Diese frühe
Arbeit von Gusto Gräser hat sich nur in einer photographischen Aufnahme
erhalten. Sie war einem Brief beigelegt, den Gräser im Februar 1900 an
einen
ehemaligen Mitschüler bei Diefenbach, den Maler Friedrich von Spaun,
geschrieben hat (Diefenbach-Archiv Dorfen). Vermutlich handelte es sich
um eine
in Silber getriebene Arbeit, denn im Tagebuch eines anderen
Diefenbach-Schülers
wird Gräser als "hochgebildeter Metallbildhauer" bezeichnet (Tagebuch
von Franz Mayer, 12. 9. 1898). An einer anderen Stelle ist von Arbeiten
in
Silber die Rede. Eine kleine Metallbüste von der Hand Gusto Gräsers,
wahrscheinlich ein Porträt seines Lehrers Diefenbach, befindet sich im
Museum
"Casa Anatta" auf dem Monte Verità von Ascona. Die Plastik
zeigt rechts ein nacktes Menschenpaar unter einem sturmgekrümmten
Apfelbaum.
Die Frau, auf einem Felsbrocken vor dem Baum sitzend, greift mit dem
linken Arm
nach oben ins Geäst. Sie scheint eine Frucht, einen Apfel in der Hand
zu
halten: den Apfel des Paradieses. Mann und Frau, die sich mit einem Arm
umschlungen halten, werden von einem ebenfalls nackten Knaben in ein
weites Tal
gewiesen, das sich zwischen Bäumen und Gesträuchen auftut: eine lichte,
verheißungsvolle Ferne. Zwei jüngere Kinder, puttenartig, sind dem
Erwachsenenpaar gegenübergestellt. Das eine Kind, etwa einjährig,
krabbelt an
einem Felsbrocken hoch, das zweite Kind, ein Mädchen, steht oder kniet
mit
erhobenen Armen auf einem Baumstumpf. Die Blicke der beiden Kinder sind
auf das
Erwachsenenpaar gegenüber gerichtet. Im Unterschied zur biblischen
Szenerie von
Adam und Eva, an die wir zunächst erinnert werden, sind hier also
Kinder
gegenwärtig. Vorgestellt wird also weniger der "Sündenfall" als die
positiven Folgen dieses "Falls": die Familie, ja die heilige
Urfamilie. (Der Mann berührt mit seiner rechten Hand zärtlich und
beschützend
den Scheitel des Knaben.) Mit anderen Worten: Der "Fall" der
Geschlechtsliebe ist kein Sünden- sondern ein Glücksfall: die Quelle
der
Fruchtbarkeit und des Lebens. Die beiden
Menschengruppen ebenso wie die Baumgruppen links und
rechts umrahmen und umfassen die offene Lichtung in der Bildmitte.
Durch den zeigend
ausgestreckten Arm des älteren Knaben wird sie zudem als das
eigentliche Ziel
und Zentrum bezeichnet. Das Tor ins Leben. „Lichtung“ und „Leben“
werden
Zentralworte in Gräsers Dichtung sein. In geglättete
Felsplatten eingemeißelt erscheint im Vordergrund
die Schrift: „MIT GOTT VEREINT“. Es handelt sich
offenbar um eine Umdeutung des Paradiesmythos,
eine Travestie des biblischen Sündenfalls. Der neue "Adam“ und die neue
„Eva"
schämen sich ihrer nackten Körper nicht, sie stellen sie eher
selbstbewußt zur
Schau. Kein Gott und kein strafender Engel erscheint, wohl aber,
zwischen Knabe
und Mann, der Kopf einer Schlange mit züngelnder Zunge. Sie ist im
Zusammenhang
des Ganzen wohl kaum als teuflische Verführerin zu sehen sondern als
fruchtbare
Liebes- und Lebenskraft. Eva pflückt die Frucht der Liebe und des
Lebens, und
das Landschaftstor, das sich öffnet, in das der Knabe sie auffordernd
weist,
scheint kein Tal der Tränen, eher ein Freudental zu sein. Der
sogenannte
"Sündenfall", das "Erkennen" des anderen Geschlechts, es
trennt nicht von Gott, es vereint mit Gott. Der Gang ins Leben wird
kein
Bußgang und keine Strafe sein, sondern, vereint mit Gott getan, einem
Gott der
Freude und der Lebenskraft, wird er Erfüllung schenken. Die drei Kinder
sollen
die Frucht der Vereinigung des Paares darstellen, die Freuden der
Familie, die
Wonnen der Elternschaft. Hier also wird der
christliche Mythos positiv umgedeutet im
Sinne der Lebensreform, des Vitalismus und des Monismus: Bejahung des
Lebens
und der Welt, Bejahung der Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit statt
Verfluchung, Strafe und Vertreibung. Die Welt selbst ist das Paradies,
die
Liebe der Geschlechter, Zeugung und Elternschaft sind Erfüllung des
Lebens. Warum aber dann die
Bildunterschrift „MIT GOTT VEREINT“, da doch
kein Gott erscheint? Offenbar ist Gott
immanent
allgegenwärtig: in den Bäumen, den Felsen, den Tieren (eine Schildkröte
ist
links erkennbar) und den Menschen. Die Natur ist heilig, ist göttlich,
wenn der
Mensch ihr in unschuldiger Nacktheit entgegentritt - von den
Verzerrungen durch
die Zivilisation befreit. Gräser hat die
Diefenbachische Lehre in eigener Variation ins
Bild gesetzt. Was seinem Lehrer nie gelang, die Essenz seiner
Anschauungen in
einem mythisch-allegorischen Bild zu verdichten, das gelingt dem jungen
Künstler auf Anhieb. DER LIEBE MACHT sowohl wie MIT GOTT VEREINT sind
Bild
gewordene Philosophie, erste Symbolik einer keimenden Natur-Religion. Gräser scheint früh erkannt zu haben,
daß die bildlichen Möglichkeiten einer Darstellung seiner
Weltanschauung gar
schnell an Grenzen stoßen. Was hier zu sagen war, die Botschaft
Diefenbachs und
in Ansätzen seine eigene, ist in diesen beiden Bildwerken schon
erschöpfend
ausgedrückt, war kaum noch zu erweitern. Aus dieser Einsicht heraus und
aus der
Einsicht in die unvergleichlich größeren Möglichkeiten des Worts hat
Gräser
Pinsel, Meißel und Schnitzmesser aus der Hand gelegt und zum
Schreibstift
gegriffen, zum wortschaffenden Werkzeug des Dichters. Auf der Rückseite des
Photos findet sich, in der Handschrift
Gusto Gräsers mit Bleistift geschrieben, ein Gedicht, das die bildliche
Darstellung deutet und erweitert. Der Text ist unter die Zeichnung
einer Geißel
gesetzt, einer Geißel, deren Striemen mit kleinen Herzen besetzt sind.
Es wird
wohl auf die Geißel angespielt, mit der Jesus die Händler aus dem
Tempel
vertrieben hat - und zugleich auf die Geißelung Christi auf dem
Schmerzensweg
nach Golgatha. Von Gustav (:) Kämpfer. Klaget nicht, entsagt dem Dank der Welt! Geht mit Ihm, der Euch beschützt und hält. Dann wird Freude euch gewisslich werden. Denn die Tropfen roten Blutes, die am Weg zu Gott durch Schmerz und Mühen, die aus Wunden, von dem Leid gestochen, quillen - [werden] zu den schönsten Rosen blühen! Anders als die Plastik betont das
Gedicht Schmerz und Mühen, Wunden
und Leiden. In diesem kleinen Gedicht deutet sich schon an, daß Not und
Kampf
Gräsers künftige Themen sein werden. Den naiven Traum vom irdischen
Paradies,
das durch "Lebensreform" zu gewinnen wäre, hat
Gräser schon früh in Frage gestellt. Spätestens jedoch nachdem er sich
von
seinem Meister getrennt hatte, hat er ihn als wirklichkeitsfremd
durchschaut.
Dem überzogenen Optimismus Diefenbachs stellt Gräser seine
realistischere Anschauung gegenüber, in der Weltleid und
Weltlust sich die Waage halten. |