DIE WURZELN DER WELT
Eine
Philosophie der Pflanzen
Ein italienischer Denker, von der Biologie herkommend,
lehrt uns die Welt mit anderen Augen sehen.
Auszüge
aus dem Buch von Emanuele Coccia:
Die wahren Vermittler sind
die Pflanzen: Sie sind die ersten Augen,
die sich auf die Welt gelegt und sich geöffnet haben. Sie sind die
eigentlichen Macher unserer Welt.
Die Ersten, die die Erde
besiedelten und bewohnbar machten, waren Organismen, die zur Photosynthese
fähig waren. Die Photosynthese ist ein großes atmosphärisches Labor zur
Umwandlung von Sonnenenergie in lebendige Materie.
Die Photosynthese ist der
kosmische Prozess des Fließendmachens des Universums, eine Aktion der
wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Umwelt, Körper und Raum, Leben
und Milieu.
Wir können nicht in einem fließenden Raum sein, ohne allein
dadurch bereits die Realität und die Form der uns umgebenden Umwelt zu
verändern. In-der-Welt-Sein bedeutet zwangsläufig
Welt machen.
Die Luft, die wir atmen, ist tatsächlich der Atem anderer Lebewesen. Wir
ernähren uns tagtäglich von den gasförmigen Ausscheidungen der Pflanze, wir
können nur vom Atem der Anderen leben.
Die Atmosphäre ist unsere erste Welt, das Milieu, in dem wir vollständig
eintauchen: die Sphäre des Atems.
Einatmen heißt, die Welt in uns kommen zu lassen – die Welt ist in uns
-, und Ausatmen heißt, sich in die Welt zu werfen, die wir sind.
Die Welt ist kein Ort; sie ist der Zustand des Eingetauchtseins von
allem in allem anderen, die Mischung.
Atmen heißt,
sich von der Welt durchdringen zu lassen, um die Welt zu etwas zu
machen, was auch aus unserem Atem besteht. Alles atmet, und alles ist
Atem, da alles sich gegenseitig durchdringt.
Jede Aktion ist Interaktion oder besser: gegenseitige Durchdringung und
Beeinflussung.
In der universellen Mischung ist die Wirkung immer in der Lage, ihre
Ursache zu verändern, die stets in ihr ruht. In der Mischung ist die Kausalität
immer bidirektional.
Die Erde ist die einzige
höhere Instanz, in deren Namen es wieder
möglich wird, universelle Entscheidungen zu treffen, die nicht eine
bestimmte Nation oder ein Volk betreffen, sondern die Menschheit insgesamt. “An
der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste”.
Eine autonome Erde gibt es nicht.
Die Erde ist von der Sonne nicht zu trennen. Der Himmel ist nicht das,
was oben ist, der Himmel ist überall. Alles, was passiert, ist himmlisches
Ereignis, alles, was geschieht, ist ein göttliches Faktum. Gott ist nicht mehr
anderswo, er fällt zusammen mit der Wirklichkeit der Formen und der Zufälle.
Die Erde ist ein Himmelskörper, und alles ist Himmel in ihr.
Nichts ist weltlicher, kosmischer als die Sexualität.
Die Begegnung mit dem anderen ist immer notwendigerweise
eine Vereinigung mit der Welt.
Wo es eine Form gibt, gibt es auch einen Geist, der die Materie
strukturiert, das heißt, die Materie existiert und lebt als Geist. Die Vernunft
ist das, was allem Existierenden Form gibt; nach festgelegten Regeln steuert
sie von innen heraus die Welt
und ihr Werden.
Gekürzt
aus Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen.
Carl
Hanser Verlag, München. 5. Auflage 2018
Kommentar: Dies ist ein tollkühnes
Buch. Ein Buch, das unser Weltbild auf den Kopf stellt. Oder eher noch: auf die
Füße. Wir müssen nicht alles richtig
finden, was Coccia sagt. Aber soviel ist klar: er geht von Tatsachen, von
grundlegenden Tatsachen aus. Dass wir unser Leben den Pflanzen verdanken, ist
nicht zu leugnen. Dass dieses Leben in einem ständigen Austausch besteht, aus
Einatmen und Ausatmen, aus Einnehmen und Ausscheiden, ebenso wenig. Und dieser
Prozess ist ein Kreislauf: das Ausgeatmete kehrt zu uns zurück, das
Ausgeschiedene essen wir. Innenwelt und Außenwelt sind nicht zu trennen. Coccia
spricht von Mischung und von gegenseitiger Durchdringung. Wir können uns nicht abtrennen von der
Umwelt. Es gibt keine „Umwelt“, wir sind sie. Sie ist in uns, und wir sind in
ihr. Damit hebt Coccia die Trennung von Mensch und Welt auf,
die unsere Tradition seither bestimmte. Nicht erst seit dem deutschen
Idealismus „war alles, was man als Geisteswissenschaften bezeichnet,
eine so deprimierende wie verzweifelte Anstrengung, aus dem, was der Erkenntnis
zugänglich ist, jeden Naturbezug zu tilgen“ (Coccia 32). „Durch die Reduzierung
der Natur auf das, was dem Geist (also dem angeblich Menschlichen)
vorausgeht“, sei die Natur zwangsläufig zum rein residualen Gegenstand
umdefiniert worden, zum unappetitlichen Rest. Coccia macht uns klar, dass diese
Einstellung nichts anderes war als Arroganz. Er moralisiert nicht, er
zeigt uns, was ist. Er baut eine Ontologie, die besser fundiert ist als
die von Heidegger, nämlich auf den Befunden der Biologie, der Geologie, der
Naturwissenschaften überhaupt. Coccia hat aber dazuhin den Mut, das
Kästchendenken der Fakultäten zu sprengen, er verbindet am Ende Wissenschaft,
Philosophie und Poesie. Eine Schwäche
hat allerdings sein bahnbrechendes Werk: Begriffe wie „Mischung“ und
„Atmosphäre“, die er in den Mittelpunkt stellt, sind viel zu farblos und zu
alltäglich, um seine Weltsicht attraktiv und einsichtig zu machen. Mischung
bietet jeder Teeladen, Mischung handhabt jeder Maurer. Das treffende Wort für
sein Denken wäre erst noch zu finden. Oder ist es vielleicht schon
da? Gibt es einen Dichter, der ihm auf
die Sprünge hilft? Jedenfalls gibt es diese Verse:
voll
ewigkeitdurchwiegtem Pflanzentraum! Weltmeistrin
Pflanz – die wilde kann's, kann
ohne uns urlustig sonnwärts steigen zu schwingezweigen
ihren Lebensreigen voll
Harmonie, voll Urgenie, wir,
„Kron der Schöpfung“, nimmer ohne sie mit
ihren Bienen, Vögeln, Wonnetieren, die
Wildwohl uns ins Herze musizieren! Mit
ihnen auf, hah, ihnen auf! * So wacht, erwacht vom Alp:
Beherrschungstraum - lasst werden, sein - lasst bummelbäumen unsern
Lebensbaum zum Sternenreihn! * Er – Sie – Sie-Er ist's,
was die Welt durchweht, im Wirweltwirbel sie
gewaltig dreht, durch dessen AUM – Urodem –
Seelengeist, sie schwebekreist. * Innres
schwellt, wird Aussenwelt, Draussen
fällt ins Drinnnen - ineinander
quillt und wellt, ringend
lebt die Wonnewelt! * Miteinanderstreben, Miteinandergehn,
Miteinanderleben – Brüder, das ist schön! In die Welt nur schauet, andres seht ihr keins, als dass alles Viele werden will AllEins. * Du – nit so stolz – komm, nimm und gieb dein
Teil! Nur mitzuleben ist des
Menschen Heil! Schau – ist das Leben nit ein
Ringereihn? Ein liebelustiges
Beisammensein? Jed Stäublein stiebt und
wippt um sein Gespiel und jedes Blümlein liebt sein
Blümlein viel. Und jeder Stern hat vielviel
andre gern – Du – nit so stolz, tanz mit
auf diesem Stern! Einsam steht nichts, was lebt
auf Erdenflur: Das Miteinander lebt - das Miteinander nur! * Ein
Feld, ein Wald, ein Garten ist die Welt und
wer sie spaltet, der wird selbst zerspellt. Wo
lebt Exeiner, wo Exandrer, wo? - Ich kenne Keinen! Was
lebt, das lebt durch Ineinander froh! * Auch
Hunger ist Urliebgeflamm, aus
Liebe frisst der Wolf das Lamm. * Wo
doch mit Dir herzhaftiglich gesellt, hinfällt
all Einzeltrug, Grund allem Zwist, in
Paarung fällt, in: Ineinanderwelt, die
ewig ist. * Drum
ungetrübt gelassen schau, jah freudenhell, schau
Löw-Gazell du springen, ringen, voll
Wildrausch ineinander sich verschlingen im
Lebenstausch - - - wie
unser Erdstern, der in Polung ringt, im
Tauscherausch Urheilerholung trinkt! * Und
wie's im Wald zusammenklingt, wo
Eins das Andre liebt und schlingt, zumfressengern
- da
reift Heilkern - hah, nur getreu, so schlingt
auch uns der Wonnedrang voll Tieferquick zum
großen Ineinanderschlang voll
Mussmusik! * Es sind Verse von Gusto Gräser, die eben das auf poetische Weise aussagen, was Coccia auf seine Weise philosophisch ausführt. In seinen Kernworten sammelt sich und wird zu Musik, was der Denker in nüchterne Begriffe fasst:
|