhin nach Ascona begab. Ernst Toller und andere Revolutionäre folgten ihm nach.

Ascona war das Schwabing von Schwabing“, schrieb der amerikanische Kulturhistoriker Martin Green. Passender wäre es, zu sagen: „Schwabing war eine literarische und politische Filiale von Ascona-Monte Verità“. Das vermittelnde Glied zwischen den beiden Zentren war in erster Linie Gusto Gräser. Sein „Feuertanz“ von 1908 auf einer Schwabinger Bühne gehört ebenso zur Geschichte des Orts wie sein Eintreten für Versöhnung während der Revolution von 1919.

Über seine Rede vom 1. April 1919 erzählt ein Chronist: „Gräser predigt vom Geist der Gewaltlosigkeit. … Die Menge höhnt und lacht und tobt. „Wir sind keine Menschen mehr!“ ruft Gräser. „Nein, Viecher!“ brüllt Graf. Ein Spartakist erobert die Bühne …“ (Volker Weidermann: Träumer. Köln 2017, S.186).