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      „Das geheime Deutschland der Poesie“

Durchbruch der Gustogeister in der Jugendbewegung

 

Über Gusto Gräsers Wirkung auf die Jugendbewegung war bislang wenig bekannt. In den Publikationen zum Wandervogel taucht sein Name nicht auf. Ein Durchblättern der Jahrgänge 1916 bis 1920 der Zeitschrift ‚Freideutsche Jugend’ bringt nun ein überraschendes Ergebnis: Zwar nicht Gräser selbst, wohl aber seine Schüler und Freunde Muck-Lamberty und Georg Stammler tauchen mit dem Ende des Krieges aus dem Hintergrund auf und werden zu hoch angesehenen und von manchen Einflussreichen mit Begeisterung begrüßten Wortführern. Der Zug der Neuen Schar um Muck-Lamberty und Gräser wird von der anspruchsvollsten Monatsschrift der Jugendbewegung erst publizistisch vorbereitet, dann ihr Zustande-kommen gefeiert. Hier einige Zeugnisse.

 

Auszüge aus den Schriften Georg Stammlers in

‚Freideutsche Jugend’, April/Mai 1918, S.129-139:

 

 

Marie Buchhold über Stammlers ‚Worte an eine Schar’

in ‚Freideutsche Jugend’, April/Mai 1918, S.188f.:

 

 

Hermann Hesse bespricht die ‚Worte an eine Schar’ in ‚Vivos Voco’, April/Mai 1920, S.524. Die ‚Freideutsche Jugend’ druckt im Aprilheft von 1919, S.147-153, anonym Auszüge aus der Flugschrift ‚Zarathustras Wiederkehr’ ab, in der Hesse in poetischer Verkleidung Gräsers Wiederkehr nach Deutschland ankündigt.

 

Alfred Kurella an Muck-Lamberty in ‚Freideutsche Jugend’, 1918, S. 338f.:

 

Friedrich Muck-Lamberty in ‚Freideutsche Jugend’, Januar 1919, S.41-43:

 

 

Friedrich Muck-Lamberty in ‚Freideutsche Jugend’, Febr. 1919, S.82-85:

 

 

Muck schmückt seine Flugblätter mit dem Fünfstern, dem Zeichen Gusto Gräsers:

 

Seine Schrift wird auch abgedruckt in ‚Der Aufgang’, Jan./Febr. 1920

mit einem Gedicht von Gusto Gräser (Auszug):

 

 

Muck entwirft in ‚Wanderscharen’, Jan./März 1919, S. 15f., ein ökologisches Programm:

 

 

Feuerspruch für Muck von Carl Maria Weber in ‚Freideutsche Jugend’, Nov.1920, S. 141-143

 

 

Eugen Diederichs in ‚Freideutsche Jugend’, November 1920, S. 369f.:

 

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Diederichs, der Begründer des Serakreises, musste von den Volkstänzen der Schar begeistert sein: "Der Serakreis in Jena nahm sie zuerst auf, übermittelte sie später dem Wandervogel, und mancher Thüringer hat zugeschaut, wenn  sie diese tanzten. Das Neue ist nun, jetzt tanzt er mit, und zwar mit Begeisterung, und geht in die Kirche zu Mucks Vorträgen." (S.370)

Anzufügen wäre: Mancher von ihnen las auch die Gedichte von Gusto Gräser, die in Zeitschriften und Büchern der Jugendbewegung abgedruckt wurden, las seine Flug-schriften und Spruchkarten, die bei den Wandervögeln umgingen. Er selbst trug an den Lagerfeuern der Schar seine Gedichte vor, sie flatterten dem Zug auf Flugblättern voran. „Heute Abend kommt Gusto Gräser und wird dann bleiben …. Dann soll hier ein Strahlenbündel sich sammeln und dann und wann hineinströmen ins Volk“, schreibt Muck am 4.Juli 1921 aus Naumburg an seine Hanne.

Zur Neuen Schar gibt es unzählige Äußerungen vonseiten der Jugendbewegung und von außerhalb: von Adam Ritzhaupt, Wilhelm Stählin, Werner Helwig, Walter Hammer, Gertrud Prellwitz, Lisa Tetzner, Hans Alfken, Emil Fuchs, Sebastian Haffner, Harry Pross und vielen anderen. Nachdem Muck mit zwei Frauen Kinder gezeugt hatte, wurde er von der Jugendbewegung verstoßen, seine Schriften aus ihrem Archiv entfernt, sein Andenken tabuisiert. Erst Werner Helwig und dann vor allem Rüdiger Safranski haben dem Experiment von Muck die gebührende Anerkennung wiedergegeben. Nicht zu reden von der dichterischen Verarbeitung und legendären Überhöhung, die Hermann Hesse in seiner Erzählung ‚Die Morgenlandfahrt’ geleistet hat. Damit ist der dionysische Wander-zug dieses Gräser-Schülers in die Weltliteratur eingegangen.

Da Georg Stammler später als völkischer Wanderredner bekannt wurde, muss darauf hingewiesen werden, dass in seinen ‚Worten an eine Schar’ von 1913 und 1919 Begriffe wie „Volk“, „völkisch“ oder „deutsch“ nicht vorkommen. Ihr zentrales Thema ist Selbstwerdung. Er möchte "die Kraft in sich haben, in die Wüste zu gehen und in härenem Gewand über Steine der Stimme seines Gottes entgegenzulaufen" (S.36). Die Anspielung ist nicht zu überhören: Diese Schrift ist nicht völkisch, sie ist gräserisch. Nach Stammlers Wendung zum NS hat sich Gräser von ihm getrennt.

Muck-Lamberty dachte zwar in volkhaften Bezügen aber nicht in nationalistischen. Wie hätte er sonst 1923 zur Bildung einer Wiederaufbauarmee aufrufen können, die sich bei dem „Erbfeind“ Frankreich in freiwillige Gefangenschaft begeben sollte? Er hat damit ein Gegenprogramm zu Hitler und allen Nationalisten aufgerichtet.

Im Zug der Neuen Schar erlebte Werner Helwig einen „Kreuzzug der Fröhlichkeit“, Lisa Tetzner einen „Kreuzzug der Liebe“. Rüdiger Safranski sieht darin „ein reales Ereignis dionysischer Verzauberung“, Zeichen für „ein geheimes Deutschland der Poesie“.

Sie tanzten nur einen Sommer. Die Masse der Beharrenden holte zum Gegenschlag aus. Schon im Mai 1920 wurde der Gräserfreund Hans Paasche ermordet. Walter Hammer schrieb ihm im Juliheft der FJ den Nachruf. Magnus Schwantje, einst Mitschüler Gräsers bei Diefenbach, ehrte den Toten durch eine Paasche-Biografie. Gerhart Hauptmann adelte ihn zum Märtyrer in seinem Epos ‚Till Eulenspiegel’. Hammer schreibt:

„Wie ein Verhängnis schwebt es über dem deutschen Volke, daß ihm gerade in dieser Notzeit jene aufrechten, charakterfesten Männer geraubt werden, denen feuriger Bekennermut die verehrungs-würdige Größe eines Helden verleiht. Hans Paasche, der Prophet, der Märtyrer und Held, war das böse Gewissen der deutschen Gegenwart.“ (FJ, Juli 1920, S.250)

Paasche war es gewesen, der das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner initiiert hatte. Er konnte mit seinem Wollen gegen die Masse der Traditionalisten nicht durchdringen. Schon die Marburger Tagung von 1914 machte die bescheidenen Ansätze zu einer Eindämmung des deutschen Nationalismus und Militarismus zunichte. Auf diese Niederlage folgte nach dem fröhlichen Tänzersommer von 1920 der zweite Absturz. Muck wurde von der Leuchtenburg vertrieben, aus Thüringen ausgewiesen, von der Jugendbewegung in Acht und Bann getan. Gräser wurde im Herbst 1921 aus dem Haus der Werkschar heraus verhaftet, in ein Internierungslager für Ausländer gesteckt und aus Deutschland abgeschoben.

Mit dem Durchbruch der Gustogeister am Ende des Krieges waren auch Universalismus und Spiritualität in die ‚Freideutsche Jugend’ eingezogen. Der Russe Tolstoi, der Amerikaner Walt Whitman, der Chinese Tschuangtse, der Inder Tagore, Buddha, die Upanishaden erhielten Sitz und Stimme. Auch Martin Buber und Rudolf Steiner. Hölderlin, Nietzsche, Eckhart, Bhagavad Gita. Nie war die Jugendbewegung offener,  weiter, tiefgründiger. Für einen kurzen Augenblick schien sie aufnehmen und weitertragen zu wollen, was auf dem Monte Verità begonnen hatte.

Peter Morris-Keitel hat die Linie nachgezogen, die den Aufbruch vom Oktober 1900 mit dem vom Oktober 1913 verbindet:

„Die Versammlung [auf dem Hohen Meißner] ist sowohl von ihrem Inhalt als auch vom Selbstverständnis der Teilnehmer her ohne Zweifel zum Umkreis jener Siedlungs- und Koloniegründungen zu rechnen, die kurz zuvor auf dem Monte Verità, in der Neuen Gemein-schaft, in der Obstbaukolonie Eden oder in der Stadtrandsiedlung des Friedrichshagener Kreises entstanden, und läßt sich daher - wie diese – als „gelebte Utopie“ begreifen.“  (P.M.-K. 1994, S. 94)

Die gelebte Utopie hatte 1920 einen fröhlichen Sommer. Sie wurde vertrieben, kam wieder wie der Frühling, wurde wieder und wieder vertrieben. Sie überlebte, durch den Widerstand gereinigt und gestärkt, in der Person und im Werk Gusto Gräsers.

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