Hesses Weg zu Gusto Gräser und zur Lebensreform
Auszüge aus dem Buch von Massimiliano Carminati
An einem Sommertag
des Jahres 1906 [richtig: im Frühjahr 1907!] trat Ungewöhnliches in das
Leben des deutschen Dichters Hermann Hesse. Wie üblich geschah es auf
völlig unerwartete Weise. Es erschien in Gestalt eines bizarren
Typs, der auf den Namen Gustav Gräser (1879-1958), genannt Gusto,
hörte, ein mittelloser und (im wörtlichen Sinn, d. h. aus Freude)
dilettierender Dichter und Maler. Wenn zwei einander Fremde in
Berührung kommen, kann Sympathie die Nebel des Misstrauens
zerstreuen. Ein solches Gefühl von Gemeinsamkeit und
Verwandtschaft muss Hesse empfunden haben, ein instinktives
Gespür für die Originalität der Haltung und der Eigenart von
Gräser, die nicht nur ein deutlich sichtbares Element von Würde
enthielt, viel mehr noch ein Bild des Widerstandes gegen
die Korrektheit des üblichen Mittelmaßes und gegen die öffentliche
Moral der Zeit. Seine indianische Kleidung verriet schon eine
Natur sui generis,
einen Geist, der taub war für die Sirenengesänge der Gesellschaft,
immun gegen die giftigen Sophismen des Bürgertums; ein freier und
unabhängiger Mensch, den Klauen des platten und sterilen städtischen
Treibens entkommen; einer, der sich nicht unterordnen konnte, weil
begabt mit einer Persönlichkeit, die sich nicht anpasst wie so
viele andere, die kein geöltes Rädchen im sozialen Getriebe werden
würde. Gräser war ein echter Steppenwolf oder eher noch ein
reinkarnierter indischer Samana.
Der Künstler hält
sich angesichts der Gewöhnlichkeit seiner Umgebung immer für ein
Original, und Hesse hatte damit schon in seiner frühesten Jugend
begonnen, als er die kühne Entscheidung traf, entweder „ein
Dichter oder nichts“ zu werden. Aber die Originalität des Kollegen
Gräser erschöpfte sich nicht in der entschiedenen
Extravaganz seiner Kleidung. Dieser Mensch hatte eine
unübersteigbare Distanz zwischen sich und den Rest der Welt
gesetzt; er hatte sich zu einem Wanderleben entschlossen, zu einem
Leben außerhalb des Üblichen; er ließ alle Zivilisation hinter
sich und zog in eine Grotte. Als Visitenkarte verteilte er
Grashalme, weil im Deutschen „Gräser“ eben Gräser
bedeutet; manchmal nannte er sich aus Bescheidenheit auch einfach
„Gras“, weil er der Meinung war, dass ein vereinzelter Mensch
nicht das Recht habe, sich als Plural zu bezeichnen. Im Europa der
Imperien, in einer Epoche, da das pathetische Gebläse des Willens zur
Macht durch die Politik der Panzerkreuzer fegte, stellte die
Radikalität seines Antikonformismus ein wahnsinniges Wagnis dar,
eine Verhöhnung all dessen, was von gebildeten und
zivilisierten Menschen angebetet und als gesellschaftlich
annehmbar und gut betrachtet wurde.
Die beiden Künstler
besprachen sich in aller Länge. Die rebellischen Worte des Dichters
schlugen eine Bresche in die anfängliche Neugier von Hesse und
verwandelten sie recht schnell in Sympathie und wohl auch in
Verehrung. ...
Manche
Persönlichkeiten seiner Zeit sahen in ihm (Gräser) die Inkarnation des
neuen Menschen, die Erfüllung der Ideale von Nietzsche und Walt Whitman
oder einen neuen heiligen Franziskus. ...
Hesse, ergriffen von
dem Wunsch nach einer Lebensweise, die der Wirklichkeit neue Farben
verleihen würde, bewies seine geistige Verwandtschaft mit Gräser, indem
er dessen Einladung annahm, ihm auf den Monte Verita oberhalb von
Ascona zu folgen.
Auszüge aus
Massimiliano Carminati: L'arte come ultima ratio. Hermann Hesse e la
„Lebensreform". Verlag Il Cerchio, Rimini 2012, S. 16-19. Mit
zahlreichen, auch farbigen Abbildungen.
Übersetzung ins Deutsche von Hermann Müller.
Kommentar:
Carminati stellt sehr anschaulich vor Augen,
welchen Sprung aus der Gesellschaft heraus Gräser getan hat, welche
Kluft ihn fortan vom normalen Bürger und seinem Denken trennte. Dieser
dramatische Riss kann gar nicht genug hervorgehoben werden. Und
doch fehlt der Darstellung des Autors ein wesentliches Moment: das
ethische, das christliche, das religiöse. Gräser war nicht einfach
ein sozialer Rebell wie zehntausend andere auch. Die nämlich waren
meist aufgeladen mit Hass, die bekämpften in der Regel
die herrschende Macht mit den Mitteln der Macht, mit Gewalt.
Naheliegende Beispiele vom Monte Verita waren etwa Erich Mühsam
und Lenin, waren die Anarchisten und die sozialistischen
Revolutionäre. Auch ein Ernst Bloch, der den kategorischen
Imperativ und die Herrschaft des Messias „mit dem Revolver in der
Hand" erzwingen wollte. Nein, Gräser war kein Revoluzzer. Er war
einer, der sich „Diener" nannte. Er war einer, der - wie seine
Bildtitel von 1899 lauteten - „mit Gott vereint" die „Macht der
Liebe" auf Erden ausbreiten wollte. Er hatte die Flugschrift 'Jesus'
seines Freundes Anton Losert gelesen, worin, die Worte der
Bergpredigt aufnehmend, die Lilien auf dem Felde als Vorbilder
aufgestellt und jeder Erwerb und Gebrauch von Geld als
teuflisch verworfen wurde. Sein Meister Diefenbach wollte seine
Jünger zu „Gottmenschen" erziehen nach dem Vorbild des
„Gottmenschen" Jesus. Und Gräsers Praxis bestand darin, sich
gleichzustellen mit den Ärmsten der Armen, mit Bettlern und
Landstreichern, auch mit Dieben, mit Kriminellen. So nämlich wurde
er von den Behörden und von Bürgern oft gesehen und
behandelt: nicht einfach als exzentrischer Bohemien oder
spleeniger Sonderling sondern als Gesetzesbrecher. Auf die
Rückseite seines Gemäldes 'Aufbruch'
zeichnete Gräser eine Peitsche, besetzt mit Lederstriemen, deren
Enden mit kleinen Herzen bestückt waren. Es ist die Peitsche des
Liebeszorns, mit der Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieb.
Mithin: sein Sprung aus der Gesellschaft war keine Triebhandlung
und keine seelische Verirrung sondern ein religiöser Akt. Freilich
verband sich seine ethische Leidenschaft nicht mit einer
Abkehr von der gefallenen Welt, nicht mit Jenseitshunger oder
Enderwartungen, sondern mit der Hinwendung zum Diesseits, zum
Körperlichen und Irdischen. Urchristliches verband sich mit den
Idealen der Lebensreform und mit vitalistischem Denken. Erst
nachdem Gräser die Erfahrung machen musste, dass gerade die
Traditionschristen sein Eigendenken am entschiedensten ablehnten
mit ihrem „Was da - wir haben Gottes Wort und basta!", erst
dann wurde ihm nach und nach deutlich, dass die weltfeindliche
Ideologie des Christentums sich mit der Weltfreundlichkeit der
Lebensreformer nicht vereinbaren ließ. Erst jetzt begann er sich mit
seiner christlichen Herkunft kritisch auseinanderzusetzen und,
Denkern wie Nietzsche oder Lagarde teil-weise folgend, sein
eigenes Weltbild zu entwickeln. Aber auch dann blieb es
dabei, dass seine religiöse Motivation eine religiöse Antwort
finden musste.