„Vater der Alternativbewegungen“
Auszüge aus dem Buch von Bernd Polster
Die erste „Jugendbewegung“ … fand die passende Antwort auf eine
tyrannische und verlogene Gesellschaft und deren höchst ungesunden Lebensstil.
Walter Gropius, der damals am Gymnasium Steglitz kurz vor dem Abitur stand, war
allerdings nicht daran beteiligt. Wie es der historische Zufall wollte, gingen
zur selben Zeit just an seiner Schule noch weitere Ungeheuerlichkeiten vor
sich: Einer der Lehrer, Ludwig Gurlitt, bei dem Gropius Griechisch hatte, war
der Meinung, er solle die Persönlichkeit seiner Schüler beachten, und pflegte
einen kameradschaftlich-unmilitärischen Ton. Gurlitt war ein Pionier der
Reformpädgogik. Auch dies hat Gropius später nie erwähnt, obwohl das Bauhaus
doch selbst von staatlicher Seite als reformpädagogisches Experiment angesehen
wurde und dies auch war. Die Reformpädagogik, ein sehr wichtiger Zweig der
Reformbewegung, war der Gegenentwurf zur wilhelminischen Lernkaserne.
Die Wandervögel blieben keineswegs die einzige Alternativbewegung,
sondern gehörten vielmehr zu einer schier unübersehbaren Vielfalt von
Initiativen, die so lose miteinander verbunden waren, dass es fahrlässig wäre,
von Gleichgesinnten zu sprechen. Als einigendes und zugleich
identitätstiftendes Band diente ein zusammengesetzter Begriff, der schnell
Eingang in die Alltagssprache fand: die Lebensreform. Die damit etikettierten,
von Aussteigern, Propheten und Esoterikern geführten Gruppen und Grüppchen
fanden Anhänger wie auch öffentliche Beachtung. In dieser Untergrundvariante
des deutschen Vereinswesens gab es Antialkoholiker, Naturheilkundler,
Vegetarier und Nacktkulturisten, aber auch Bioanbau, Tanz und Tierschutz. Als
geistiger Überbau dienten Weltanschauungen und esoterische Lehren, die aus
allerlei religiösen Versatzstücken bestanden und wie bei den Altreligionen mit
Regeln und rituellen Praktiken verbunden waren. Zu den bekanntesten gehörten
die Theosophie, die Anthroposophie und die Mazdaznan-Sekte. Sie waren damals
weit verbreitet und später sämtlich am Bauhaus präsent (29ff.).
Als deren Urahn gilt ein gewisser Gustav „Gusto“ Gräser, Jahrgang
1879. Er hatte sein Kunststudium und sein bürgerliches Leben aufgegeben, um
Prophet zu werden. Sein Name ist eng mit dem des Monte Verità verbunden, jenem
im Tessin gelegenen heiligen Berg der Naturisten und Lebensreformer. … Gräser
lebte dort zeitweilig in einer Höhle und wurde schließlich zum Prototypen des
langhaarigen und barfüßigen Naturapostels, ein jesusähnlicher Erlöser, dem sich
der etwa gleichaltrige Schriftsteller Hermann Hesse anschloss. … Er war der
lebende Übervater des Erlösermilieus, den jeder kannte und der selbst alle
wichtigen Erlöserkollegen persönlich kannte, darunter auch Muck-Lamberty sowie
Harry Wilde und Theodor Plievier, zwei aus der Gruppe der
„Christrevolutionäre“. … Beide sind später erfolgreiche Schriftsteller
geworden. Plievier gab die Zeitung Weltenwende heraus, in deren erster
Ausgabe Hermann Hesses Zarathustras Wiederkehr veröffentlicht wurde, und
gründete in der Nähe von Stuttgart eine utopische Siedlung (210f.).