Pflanzler und Wurzelmann

Zarathustra begegnet dem freiwilligen Bettler

Denn siehe, da saß ein Mensch auf der Erde und schien den Tieren zuzureden, daß sie keine Scheu vor ihm haben sollten, ein friedfertiger Mensch und Berg-Prediger, aus dessen Augen die Güte selber predigte. „Was suchst du hier?“ rief Zarathustra mit Befremden.

Was ich hier suche?“ antwortete er: „dasselbe, was du suchst, du Störenfried! Nämlich das Glück auf Erden.

Dazu aber möchte ich von diesen Kühen lernen. ... So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich.“ ...

Also sprach der Berg-Prediger und wandte dann seinen eignen Blick Zarathustra zu – denn bisher hing er mit Liebe an den Kühen -: da aber verwandelte er sich. „Wer ist das, mit dem ich rede!“ rief er erschreckt und sprang vom Boden empor. ... Und indem er also sprach, küßte er dem, zu welchem er redete, die Hände, mit überströmenden Augen, und gebärdete sich ganz als einer, dem ein kostbares Geschenk und Kleinod unversehens vom Himmel fällt. Die Kühe aber schauten dem allem zu und wunderten sich.

Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher!“ sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit, „sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst einen großen Reichtum von sich warf, -

der sich seines Reichtums schämte und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, daß er ihnen seine Fülle und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.“

Aber sie nahmen mich nicht an“, sagte der freiwillige Bettler, „du weißt es ja. So ging ich endlich zu den Tieren und zu diesen Kühen. ...

Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch ‚arm‘ und ‚reich‘! Diesen Unterschied verlernte ich – da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.“

Also sprach der Friedfertige und schnaufte selber und schwitzte bei seinen Worten, also daß die Kühe sich von neuem wunderten. Zarathustra aber sah ihm immer mit Lächeln ins Gesicht, als er so hart redete, und schüttelte dazu schweigend den Kopf.

Du tust dir Gewalt an, du Berg-Prediger, wenn du solche harte Worte brauchst. Für solche Härte wuchs dir nicht der Mund, nicht das Auge.

Auch, wie mich dünkt, dein Magen selber nicht: dem widersteht all solches Zürnen und Hassen und Überschäumen. Dein Magen will sanftere Dinge: du bist kein Fleischer.

Vielmehr dünkst du mich ein Pflanzler und Wurzelmann. Vielleicht malmst du Körner. Sicherlich aber bist du fleischlichen Freuden abhold und liebst den Honig.“

Du errietest mich gut“, antworte der freiwillige Bettler mit erleichtertem Herzen. „Ich liebe den Honig, ich malme auch Körner, denn ich suchte, was lieblich mundet und reinen Atem macht: - auch was lange Zeit braucht, ein Tag- und Maul-Werk für sanfte Müßiggänger und Tagediebe.“ ...

Wohlan!“ sagte Zarathustra, „du solltest auch meine Tiere sehn, meinen Adler und meine Schlange – ihresgleichen gibt es heute nicht auf Erden.

Siehe, dorthin führt der Weg zu meiner Höhle: sei diese Nacht ihr Gast. Und rede mit meinen Tieren vom Glück der Tiere, bis ich heimkomme.“ ...

Am späten Nachmittag war es erst, daß Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. ... Und siehe! Welches Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da saßen sie allesamt beieinander, an denen er des Tages vorübergegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel ...

Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hörte also euren Notschrei? Und nun weiß ich auch, wo der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte: der höhere Mensch -: In meiner eigenen Höhle sitzt er, der höhere Mensch! ...

Doch dünkt mir, ihr taugt euch schlecht zur Gesellschaft, ihr macht einander das Herz unwirsch, ihr Notschreienden, wenn ihr hier beisammen sitzt? Es muß erst einer kommen, - einer der euch wieder lachen macht, ein guter fröhlicher Hanswurst, ein Tänzer und Wind und Wildfang, irgend ein alter Narr: - was dünket euch? ...

So lernet doch über euch hinweglachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch, höher! Und vergeßt mir auch das gute Lachen nicht!“

Friedrich Nietzsche

*

Wer macht die Herze springen? –

Der treugetroste Mann!

Dem Ernsten kann gelingen, was lachend leben kann.

Er lebt auf dieser Erden, frohwacker, als zuhaus,

und flieht nit vor Beschwerden in Lügengraus.

Er, er vor allen Dingen –

er macht die Herze springen.

*

Jah – ein rechter Spieler kommet wie der Witz,

zuckt durch Hirn und Herze einen Lacheblitz,

taucht dann mit Gefunkel wieder in die Nacht,

freut sich aus dem Dunkel, wie das oben lacht –

lange – lange – lacht.

*

Herzmann schlägt an,

schlägt vor, schlägt ein mit Donnerwetterlachen,

denn so ein Mann kann Wunderscherze machen –

was machen? Blitzen aus Urmutterwitz, den Allzugsetzten hui in ihren Sitz!

*

Lach mit, blüh mit,

mit Tier und Baum und Strauch,

und lach mit dem, den wie es heisst imgrund

doch jeder hat – mit deinem Vogel auch!

Horch, wie er zwitschert, piept und singt

durch unsres TRäumers Mund,

rund, pumperlgsund, – der hat ihn

unbedingt!

*

Ein Vorschlag –

so schlagt mit, lacht mit –

so wird's vielleicht Tiefwurzelschlag

zu Erdsterns Blütezeit,

zu seinem

Jungäonentag!

*


Heiah, wie woget die ewige Welt -

wie so wild ihre Wellen unsre Brüstung umschwellen

und bedrängen in Ebbe und Flut sie mit Tosen und Stossen

und mit Küssen und Kosen!

Fragst Du noch nach dem Halt in dem Fluss? -

Frag nach dem Halt nicht, frag nach Erguss!

Reiche beide die Hände hin, walle treu mit dem Flusse

zwischen Durft und Genusse.

Tanze, Freundchen, in trutzigem Spiel traulich mit

in dem Treiben zwischen Fliehn und Verbleiben!

Gehe, so will's der Gott in der Brust,

auf in des Fleisses flottfliessender

Lust.

*

Freund, wohlauf – die Augen offen und dem Herzenstakt gehorcht!

Sonder fürchterlichem Hoffen, mag’s aus allen Himmeln troffen,

komme was da will – gehorcht!

Und getanzt aus frohem Triebe mit dem taktbeschwingten Tritt!

Und der Neid, der Hohn, sie alle, sie vergessen ihre Galle –

und sie tanzen, tanzen mit.

*


Sohn, gehorch Deinem Blute, sing mit lachendem Mute

urgetroste: Ich kann‘s!

Horch, die Flammen, die Fluten, all die Quecken, die Guten

rufen: Raff Dich zum Tanz!

*

Aber baber, was verstehen?

Komm mit mir im Tanz zu drehen!

Aber baber, was beweisen?

Komm mit mir ins Leben reisen!

*

Du – nit so stolz –

komm, nimm und gieb dein Teil!

Nur mitzuleben ist des Menschen Heil!

Schau – ist das Leben nit ein Ringereihn?

Ein liebelustiges Beisammensein?

Jed Stäublein stiebt und wippt um sein Gespiel

und jedes Blümlein liebt sein Blümlein viel

und jeder Stern hat vielviel andre gern –

Du – nit so stolz, tanz mit auf diesem Stern!

Einsam steht nichts, was lebt auf Erdenflur:

Das Miteinander lebt -

das Miteinander nur!

*

Aus Ur – durch Urteil – zu Wiederganz – zu

urtraumbeschwinget hierheitrem Tanz!

*

Hah, Muss entzückt! Inbrunstheisses Dürfen

hilft uns Wonnen schlürfen,

fern den Satzungsdissonanzen, Pappwisch fern,

freudegern indiereihzutanzen

unsern Erdenstern!

*

Betrübte Welt in seinem Dunklicht badend,

Ost-West-Nord-Süd zum Blütentanze ladend,

zum Hochzeitstanz von unserm

Herz und Hirn.

*

Du fügst uns all, Geringlein um Gering,

zum großen Ball im Wunderwirweltring,

wo wir mit Well und Zell zum Grunde gehn, dein Sämeling,

mit Dir zu feiern größtes Auferstehn!

Kleingang heißt Eingang mit dem liebsten Traum zum tiefsten Raum.

Oh Kleinodglück, drum sich die Sterne drehn! –

So – lass – dich – gehn!

Nur treu, Gesell, wie’s dir tiefwohlgefällt,

und du gehst ein ins große Allgesellt!

*

Nietzsche, der mit dem Beginn des Jahres 1868 über Magen- und Verdauungsprobleme klagte, machte im Sommer 1869 eine Molkekur in Interlaken, in deren Folge er sich mit naturheilkundlichen Diätvorschriften befasste. Gersdorff empfahl ihm die Diät von Eduard Baltzer und Nietzsche begann sich vegetarisch zu ernähren. Nietzsche glaubte, die Diät bekomme ihm gut. (214)

Nietzsche hatte damals nach eigenen Aussagen „nach der Einladung von Gersdorff, von nichts als Brot Milch Weintrauben Früchten und einer Suppe gelebt.“ (211)

Laut Cosimas Notiz in ihren Tagebüchern, sei die Antwort Wagners auf Nietzsches Behauptung, „es sei doch von ethischer Wichtigkeit, keine Tiere zu essen“ gewesen: „unsere ganze Existenz ist ein Kompromiß, den man nur dadurch sühnen kann, daß man etwas Gutes zustande bringe.“ (210)

Nietzsche sah die karnivore Kost jetzt als wichtige Voraussetzung für einen gut funktio-nierenden Geist, den der brauche, der etwas Großes leisten will.. (207)

[Nietzsches Brief an Gersdorff:] „Während doch unsere erhabne Philosophie lehrt, daß wo wir hingreifen, wir überall in das volle Verderben, in den reinen Willen zum Leben fassen und hier alle Palliativkuren unsinnig sind. Gewiß ist die Achtung vor dem Tiere ein den edlen Menschen zierendes Bewußtsein: aber die so grausame und unsittliche Göttin Natur hat eben mit ungeheurem Instinkt uns Völkern dieser Zonen das Entsetzliche, die Fleischkost angezwungen.“ (208)

Nietzsche, damals aufgrund der Lektüre von Shelley und der Überzeugungskraft von Gersdorff vorübergehend Vegetarier geworden – ließ sich schließlich von Wagner über-zeugen, dass der Vegetarismus nicht zur Lösung der „sozialen Frage“ oder der „Erlösung der Menschheit“ beitragen könne. (208)

Josef L. Hlade: Auf Kur und Diät mit Wagner, Kapp und Nietzsche. Stuttgart 2015


Gräser ließ sich von Nietzsches Zarathustra dazu inspirieren, in einer Naturhöhle zu hausen und ohne festen Wohnsitz umherzuwandern. Er beschenkte diejenigen, von denen er Arbeit oder Brot erbettelte, mit Weisheitssprüchen und Poesien, welche Frieden verkünden und zur Einkehr und Weltabkehr ermahnen. Anders als Zarathustra, der vergeblich nach höheren Menschen sucht und sieben an ihrer Zunft Verzweifelnde zu sich einlädt, enden Gräsers poetische Wanderungen nicht tragisch. Die Vermittlung der Weisheitslehren ist in Gräsers Gedichten vielmehr von Erfolg gekrönt, weil der Wanderprediger andere Wanderer zu seiner Nachahmung anregt, ohne ihnen das anspruchsvolle Ziel der Selbstoptimierung zuzumuten. (85)

Einige von Nietzsches Freunden sahen in seinem Zarathustra einen Reformator und Religionsstifter. Ihre Lektüre beeinflusste vielleicht die Wahrnehmung der Lebensreformer. Sie sahen in Zarathustra mehr als nur den Lehrer uralter Weisheit, einen Propheten und Erneuerer echter Religiosität. (132)

Barbara Mahlmann-Bauer in ‚Aussteigen um 1900‘. Göttingen 2021