Alles über Gusto Gräser

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  Gusto Gräser bei Karl-Wilhelm Diefenbach

Ankunft und Abschied

So begann es: An Ostern 1898 ist Gusto Gräser bei Diefenbach zu Gast. Noch trägt er „Zivilkleidung“, noch die Schaftstiefel des Siebenbürgers. Zwar mit Künstlermähne aber doch kurzgeschoren und bartlos. Er ist ein Neuankömmling wie der in der Mitte vorn gelagerte, später als Tierschützer bekannt gewordene Magnus Schwantje. Beide werden bleiben – für einige Zeit. Auch die Schwestern Wilhelmine und Marie Vogler, die später beide zu Ehefrauen Diefenbachs werden sollten, sind neu in diesem Kreis, der sich an diesem Tag beträchtlich und folgenschwer erweitert. Sechs andere junge Menschen, eher Ausflügler wie es scheint, sind entweder als Besucher oder zur Probe da. Wohl zur Feier dieses Ereignisses, als eine Art Besuchs- und Aufnahmefeier am christlichen Osterfest, wurde dieses Foto auf der Wiese oberhalb des Himmelhofs gemacht. Von dort hat man einen weiten Blick bis in das tiefer gelegene Wien in der Ferne. Der kleinen Gemeinschaft von Diefenbach, so scheint es, stehen größere Zeiten bevor.

  

Diefenbach mit seinen Kindern in der Mitte, ganz rechts Friedrich von Spaun, ganz links Gusto Gräser

Einige Tage oder Wochen später sehen wir Gusto Gräser in einer kleineren Gruppierung rechts vorne am Boden sitzen. Ein Bärtchen sprosst schon, die neue Aposteltracht, die er seiner Mutter in Auftrag gegeben hat, ist noch nicht angekommen.

  

Dann endlich, angemessen eingekleidet, in einem Gewand nach eigenem Entwurf, kann er sich als Vollmitglied der Gemeinschaft fühlen und seinen Mitbrüdern die Hand reichen.

 

Die Gemeinschaft hat sich inzwischen beträchtlich vermehrt. Sie zählt jetzt, mit den Kindern von Diefenbach, mindestens neunzehn Mitglieder, darunter vier Frauen. Die Vorderen halten Girlanden aus Laub- und Blütenzweigen in Händen. Gusto – nur zufällig? – etwas abgetrennt am Rande rechts. Sein Blick, eher zornig als freundlich, ist einer fernen Zukunft zugewandt. Er trägt nicht die feierliche Gewandung der andern. Ein Außenseiter auch hier?


Abendmusik im Himmelhof, Ende August 1898  

Zunächst scheint alles in bester Ornung zu sein. Gusto hat offenbar eine doppelte Ausstattung bekommen: einen kurzärmeligen und kurzrockigen Hänger, um die Taille geschnürt, über enganliegenden Beinkleidern, fast schon Strumpfhosen – eine Gewandung, die er beibehalten wird. Zum andern ein bis zum Boden reichendes, langärmeliges, hochgeschlossenes Gewand, das an die Kutten der Mönche und mehr noch an die Talare von Priestern erinnert. Gräser hat diese Bekleidung später nicht übernommen. Er erkannte offenbar den Widerspruch zwischen Diefenbachs Feier des nackten Körpers und dieser mönchischen Verhüllung. Nicht nur gegen die weihevolle Kleidung, auch gegen den patriarchal-autokratischen Stil und Anspruch seines Meisters regte sich in ihm schon früh der Widerstand. Er will das von Diefenbach geforderte Gottmenschentum nicht durch Rückgriff auf veraltete Traditionen bewähren sondern durch die Tat. Tat, nicht im Gewand sondern im Geiste Jesu. Noch aber zeigt sich die Gemeinschaft nach außen in harmonischer Geschlossenheit. 

    

Dann aber, nach längeren Auseinandersetzungen und schweren inneren Kämpfen, schreibt Gräser am 5. September 1898 an seinen Meister den folgenden Brief (Auszüge):


Die Ursache, weshalb ich weggehen muss! (d. h. weil ich nicht gegen Gott handeln will) hier zu documentieren, schreibe ich diese Worte nieder. – Den, welchen ich als Meister anerkannt hatte, ist mir unmöglich geworden, auch heute anzuerkennen! Denn es war mir die ganze Zeit über, dass ich da bin, nicht möglich, mich ihm gegenüber auch nur einmal gründlich auszusprechen. Wohl war ich ein Schwächling, dass ich mir nicht verschaffte, was ich als rechtmässig einem Meister, einem Vater gegenüber erkannte.


Die Thatsache hatte zur Folge, dass ich schweigen musste, lügen musste durch die Härte und Steifheit der Worte und durch die ermüdende Länge und Breite der Reden, welche ununterbrochen mich nicht zu Worte kommen liessen. Wo es mich gedrängt hätte zu sprechen, wurde ich verschlossen in Geist und Seele, in Arbeit und Verkehr. Ich erkannte die Schwäche des Geistes, welcher mich mit solcher Kraft angezogen hatte, in der Wirkung, welche er verursachte auf einen rein, wenn auch wenig bewusst empfindenden Geist, der mir ward durch Gott, meinen ewigen Meister, den ich immer als letzten befrage. Der mir Offenheit gebietet, gebietet, dass ich nur dort, wo ich offen sein kann, sein darf. Ich gehöre dahin, wo die Wahrheit waltet. Setzt sich ihr jemand entgegen, darf ich nicht mit ihm sein, ihm damit zu beweisen, dass ich die Lüge anerkenne als das Richtige.

Was war geschehen? Das hier folgende Bild deutet die Spaltung in der Gemeinschaft an: Drei Gestalten haben sich scheinbar an die Spitze der Gruppe gesetzt, die leitende Deichsel in Händen haltend. In Wirklichkeit haben sie sich innerlich schon abgesetzt. Der sich am offensten und aufrechtesten zeigt, Gusto, blickt in eine größere Weite als die Mehrheit um Diefenbach. Die beiden anderen, die sich um ihn scharen, sind zwei Neuankömmlinge: Anton Losert und Wilhelm Walther, Jünger von Johannes Guttzeit. Dieser ehemalige Offizier war zum Wanderprediger geworden, der für die Natur und gegen die Kirche sprach, namentlich aber gegen den Gesetzes- und Rachegott des Alten Testaments. Er war dafür ins Gefängnis gegangen. Sein 1885 gegründeter „Bruderbund“ praktizierte eine aufgeklärtes, reformiertes Christentum im Geiste des Freidenkers Jesus von Nazareth. Seine „Bundesbrüder“ lehnten Geld und Besitz ab und wanderten, wie die ersten Apostel, barfuß und langhaarig durch die Lande. Auf Gusto Gräser wirkte diese Radikalität der Tat weitaus überzeugender als die feierlich-priesterlich verkleideten Halbherzigkeiten Diefenbachs. Der Bruch mit seinem Meister wurde unausweichlich.


Das folgende Foto zeigt ein anderes Bild. Die „Jünger“, zwar mit Blumen bekränzt aber tieftraurig vor sich hinstarrend. Was war geschehen?



Aufnahme vom 5. Oktober 1898

Von den zwanzig Personen im oberen Bild sind noch sechzehn übriggeblieben. Sowohl Gusto mit den beiden Guttzeit-Jüngern wie Friedrich von Spaun und seine Gefährtin haben den Meister verlassen oder wurden – nach seiner  Version – von ihm ausgestoßen. Die Niedergeschlagenheit ist groß. Allen steht die Ahnung ins Gesicht geschrieben, dass das Ende der Gemeinschaft nahe sei. Und so geschieht es. Wenige Monate nach dieser Spaltung, am 7. Januar 1899, muss Diefenbach den Himmelhof verlassen. Er ist bankrott, wird entmündigt. Mit dem Rest seiner Getreuen flüchtet sich Diefenbach nach Triest, später nach Capri.