Eindrücke von Petra Brixel vom Besuch des Films, Samstag, 18.12.2021, Kino: Cinema im Ostertor, Bremen.
Regie: Stefan Jäger, Drehbuch: Kornelija Naraks, 116 Min., mit Julia Jentsch, Hannah Herzsprung, Maresi Riegner, Max Hubacher.
Die stärkste Szene (für mich) ist die, wo Lotte stirbt. „Santa Lotte" hat von Otto Gross (Doktor, das wird im Film immer wieder betont) die Tabletten bekommen, die sie brauchte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie stirbt leise, lächelnd, ... wie man halt so stirbt am Monte Verità.
Irgendwie sind ja alle ProtagonistInnen oben auf dem Berg (der eigentlich ein Hügel ist) ganz besondere Menschen, da macht eben Lottes Tod keine Ausnahme. Vorher hat sie noch eine Botschaft an ihre Freundin Hanna Leitner bereit: „Versprich mir!" Und Hanna verspricht es; was soll sie auch anderes tun, als eben genau das angesichts des Auslöschens von Lotte, die seit ihrer Ankunft auf dem Berg zu einer Freundin geworden ist?
Dieser Film, der das Leben auf dem Monte Verità im Jahr 1906 darstellen soll, lebt von fünf ProtagonistInnen: Dr. Otto Gross (der Zwiespältige), Lotte Hattemer (die Kranke), Ida Hofmann (die Vernünftige), Hermann Hesse (als Special Guest, der Sinnsucher) und als roten Faden die fiktive Hanna Leitner. Henri Oedenkoven und Isadora Duncan dürfen in Minirollen wirken.
Hanna Leitner hat Asthma, vor allem in der Nähe ihres übergriffigen Mannes. Aber eigentlich ist es Hysterie. Hysterische Frauen gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts jede Menge. Man kann auch sagen, jede Frau, die über ihre Situation als Mutter, Haus- und Ehefrau anfing nachzudenken, musste zwangsläufig hysterisch werden; dazu noch, wenn sie einen Mann hatte wie Hanna Leitner.
Jung hat sie ihn geheiratet, zwei reizende Mädchen geboren, aber der Sohn, der Stammhalter fehlt noch. Der Hausarzt, Doktor Otto Gross, soll helfen. Er bemüht sich um die Kranke, doch nach der Anamnese kann die Behandlung nicht fortgesetzt werden. (Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie seine Behandlung im Hause Leitner vonstattengegangen wäre und wie sehr sich dann der Hausherr gefreut hätte über die erfolgreiche Therapie, die ihm einen Stammhalter geschenkt hätte). Dr. Otto Gross, der wegen seiner Drogensucht - die erst später im Film deutlich wird - in ein Sanatorium auf dem Monte Verità geht, um clean zu werden, muss sich aus Wien verabschieden. Monte Verità ist sein Ziel. „Die Freiheit gehört dir. Otto“, schreibt er auf einen Zettel, den er Hanna Leitner gibt.
Noch aber ist seine Patientin Hanna im goldenen Käfig gefangen. (Ein bisschen weniger Glamour und fürstliche Einrichtung des Hauses hätte auch gereicht, um den späteren Clash mit den einfachen Zuständen auf dem Monte Verità zu verdeutlichen.) Noch überfällt Hanna Atemnot in Anwesenheit ihres Mannes, der ein Fotoatelier unterhält. Hanna ist - heimlich - fasziniert von der neuen Technik (ja, die mit dem schwarzen Tuch) des Fotografierens. Sie fotografiert - heimlich - ihre Töchter, doch das muss schiefgehen. Ihr Mann zerreißt das Bild, das sie von den Töchtern gemacht hat.
Hätte Herr Leitner seiner Frau auch nur dieses eine Hobby erlaubt, nämlich zu fotografieren, wäre alles anders gekommen. Nun aber ist mit dem Bild auch die Bindung zur Familie zerrissen, und Hanna flieht dorthin, wohin schon Dr. Otto gegangen ist: nach Ascona und auf den Monte Verità. Dort soll die „Freiheit“ winken, so ahnt sie, hofft sie. Konkrete Vorstellungen hat sie keine.
Hals über Kopf packt sie ihre Reisetasche, stürzt die Treppe hinunter, aus dem Haus zum Bahnhof, in den Zug. In den Süden! Viel Geld hat sie nicht mitgenommen, wie sollte sie auch, in ihren Kreisen zahlt der Mann. Als sie dann in der Dampfeisenbahn am offenen Fenster steht, weiß der Zuschauer schon, was nun kommt: Natürlich muss ihr im brausenden Fahrtwind (Symbol der Freiheit) der Hut (Symbol der gutbürgerlichen Unterdrückung) vom Kopf gerissen werden. Freiheit muss so beginnen: mit fliegenden Haaren. Frei!
Am Ende der Zugfahrt, als Hanna ratlos umherschaut und von einem kleinen Fremdenführer aufgegabelt wird, erblickt sie ganz kurz Lotte. Der kleine Fremdenführer erklärt: „Das ist Santa Lotte. “ Hanna ist verstört; sehen so Heilige aus? Lotte mit wildem Blick, mit strähnigen, wirren Haaren, aufgedunsen, vernachlässigt. Lotte ist irre. Noch eine Hysterische? Lotte ist der erste Eindruck vom Monte Verità, noch ist Hanna gar nicht oben auf dem Berg. Aber sie ahnt: Freiheit hat viele Gesichter.
Der kleine Fremdenführer bringt Hanna hoch auf den Berg und - so viel Authentizität muss sein - sie geht durch das in der Dunkelheit aufleuchtende große, mit Monte Verità. überschriebene Eingangstor in die „Kolonie der Aussteiger“. Drehbuchschreiberin und Regisseur - man merkt es - haben sich die Fotos vom Monte Verità der damaligen Zeit genau angesehen. Immer wieder blitzen die Postkartenausschnitte auf, entweder als Foto oder in Form der nachgebauten Kulissen und Kostüme.
Auf dem Hügel befinden sich die Hütten der Aussteiger, auch Gästehütten für diejenigen, die nur kurz hier sind; schlicht, einfach, karg. Willkommen, Hanna, Ehefrau und Mutter aus dem goldenen Käfig in Wien in der Reformsiedlung im Tessin! Hanna weiß bald, dass sie hier nicht bleiben will, zu sehr unterscheiden sich ihre Vorstellungen vom Monte Verità mit dem, was sie vorfindet. Doch Ida Hofmann - „Ich bin Ida!“ -, die Ruhige, die Vernünftige, die Hausherrin auf dem Berg (neben ihrem Partner Henri Oedenkoven, der aber erst am Schluss des Filmes für 10 Sekunden auftaucht), beruhigt Hanna. Sie kennt die Psyche der Neuankömmlinge, die sofort an Flucht denken, sobald sie der Zustände auf dem Berg gewahr werden.
Die Zustände: Nackerte! Nackerte hinter den Palisaden beim Arbeiten, beim Tanzen, beim Sonnenbaden, beim Freiluftduschen ... Hanna ist konsterniert, und als Ida ihr eine Hütte - erinnert an das heutige Casa Selma - zuweist, wehrt sie ab. Sie will nicht länger bleiben. Doch Ida, die Geduldige, nennt ihr die Konditionen für einen längeren Aufenthalt: Preis nach eigener Einschätzung. „Du zahlst, was dir die Hütte wert ist.“ Ein bisschen Kapitalismuskritik muss sein: Was ist Arbeit, was Dienstleistung, was Wohlbefinden wert? Hanna merkt: Hier ticken die Uhren anders, hier denkt man anders. Erich Mühsam lässt grüßen (der leider, und das ist mein größtes Bedauern, nicht auftritt).
Wir erfahren nicht, wie Hanna ihren Aufenthalt auf dem Monte Verità in klingender Münze bewertet, wir hoch sie die Kosten der Hütte einschätzt. Sie wollte ja auch gar nicht bleiben, sie hat nicht einmal viel Geld dabei, muss sich welches von Ida leihen. (Das darf nicht wundern, denn § 1354 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 besagt: „Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu". Somit ist er der Verwalter der Finanzen.)
Bald, sehr bald kommt Doktor Otto Gross ins Spiel. Er hat ein Vater-Problem, wird berichtet, und ja, er ist hier, da seine Frau Frieda ein Kind haben will, unter der Bedingung, dass er vom Drogenkonsum wegkommt. Er kann nun seine Therapie mit Hanna fortsetzen. Aber was ist seine Therapie? Man sagt ihm die therapeutische Wirkung von Sex nach, und dass der Doktor ein „Womanizer“ ist, davor wird Hanna auch gewarnt. Doch zunächst empfindet sie seine auf ihren Schultern ruhenden Hände als wohltuend. Und erotisch. Später küsst sie (!) ihn. Sie! Und sie bietet sich ihm „nackert“ im Bett dar. Muss nun die Geschichte des Doktor Otto Gross umgeschrieben werden? Die Geschichte eines Arztes, der die Psyche von Frauen durch seine ganz spezielle Sex-Therapie zu heilen versucht? Wo die Frauen doch ihm nachlaufen.
Dieser Film ist Fiktion, da darf ein Rollen-Verdreher erlaubt sein, zumal damit nun die Wandlung der Hanna Leitner manifestiert wird: Sie findet Freude am Leben auf dem Berg. Hanna wird mutiger. Nicht nur, dass sie Doktor Otto Gross verführt, sie schnauzt auch einen lieben, alten Fotografen in seinem Atelier an, unten am See, was ihm einfiele, die Fotoplatten überteuert - in Wien sind die viel billiger - zu verkaufen. Da kommt die „Upper-Class-Frau“ durch, die sich zwar nie um etwas so Profanes wie Geld kümmern musste, die aber genau die Preise und die Hierarchien kennt. Plötzlich ist sie wieder die Ehefrau eines Mannes, der ein Fotoatelier in Wien besitz und Porträtfotograf ist.
Im Folgenden passt sich Hanna an. Sie kleidet sich nach Reform-Mode schlicht und weit, sie lässt ihre Haare offen hängen, sie duscht im Freien unter den bis heute im Freien auf dem Monte Verità stehenden Freiluftduschen, sie durchstreift die herrliche, wilde Gegend. Ja, es sind auch die Landschaftsaufnahmen, die sehr authentisch wirken und es wohl meistenteils auch sind, die einem Freude machen. Wer den Monte Verità kennt, weiß, dass es auch heute noch eine herrliche Gegend ist. Man kann Hanna verstehen.
Hanna besucht Lotte in ihrer halb-verfallenen Hütte - Lottes Höhle, Lottes Hölle - abseits der Kolonie. „Wer bist du? Vermisst dich niemand?“, fragt Hanna. Hanna und Lotte werden Freundinnen. Manchmal ist Lotte klar bei Sinnen, manchmal fantasiert sie. Sie lebt in zwei Welten, mit bipolarer Störung, mit Schizophrenie, gespalten ... Aber niemanden interessiert es auf dem Berg, niemand, der sich ihrer Krankheit annimmt. Hätte sie es gewollt? Einmal bittet Lotte den Doktor um Tabletten, der lehnt ab. Noch.
Lottes Welt ist diese herrliche Landschaft rund um den Monte Verità. Donnernde Wasserfälle, Felsplateaus, von denen der Blick weit hinunter zum Lago Maggiore geht. Hanna lässt sich von Lotte in den tiefblauen Bergsee ziehen, beide genießen das bewegungslose Ruhen auf dem Wasser, mit weit ausgebreiteten Armen, das Zusammenliegen auf einem Felsen, Lotte küsst Hanna, ... Freiheit ist so schön.
Und dann kommt das ins Spiel, was man den roten Faden des Films nennt: der Fotoapparat. „Kamera“ wäre ein viel zu profanes Wort für so ein wunderbares Gerät. Hanna entdeckt einen Fotoapparat bei Ida, und sie beginnt zu fotografieren. Das kennt sie, ihr Mann ist Fotograf, sie hatte sich ja sogar in Wien der Kamera ihres Mannes bemächtigt und ihre Töchter aufgenommen, was schief ging, da der Mann dahinterkam. Aber nun ist sie frei. Sie kauft Fotoplatten und hat ein Ziel: Ida Hofmann möchte eine Ausstellung über den Monte Verità machen, um der misstrauischen Bevölkerung zu zeigen, dass der Monte Verità gar nicht so mysteriös ist, wie er oft dargestellt wird. Das hatte nämlich Erich Mühsam verbockt, der im Jahr 1905 ein Büchlein mit dem Titel „Ascona“ herausgebracht hatte, in dem der Berg und seine Bewohner von ihrer liebenswürdig-verschrobenen Weise dargestellt werden. Dieses Bild soll korrigiert werden. Ida, die Streitbare, verfasst zudem in dieser Zeit weitere Schriften als Antwort auf Diffamierungen über ihr Projekt. Nun soll also Hanna helfen, mit ihren Fotos die Wahrheit zu zeigen.
Wie lächerlich Erich Mühsam die Kolonie in seinem Büchlein gemacht hat, soll mit dem ersten Auftritt Hermann Hesses im Speisesaal des Sanatoriums bewiesen werden. „Meine Damen und Herren, Hermann Hesse!“ Nun endlich tritt Hermann Hesse auf, der in der Werbung zu dem Film als einer der Protagonisten eingeführt wird. Er soll ein Zugpferd werden, das ist klar. Dazu wird nun wieder Erich Mühsam bemüht, denn Hesse hätte genauso gut aus eigenen Schriften zitieren können, war er doch mit Gusto Gräser zusammen gewesen und hat später einige recht eindrucksvolle Geschichten über die Alternativen, die Aussteiger, die Verlorenen geschrieben. Aber nun deklamiert er aus Mühsams Ascona, sozusagen als Vorspeise. Die Hausgäste sitzen am Esstisch und sind maßlos erheitert. Ihre Nahrung, wegen der sie ins Sanatorium gekommen sind, für die sie - auch wenn das Essen mehr als frugal ist - viel Geld zahlen müssen, bleibt ihnen vor Lachen im Halse stecken, lässt doch Mühsam kein gutes Haar daran. Mühsam hätte es wiederum amüsiert und sich gefreut, war es doch sein Anliegen, zu provozieren. Vielleicht hat er ja Hermann Hesse - der 1907 erstmals auf den Monte Verità und ins Sanatorium kam - auch zu der Kritik an den Aussteigern aufgerüttelt.
Dem Regisseur ist diese Szene im Speisesaal wichtig; damit führt er Hesse nun als klein, drahtig und in Knickerbockern in den Plot ein. Später sehen wir Hesse auch „nackert“, auf einem Felsen, diskret von hinten, bildschön, muskulös, die Hände weit ausgebreitet und der Sonne entgegengestreckt. Freiheit ist so schön! „Der Rausch der Freiheit‘ (so der Untertitel des Films) hat auch Hermann Hesse erfasst.
Hanna Leitner fotografiert sie alle: Hesse und den Doktor, Lotte und Ida, all die Tänzer und Tänzerinnen, auch Isadora Duncan - die erst 1913 auf den Monte Verità kommt -, all die Berauschten, die nachts ums Feuer hüpfen, tanzen und springen. Nur für Hanna ist es Arbeit, sie hat die Ausstellung im Blick. Nachts entwickelt sie die Platten in chemischen Bädern, bei Rotlicht. Da passiert ein Missgeschick. Sie stößt an eine Lampe, die explodiert, die Hütte brennt. Mit Wassereimern wird gelöscht. Die auf einer Leine zum Trocknen angeklammerten Fotos verkohlen. Auch Hannas Hände zeigen Brandspuren.
Doch für Ida, die Disziplinierte - die die Bewohner und die Gäste auf dem Monte Verità auch mit ihren Klavierkonzerten beglückt, da sie ausgebildete Pianistin ist und zudem gerne aus ihren eigenen Schriften referiert -, ist Aufgeben keine Option. Hanna muss alles und alle noch einmal fotografieren. Und jetzt ergreift auch sie der Rausch des Berges. Ihre Fotos werden verschwommener, verwischter, lebhafter. Das ist nicht einem Dilettantismus geschuldet, sondern ihrem Stil, der da heißt, den Rausch der Freiheit in bewegten Bildern darzustellen. Die Menschen auf den Fotos beginnen zu leben, sie strahlen Freude, Unbeschwertheit, Glückgefühle und Unabhängigkeit aus. So will es auch Ida. Das ist die Therapie des Berges und des Sanatoriums.
Hanna weist ihre Protagonisten und Protagonistinnen an, sich natürlich bewegen. Lotte, immer wieder Lotte ... Nur das Gruppenbild auf der Wiese vor dem Haupthaus des Sanatoriums, dieses legendäre Haus mit den beiden Freitreppen rechts und links - die immer noch existieren - ist starr, ist statisch. Hier stehen die Fotografierten in gehörigem Abstand zueinander (so richtig corona-konform). Es zeigt, dass sie zwar alle auf dem Monte Verità ihre Befreiung proben, doch jeder und jede anders. So wie es viele unterschiedliche Gründe gibt um die Jahrhundertwende, Kritik an der Zivilisation zu üben. Vertreter einer jeden Reformbewegung sind hier zu finden. Verändert kommen sie alle zurück, bereichert hat der Monte Verità die meisten; nicht alle.
Hannas Schnappschüsse zeigen Profi-Arbeit. Am Schluss hat sie alles „im Kasten“. Die Ausstellung ist perfekt, sie wird an großen Stellwänden unten in Locarno gezeigt. Hanna Leitner ist eine wahre Fotografin geworden, auf Augenhöhe mit ihrem Mann. Chapeau! Sie hat ihre Leidenschaft entdeckt und ausleben können, sie hat ihre Profession gefunden.
Aber das Glück hat seinen Preis. Hanna wird klar, dass - was eigentlich jeder schon wusste, nur sie war blind gewesen - Doktor Otto Gross unter freier Liebe „freien Sex“ versteht. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Auch Santa Lotte entschwindet aus ihrem Leben. Sie, die auf dem Monte Verità zwischen Leben und Tod gewandelt war, die Bürgermeisterstochter aus Berlin und Mitbegründerin der Kolonie auf dem Berg im Jahr 1900, die ausgezogen war, um Selbstbestimmung und freies Leben zu versuchen, sie leidet unter psychischen Störungen unterschiedlicher Art, für die sich nicht einmal der Doktor verantwortlich fühlt. Eigentlich ist er ja auch auf dem Monte Verità, um sich von seiner Drogensucht zu kurieren, doch das klappt nicht; er setzt sich wieder eine Spritze. Lotte, die ihn mehrmals um etwas „zum Sterben“ gebeten hat, die suizidgefährdet ist und eigentlich nicht Sterbehilfe, sondern psychiatrische Hilfe bräuchte abseits des Berges (im realen Leben kommt ihr Vater und will sie mitnehmen, aber sie zieht es vor zu sterben), hat dann doch von dem Doktor die entsprechenden Tabletten bekommen. Das ist sein Beitrag zur Emanzipation. Jahre später wird er sagen, dass Lotte sowieso gestorben wäre, sich vielleicht von einem Felsen zu Tode gestürzt und noch lange unter Qualen gelitten hätte, wenn er ihr nicht das schnell wirkende und sie erlösende Mittel gegeben hätte. Der Doktor als Herr über Leben und Tod, er hilft Lotte, die ihn wieder einmal um das Mittel bittet, das sie braucht.
Hoch oben auf einem flachen, steinigen Felsplateau über dem Lago Maggiore findet Hanna ihre Freundin Lotte, deren Körper schon viele Wunden aufweist, die sie sich selber zugefügt hat. Diese Lotte stirbt nun langsam, aber sehr zivilisiert. Keine Krämpfe, kein Leiden, und mit den letzten Worten (letzte Worte muss es geben, wenn man so eindrucksvoll stirbt) an Hanna gerichtet, in deren Armen sie stirbt: „Versprich mir, dass du nie aufhörst zu fotografieren.“ Nichts täte Hanna lieber, als dieses Versprechen einzulösen. Hanna liegt neben der Sterbenden und weint. Ihr Verhältnis zu Lotte war zwiespältig gewesen. Sie bewunderte die Freundin ob deren Unabhängigkeitswillen und Lebensphilosophie, gleichzeitig ist ihr die junge Frau ein Rätsel geblieben. Lottes Asche wird in den Wind über dem Monte Verità verstreut.
Doch Hannas Freiheit ist bedroht. Ihr Mann und die beiden Töchter treffen in Locarno ein. Die Mädchen werden von der Mutter ferngehalten; der Vater hat Angst, dass die Mutter sie beeinflusst. Hannas Mann hat noch einen großen Auftritt. Er will seine Frau zurückholen; das ist verständlich und ehrt ihn. Er und Hanna machen einen Bootsausflug vor der Skyline vonAscona. Er rudert, sie sitzt als „grande dame“ in ihrer „goldene-Käfig-Kleidung“, d.h. Rüschenkleid und Tellerhut (wo hat sie das so schnell her, aufbewahrt in der Hütte für den Fall der Fälle?) im Boot und verteidigt sich. Leider kommt nun kein Windstoß und reißt ihr den Hut vom Kopf. Unterwirft sie sich, geht sie zurück nach Wien? Nein, sie bleibt.
Eine ihrer Töchter besucht sie in ihrer Casa auf dem Monte Verità. Das während des Streits um das selbstermächtigte Fotografieren seiner Frau zerrissene Foto der Töchter wird mit Hansaplast zusammengeflickt. Es gibt eine Chance auf Heilung. Am Ende des Films hat Hanna kurze Haare, ein Zeichen von Selbstfindung. Sie geht ihren Weg, auch wenn sie damit ihre Töchter der Welt in Wien überlässt. Etwas egoistisch mutet das an, und so kann man nur hoffen, dass ihre Töchter später dem emanzipatorischen Weg der Mutter folgen.
In diesem Film, der im Jahr 1906 spielt, werden Protagonisten und Protagonistinnen zu einer Gemeinschaft zusammengestellt, die es in dieser Form nie gab. Außerdem fehlen einige, die dem Film Würze gegeben und die Atmosphäre auf dem Berg und im Film bereichert hätten: Gusto Gräser, sein Bruder Karl und dessen Frau Jenny, Käthe Kruse (ja, die mit den Puppen, die zur gleichen Zeit auf dem Berg, allerdings außerhalb der Kolonie lebte), Erich Mühsam und Johannes Nohl, die nachgewiesenermaßen 1906 in Ascona waren, Kommissar Rusco, der die Bewohner des Berges beobachten ließ. Ein historisches Drama will der Film sein - fürwahr, manches in dem Film ist historisch, manches dramatisch; aber auch nur manches.
Beliebt ist bei Dokumentarfilmen, im Abspann vom weiteren Werdegang der im Film gezeigten Menschen zu berichten. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven gehen 1920 nach Brasilien und wollen dort eine Kolonie aufbauen. Im gleichen Jahr stirbt Doktor Otto Gross. Von ihm ist zu lesen, dass er, der Sigmund Freund nahestand, von diesem verstoßen wurde, aber viele, viele Jahre später „rehabilitiert“ wurde. Was darf sich der Zuschauer, der nicht die gefühlten 100 Bücher über Otto Gross gelesen und nicht die Kongresse der Otto-GrossGesellschaft besucht hat, darunter vorstellen? Nehmen wir den Begriff ernst, so meint er, dass das gesellschaftliche Ansehen wiederhergestellt wird. Doch welche Autorität hat ihn rehabilitiert?
Aber das alles bleibt dem Interesse der Zuschauer des Filmes überlassen. Einen Anstoß könnte der Film allemal geben, sich nicht nur mit dem realen Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch mit der Lebensreformbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts und zudem mit dem „Phänomen Monte Verità“ zu beschäftigen. Denn dass dieser Berg ein Phänomen ist bis zum heutigen Tag, macht der Film deutlich.