‚Die Erde.‘ Neue Dichtungen von Waldemar Bonsels, Hans Brandenburg, Bernd Isemann, Will Vesper.

Ein Jugendfreund in Schwabing

Im Nachlass Gusto Gräsers fand sich ein emphatisches Freundschaftsgedicht, das zwar nicht ihm selbst gewidmet ist, aber ihm doch als Zeichen einer engen Verbundenheit von einem jungen Dichterkollegen übergeben wurde: Hans Brandenburg.

Brandenburg, geboren 1885 in Barmen, siedelte mit 17 Jahren nach München über. Dort wurde er von dem einflussreichen Kritiker Michael Georg Conrad gefördert. Er befreundete sich mit den Dichterkollegen Bernd Isemann, Will Vesper, Waldemar Bonsels, René Schickele und auch mit Gusto Gräser. Zusammen mit anderen bildeten sie einen Kreis von Poeten, die heute als „Seelenvagabunden“ bezeichnet werden. Sie schrieben Gedichte und Erzählungen, in denen „ein vages, verschwommenes, leicht erotisiertes, aber liebenswürdiges Lebenspathos verkündet“ wurde. „Im Mittelpunkt steht immer wieder der Seelenvagabund, Daseinspilger oder Wanderapostel des Lebens, der aus Protest gegen die ‚enge Welt‘  der bürgerlichen Gesellschaft, den Städten und Industriebezirken den Rücken kehrt und in die Weite der Natur hinauswandert. … Vor allem die Technik erscheint ihnen als ein gefährliches Danaergeschenk, das zur fortschreitenden Verkrüppelung des Lebens beitrage. Denn durch sie werde man in einen Arbeitsrhythmus gezwungen, der das Leben nicht  erleichtere, sondern ins Sklavenhafte depraviere. Ihr Haupthaß gilt deshalb der modernen Geschäftigkeit, dem rastlosen Erfolgsdenken und der Sucht, sich ständig neue Ziele zu setzen, um nicht die gähnende Langeweile dieser Entleerung zu spüren“ (Hermand 132).

Das ist eine recht genaue Beschreibung des jungen Gusto Gräser, der als das lebende Urbild dieses literarisch gewordenen Menschentyps zu gelten hat. In ihm verbinden sich „Eros und die Evangelien“, wie ein Titel von Waldemar Bonsels lautete. Das harte Leben des Christentum und Heidentum verbindenden Wanderlehrers Gräser wird von seinen Bewunderern in romantische Unterhaltungsliteratur umgesetzt. Für die höhere Klasse dieser neu entstehenden Dichtungsgattung nennt Hermand mit Recht Peter Camenzind und Knulp von Hermann Hesse und Emanuel Quint von Gerhart Hauptmann. Erzählungen, die mit Sicherheit auf das Urbild Gräser zurückgehen.

Der Kreis um Bonsels und Brandenburg scheint ein erster Echoraum für den Auftritt des ungebärdigen Siebenbürgers gewesen zu sein. Wie es in diesem Kreise zuging, davon vermittelt der Journalist René Prévot, einer der Teilnehmer, ein eindrückliches Bild:

Wir halfen dem sympathischen Sonderling mit dem wohlklingenden tiefen Bariton seine Propaganda-Vorträge füllen, die er bald hier, bald dort hielt, um die Masse der Stadtmenschen durch sein Beispiel zum Naturleben zu bekehren.

Er selbst lebte - aus Propagandagründen! - nicht ganz das Leben, das er predigte. Allnächtlich saß er im Tabaksqualm und der drangvollen Enge des "Simpl" und trug öfter ein rotes, grünes oder gelbes Gedicht vor. Die Schwabingerinnen, vor allem aber die Kommerzienratstöchter mit den Salome-Allüren, die damals in Mode kamen, fraßen ihn mit den Augen: "Jochanaan, ich bin verliebt in deinen Bart!" Es war der schönste Bart im damals noch bärtigen Schwabing.

Wie, wofür und wovon er lebte, danach fragte niemand. Man "lebte mit"! Unser Freund Jochanaan war abwechselnd Schlafgast bei jedem von uns“ (Prévot: Merkur).

So wird Gräser auch öfters Schlafgast bei Hans Brandenburg gewesen sein, der direkt gegenüber dem ‚Simpl‘ seine Studentenbude hatte. Über seine Auftritte im dem bekannten Künstlerlokal von Kathi Kobus sind wir auch durch andre Zeugen unterrichtet: Emil Szittya, Annie Francé-Harrar und den Kronstädter Buchdrucker Fritz Gött.

„Er brachte es fertig, selbst in der Schwabinger Welt aufzufallen, in der nichts und niemand auffiel“, schreibt Francé-Harrar. Der „Naturmensch“ Gräser stand repräsentativ für bestimmte Arten von Reformern, Nietzscheanern und Lebensreformern vor allem. „Für sie alle war er ein prachtvolles, sozusagen unvergeßliches Aushängeschild. Man konnte seine Bekanntschaft leicht machen, denn zu Beginn dieses Jahrhunderts pflegte ‚gusto gras‘ sämtliche Lokale von der Art des ’Simplizissimus‘ in München abzuklappern … Zwischen 10 und 2 Uhr nachts erschien er in Lebensgröße, und die war recht ansehnlich, sicher über 1,85 m. Sommers und winters ging er barfuß in offenen Sandalen … Seine Bekleidung bestand ein für allemal in nichts anderem als in einer Art dunkelbrauner Lodenkutte, die ihm aber nur bis zur Wadenmitte reichte“ (Harrar 82). Harrar summiert: „Er war so etwas wie der unbewußte Trompeter für die Neugestaltung eines Weltbildes, das damals noch unreif und ungestalt war“ (Harrar 85).

So erlebt ihn auch, im Jahr 1908, sein Landsmann Fritz Gött:

„Wir hatten gerade einen Klavierspieler, dessen Künstlermähne tief in sein Gesicht fiel, so daß er seine schwarzen Locken immer wieder mit energischem Aufwerfen des Kopfes nach rückwärts schleuderte, zugehört, wie er das Instrument in rasendem Furioso bearbeitete, da trat ein neuer Gast ins Lokal, der aussah, als sei er einem Bild aus einer illustrierten Bibel entstiegen. Trotz des strengen Winters, der draußen herrschte, kam er barhäuptig mit langem, blondem Haar und Vollbart, mit Sandalen an den nackten Beinen, einem togaartigen Überwurf aus grobem Stoff, den er genial um die Schultern geworfen hatte, herein und lenkte sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er war ein schöner, stattlicher, jüngerer Mann. Ich erkannte ihn gleich. Es war ein Landsmann, der Mediascher Gusto Gräser, Maler und Naturheilapostel. Ich hatte ihn im Sommer vorher in Kronstadt in seiner testamentarischen Aufmachung gesehen“ (Gött: Neue Kronstädter Zeitung, 1. Juli 1989).

„Um 1905/6 dürfte Gustav Gräser nach München gekommen sein“ schreibt Karl Spengler. (In Wirklichkeit kam er schon viel früher, spätestens im Herbst 1900.) „Wie alles an ihm den andern ein Miß- oder Unverstandnis war, so auch sein Name. Er gab sich u. a. auch als Sprachforscher aus, und trotz der besseren Erkenntnisse, die ihm aus der Sprachforschung hätten erwachsen müssen, bestand er hartnäckig darauf, sich Gras“ zu nennen statt Gräser. Er sei kein Plural, sondern eine Einzahl, eine Einmaligkeit, meinte er, und verfocht gegen alle Behördenschaft seine Umbenennung mit kohlhäsischer Unbedingtheit. Aus seinem Vornamen Gustav wurde ein Gusto, Gusto Gras also fürderhin bis an seinen Tod mit neunundsiebzig Jahren. … Nie sah man ihn anders als in Römersandalen mit bloßen Füßen einhergehen, einen Stab in der Rechten, eine Jagdtasche umgehängt und dazu ein Marktnetz mit Kohlrabi, gelben Rüben, Gurken, Blaukraut und Weißkraut drin, außerdem aber auch ein länglich rundes Blechfutteral, in dem er seine Poesien mit sich herumtrug. Mitteilsam, wie er war, unterbreitete er gerne jedermann seine Dichtungen“ (Spengler 262f.).

„An den Abenden suchte er, wenn er den Lesesaal der Staatsbibliothek oder den Simpl verließ, die unterhaltliche Zweisamkeit beim Heimweg. Doch seine üppig wuchernden Theorien endeten stets mit der Frage: ‚Sie haben doch sicher ein Sofa für diese Nacht bei sich zu Hause?‘ Denn, mit Respekt zu sagen, Gräser war zeitlebens ein Nassauer, der außer dem meist freundlich überlassenen Sofa auch den Morgenkaffee als pflichtschuldige Leistung seines Gastgebers erwartete“ (Spengler 264).

Gräser, damals selbst noch in Teilen ein Bohemien, praktizierte das épater le bourgeois:

Ja, Ihr Spiesser, zweifelsohne:

Ich bin sowas wie ne Drohne.

Ich bethon es mit Behagen,

aber, muss ich Euch mal fragen:

Könntet Ihr denn Honigwaben

ohne solche Drohnen haben?

 

Gräser trat nicht als Bettler auf sondern als einer, der etwas zu bieten hat, der mehr bringt als ihm gegeben werden kann. In stolzer Bescheidenheit lebte er im Gefühl, dass sein bloßes Dasein Gegenleistung genug sei für Obdach und Brot.

Spengler berichtet dann ausführlich über Gräsers Tanzvorführung im Herbst 1908:

„Er vergab eigenhändig an Bekannte ein aufrüttelndes Formular, Quadratformat natürlich, auf dem zu lesen stand:

„Wohlan! Nun muß ich offen frei’n

um ein starkes Ringen!

Frisch-fromm fröhliches Gedeihn

soll uns, komm! gelingen!

Komm! Trittit, trittit, tritt mit!

Bumm! Trarah! Willkommen!

Sattmatt ausgenommen!

 

Und an den Litfaßsäulen erschien eines Tages für die weitere Öffentlichkeit ein quadratisches Plakat mit einer Art Sonne im Strahlenkranz und der Ankündigung: ‚Die Entstehung des Tanzes. Ein Vortrag von Gusto Gras und anderen Werdefrohen und – bist Du, willst Du – auch von Dir!‘“ (Spengler 223).

Die nun folgende Schilderung von Spengler macht klar, dass es sich um einen philosophischen Tanz handelte, der den Sprung der Menschheit aus tierischer Dumpfheit  zum Bewusstsein seiner selbst verbildlichen sollte. Als der Mensch mit der Entdeckung des Feuers sein eigenes Schattenbild an der Höhlenwand erkennt, entdeckt er auch sich selbst. “Dann stieg der Vortragende in die Tiefe der Menschheitsgeschichte, die Zeit der ‚Uru‘. Er teilte nämlich die Menschheitsgeschichte, wie er eingangs dozierte, in drei Abschnitte ein: die erwähnte ‚Uru‘, den Zustand der unangetasteten Schöpfungsnaivität des Menschen bis zur Entwicklung des Feuers. Dann die Zeit der ‚Zwings‘ mit ihren vielerlei Zwingherrschaften, von der Leibeigenschaft und Sklaverei angefangen bis zum Schul-, Steuer- und Militärzwang, und schließlich als dritte Periode die der Zukunft“, in der alle diese Zwingherrschaften überwunden werden sollten (Spengler 264).

Gräser hat später diesen Dreischritt von der Unschuld des „Urnu“ über die Zerrissenheit des „Zwings“ in die Harmonie des „Im-Nu-Ruhns“ in drei entsprechenden Zeichen dargestellt. O-Z-X.

               

 

 Das Z oder S steht für Zerrissenheit, Zweifel und Zwang, für den gebrochenen Zustand, in den das Bewusstsein den Menschen bringt. Der Fünfstern oder das Pentagramm, Gräsers Hauszeichen, steht für die wiedergewonnene Einheit in einem Überbewusstsein, das die Allverbundenheit des Anfangs auf einer neuen Stufe erreicht. Noch später verbindet er den Fünfstern mit dem Urkreis des Anfangs: Zeichen der Alleinheit, in welcher der Stern den männlich aktiven Geistpol, der Kreis den weiblichen Muttergeist symbolisiert: Himmel und Erde  vereint.

           

Wie die Rückschau von Francé-Harrar belegt, waren die Zuschauer durchaus ergriffen von seinem Tanz: „Er war diesseitigstes Diesseits. Er war ein Sturm leiblichen Glückes, ein Irdischer unter Irdischen zu sein. Nein, er war das irdische Sein selbst!“ (Harrar 85). Wie mir Gräser erzählte, habe ein bekannter Tanzkritiker seine Vorführung sehr gelobt. Dieser Tanzexperte kann niemand anders gewesen sein als sein Freund Hans Brandenburg.

Diese Erinnerungen von Zeitgenossen sind aus dem Abstand von Jahrzehnten geschrieben, zurechtgemacht für den Geschmack eines unterhaltungsbedürftigen Publikums. Von der damaligen Begeisterung der jungen Intellektuellen um die Zeitschriften ‚Die Gesellschaft‘ und ‚Jugend‘ zeugt der Aufsatz des Jurastudenten Wilhelm Walther Krug, der 1904 in der ‚Jugend‘ erschien.  Er ist ‚Dem Einen‘ gewidmet, dessen Namen freilich nicht genannt wird. Für die Eingeweihten war der Gemeinte aber unschwer zu erkennen. Der Verfasser setzt in die Zukunft, was für ihn schon Gegenwart war. Krug schreibt einen Hymnus (Text gekürzt und graphisch umgestaltet):

 

Dem Einen.

Von Zeit zu Zeit überkommt die Menschheit eine Ermüdung,

eine Erlahmung aller Kräfte. Sie erträgt die Kultur nicht mehr,

sie leidet.

Der Odem der Städte, der Dunst der Wissenschaften,

die Fäulniß der Gedanken und Empfindungen ist so betäubend

 und giftig geworden, daß es auch dem Rüstigen und Wohlgemuthen

den Athem versetzt.

Wird in solch unendlicher Wüste ein Umfassender sein,

einer, der frei ist von den Fesseln eines Dogmas oder Berufs?

O lassen Sie uns nicht daran zweifeln!

 

 

Er wird zeigen, daß das Leben so göttlich wie unfaßbar sei.

 Ihm wird der Mensch gelten, welcher der Natur nicht entfremdet ist;

weil die Natur ein Symbol des Göttlichen ist.

Wohl wird er ein Prophet sein, wohl wird er die Stimme eines Patriarchen haben.

Aber mehr: ihm gebührt der Ruhm des Dichters.

Die Wärme, der zuckende Puls seiner Sätze:

das wird das Außerordentlichste an ihm bleiben.

Er wird einem Menschen gleichen, der, nachdem er in ein eisiges Bad untertauchte,

nun wieder an die warme Luft emporkommt, an das Licht,

an die Sonne.

Wilhelm Walther Krug in ‚Die Jugend’, 1904, Nr. 2, S. 23

 

Gräser hat sich den Titel dieses Aufsatzes in Rot auf einem Stück Karton notiert und sein Leben lang mit sich herumgetragen.

Zurück zu Brandenburg. Er war es, der wie kein anderer das Aufkommen des neuen Ausdruckstanzes in Ascona und Hellerau mit Leidenschaft verfolgte und mit seinen Schriften unterstützte. Er arbeitete selbst mit Laban zusammen an einem eigenen Tanzspiel und kam dadurch im Sommer 1914 auf den Monte Verità, um eine Vorführung einzustudieren. Von ihm stammen das damals grundlegende Werk ‚Der moderne Tanz’  von 1913 und Aufsätze über die mit Gräser befreundete Mary Wigman. Er war verheiratet mit der Malerin Dora Brandenburg-Polster (1884-1958), die viele seiner Werke bebildert hat. Im August 1914 trat der Dichter als Kriegsfreiwilliger bei den Pionieren in das Heer ein. Damit entfremdete er sich dem Geist von Gusto Gräser und des Monte Verità.

In den frühen Jahren, nach 1902, seit Brandenburg im Schwabinger Milieu als junger Dichter und Schützling von M. G. Conrad aufgetaucht war, muss seine Beziehung zu Gräser eine leidenschaftliche und begeisterte gewesen sein. Das geht aus einem Gedicht hervor, das Brandenburg Gräser geschenkt hat und das in dessen Nachlass in der Monacensia der Münchner Stadtbibliothek enthalten war, von dort aber noch zu Brandenburgs Lebzeiten entfernt worden ist. Dieses verschwundene Gedicht war zwar seinem Freund Will Vesper gewidmet. Dass Brandenburg eine Abschrift an Gräser übergab, besagt aber, dass er für diesen ähnliche Gefühle hegte. Da wird, mit  überschwänglichem Pathos, Freundschaft bis an den Rand des Grabes geschworen:

 

Das selbe wilde Blut durchtobt uns zweien

die Adern, und die selbe Leidenschaft

durchglüht uns heiß, daß oft gleich Feuerreihen

sprühn unsre Lieder der Verzehrung Kraft!

Drum sind wir eins! – Liebe und Freundschaft weihen

die Werke, die des Dichters Geist erschafft! - -

Wir sind uns treu, wie auch die Jahre seien,

bis einst des Grabes dunkler Abgrund klafft!

(Unterstreichungen, einfach und doppelt, vom Autor; Kopie im DMA Freudenstein.)

Die Freundschaft mit Gräser bewährte sich allerdings nicht bis zum Grabesrand. Als Gusto ihn eines Tages besuchen wollte, ließ Brandenburg sich verleugnen. Worauf ihm der Abgewiesene einen Zettel in den Briefkasten warf mit den Zeilen:

Sieh, Du willst den Mensch beschreiben –

kommt er, kann er draußen bleiben!

Im Sommer 1914 erlebte Brandenburg auf dem Monte Verità eine Glückszeit seines Lebens, als Dichter, als Tänzer und als umschwärmter Liebling der Frauen.

 

Hans Brandenburg auf dem Monte Verità, Sommer 1914

 

Der große Pan, er lebt!

Nicht der Teufel, wohl aber ein naher Verwandter, der gehörnte Pan, stand im Mittelpunkt eines stummen Spiels, das Brandenburg mit den Tanzschülerinnen einübte. Er selbst übernahm die Hauptrolle. Eine helle Ziegenherde vor sich hertreibend stürmt Pan, ein wilder Mittagsschreck, in die Arena vor dem Speisehaus, wo auf dem Rasen ängstlich die Mädchen kauern. Der Tänzer hat sich "mit Fellen bedeckt und die Stirn dort, wo man das Gehörn vermuten mochte, mit Schilf und Weinlaub umwunden" (Zimmer 360). In geilen Sätzen springt er die Böschung zur Orchestra hinan, auf die sich die entsetzten Mädchen geflüchtet haben. Bald beschwörend und flehend, bald drohend und lachend sucht er sie einzeln zu kirren und zu locken, aber umsonst.

„Bis er am Ende in dem Schilfe nestelte, das seine Lenden umbuschte, einzelne Rohre herausriß, sie zuschnitt und mit festen Halmen zu dem Bündel einer Syrinx zusammenband. Er setzte diese an die Lippen und, wie gebannt, begann beim ersten Ton eine Mädchenferse zu zucken und sich zu heben, die anderen folgten, und es entspann sich, erst scheu und tastend, ein nachtwandlerischer Reigen, bei dem die Augen glänzten, die Lippen leicht sich öffneten und die Fingerspitzen sich zag berührten. Wilder blies Pan in die Flöte, der Tanz schlug entfesselte Flammenwellen, die auf den Spieler zurückschlugen und die er wiederum schürte; er hüpfte in ungefügen Bocksprüngen mit, nun als Partner einer einzelnen, nun je zwei im Wechsel zu Paaren treibend, nun die gelöste Flut in aufzuckendem Flackerstechschritt durchkreuzend und durchflechtend, von ihrer Brandung emporgeschleudert, nun sie mit süßen Hauchen sänftigend. Jetzt feixte er toll, jetzt strahlte er Verklärung, jetzt brach trunkene Güte aus traurigen Augen und umfing gotteinsam die erdennahe Menschengemeinschaft, dann endlich stürmte er mit gehetztem Atem durch die Rohre, es orgelte, schwoll und fauchte, hell winselnd zerschrillten höchste Töne, indessen er das gehobene Rondell von neuem gewann. Die Mädchen ergriffen Zymbeln, ihre Haare öffneten sich unter flatternden Bändern, die Füße und Metalle huben an zu rasen, und Pan, wilde Genugtuung in hoffnungsheißen Blicken, stürzte von der Höhe mitten unter die Gestalten, sie zu haschen, zu greifen, zu küssen. Allein sie flohen spottend und lachend vor seinem wetterleuchtenden Satyrkopf.

Hans Brandenburg: Das Zimmer der Jugend. Roman. Stuttgart Heilbronn 1920, 360f.

Inzwischen hatte sich, so schildert es Brandenburg in seinen Erinnerungen, eine große Wolke hoch am Himmel zusammengezogen, eine unheimliche schwüle Stille trat ein, die Orchestra verdunkelte sich, und während Pan beschwörend die Hände zur Wolke emporhob, wurde aus der Nähe eine unsichtbare Stimme hörbar: "Der große Pan ist tot! Der große Pan ist tot!" Man glaubte zunächst, dass sie zum Spiel gehöre, bis der Rufer aus dem Gebüsch trat und mit erregter Stimme die eigentliche Botschaft verkündete: "Leute, hört auf! Es ist Krieg! Krieg!" (Zimmer 361)

Brandenburg fuhr nach Deutschland zurück, wurde Soldat; Laban und seine Tänzerinnen blieben. Stille kehrte ein auf dem Berg.

„Ja, was war Gustav Gräser?“, so fragt Karl Spengler am Ende seiner Erzählung. „Ein Scharlatan, ein Träumer, Schmarotzer, Wolkenkuckucksheimer, Phraseur, Faulenzer oder wirklich ein Apostel der Natur? Wir wissen es nicht; doch daß er nie zum ‚Menschenmaterial‘ gehörte, wozu unser Jahrhundert die Menschen kläglich erniedrigte, das machte Gustav Gräser auch jenseits aller persönlichen Wertung merkwürdig, höchst merkwürdig“ (Spengler 266).

                                                                                                                                         Hermann Müller

 

 

Quellen:

Karl Arnold: Der Naturmensch. In: Die Jugend, Nr. 48, Dezember 1908.

Christian Bäthe: Wer wohnte wo in Schwabing? München 1965.

Hans Brandenburg: Das Zimmer der Jugend. Roman. Stuttgart Heilbronn 1920

Hans Brandenburg: Gedicht für Will Vesper. Kopie im DMA Freudenstein.

Waldemar Fromm und Stephan Kellner (Hg.): Die Bayerische Staatsbibliothek in der Literatur. München 2014. S. 103f.

Fritz Gött: Lebenserinnerungen. In: Neue Kronstädter Zeitung, 1. Juli 1989.

Gustav Arthur Gräser: Nachlass in der Münchner Stadtbibliothek und im Monte Verità Archiv Freudenstein.

Annie Francé-Harrar: So war’s um 1900… München/Wien 1962.

Wilhelm Walther Krug: Dem Einen. In: Die Jugend, 1904, Nr. 2, S. 23.

Karl Alexander von Müller: Aus Gärten der Vergangenheit.  Stuttgart 1951.

Albert Schlopsnies: Interessante Erscheinungen des heurigen Faschings. In: Die  Jugend, Oktober 1908, S. 237.

Karl Spengler: Hinter Münchner Haustüren. München 1964.

Emil Szittya: Das Kuriositäten-Kabinett. Konstanz 1923/Berlin 1979.