Das
Staatspolitische Handbuch wird herausgegeben vom Institut für
Staatspolitik (IfS), einer privaten Einrichtung, die nach eigenen
Angaben als Organisations- und Aktionsplattform für neurechte
Bildungsarbeit dienen soll. Es gilt als Denkfabrik der Neuen Rechten.
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Schweiz, oberhalb von Ascona am Nordufer des Lago Maggiore
Nach Nietzsches (---> Sils-Maria)
Auffassung kommt der Mensch in Berlin »ausgelaugt und abgebrüht zur
Welt«. Wer den Menschen finden wolle, wie er eigentlich sei, würde
nur in »abgelegenen Gegenden, weniger bekannten Gebirgstälern«
fündig. Diese Auffassung war bei Nietzsche im Zusammenhang mit der
lehrreichen und charakterbildenden Möglichkeit des Reisens
verbunden. Deshalb empfahl er die Reise zu den »sogenannten wilden
und halbwilden Völkerschaften, namentlich dorthin, wo der Mensch das
Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen hat«. Es ging
um den eigentlichen Menschen, der noch unverdorben von der
Zivilisation sei. Der passive Charakter ist bei Nietzsche
unübersehbar, und es fehlt noch einiges bis zu Rilkes Forderung: »Du
mußt dein Leben ändern.« Doch aus beidem formte sich um die
Jahrhundertwende eine radikale Variante der Lebensreformbewegung (---> Hellerau. Hoher Meißner), die man als Aussteiger oder auch Sezessionisten bezeichnen könnte.
Ihnen
ging es nicht darum, das vorgefundene Leben zu verbessern und moderne
Fehlentwicklungen zu korrigieren, sondern um den totalen Gegenentwurf. Im
Gegensatz zu den Großideologien, die, sich in dem Glauben wähnend,
die richtige Idee zu haben, ganze Völker umkrempeln wollten,
beschieden sich die Aussteiger mit sich selbst und den wenigen,
die sich ihnen freiwillig anschlossen. Gerade in dieser Individualität
lag aber auch die Gefahr, sich gegen die Gesellschaft nicht
behaupten zu können. Deshalb ging diese Selbstformung des eigenen
Ichs meist mit dem Auszug aus der Stadt oder gar der menschlichen
Gemeinschaft überhaupt einher. Der neue Ort mußte klimatisch mild und
vom Boden her möglichst fruchtbar sein, wenn man von der modernen
Welt so unabhängig wie möglich sein wollte. Nicht
nur Selbstversorgung stand auf dem Programm, sondern
allen modernen Verstellungen des Menschen sollte abgeschworen
werden. Die Palette reichte von
Freikörperkultur,
Reformkleidung, Vegetarismus bis zu den weniger praktischen Dingen wie
Glaubensvorstellungen, die sehr heterogen ausgeprägt sein konnten.
Dementsprechend
groß war die Vielfalt der Formen und Wege, welche die Aussteiger
wählten. Der Franke August Engelhardt war der Überzeugung, daß nur die
ausschließliche Ernährung mit Kokosnüssen (der Frucht, die der
Sonne am nächsten ist) sicherstellen würde, daß er irgendwann
allen leiblichen Bedürfnissen entsagen und so unsterblich
würde. Deshalb wanderte er nach Deutsch-Neuguinea aus, erwarb eine
Insel mit Kokosplantage und setzte seine Idee in die Tat um. Seine
Anhängerschaft, um die er mittels Briefen in Deutschland warb,
blieb überschaubar. Er selbst hatte mit Mangelerscheinungen zu
kämpfen und verstarb nach dem Ersten Weltkrieg. Ein anderes
Beispiel ist der Märker Gustav Nagel. Auch er ließ sich die Haare
wachsen, trug im Winter keine Schuhe und im Sommer möglichst wenig
Kleidung. Er zog durch die Lande, um eine naturverbundene
Lebensweise zu predigen, errichtete in Arendsee (Mark) eine
Heilanstalt mit Tempel, wurde kurzzeitig entmündigt, um dann seine
Predigten fortzusetzen und nach dem Zweiten Weltkrieg in
einer Nervenheilanstalt zu sterben. Auch diese Aussteiger hatten
das Ziel, den Ort ihrer Unternehmung zum Ausgangspunkt und Zentrum
der Erneuerung des Menschen zu machen. Daß dies nicht gelang, lag
nicht nur an den esoterischen Inhalten, sondern auch an
den menschlichen Unzulänglichkeiten, die bei einem so
aussichtslosen Kampf zum Vorschein kommen. Aber auch die
Anziehungskraft der gewählten Orte war begrenzt.
Daß
ein Ort über konkrete Ideen und Personen hinaus zu einem Zentrum von
verschiedensten Aussteigern werden konnte, zeigt der Monte Verità in
Ascona. Dieser Berg hat schon immer Einsiedler und Aussteiger
angezogen. Deshalb ist die lebensreformerische Zäsur für die
Geschichte des Berges nur von untergeordneter Bedeutung. Aber
immerhin rührt daher sein Name. Der Sohn eines Fabrikanten, Henri
Oedenkoven, und seine Freundin, die Pianistin Ida Hofmann,
erwarben 1900 den Berg, der damals noch Monte Monescia hieß. Sie
benannten ihn um und errichteten auf dem Berg eine Naturheilanstalt,
die sie 1902 eröffneten. Hintergrund war die Krankheit
Oedenkovens, die dieser nur auf naturheilkundlichem Wege
überstanden hatte. Daher rührte sein Impuls, dieses
Verfahren weiterzuverbreiten. Die Anstalt sollte als »vegetabile
Kommune« organisiert werden und als »Licht-Luft-Bad« vor allem
Patienten und Erholungswillige anziehen. Zu den ersten Siedlern,
die gemeinsam mit den Käufern auf dem Berg ankamen, gehörten die
Brüder Gräser (---> München: Schwabing)
mit ihren Frauen, denen allerdings eher eine Kommune der freien
Liebe vorschwebte, da sie in den unfreien Geschlechterverhältnissen die
Wurzel allen Übels erblickten.
Die
Wege trennten sich daher bald. Die Gräsers sonderten sich mit ihren
Anhängern von der Hauptsiedlung ab, um ein Leben ganz im Einklang mit
der Natur führen zu können. Von dieser Sezession ging letztlich
der Impuls aus, der den Mythos des Monte Verità bis heute trägt. Die
zentrale Gestalt dieser Sezession war der Siebenbürger Sachse
Gusto Gräser, der durch den Landkommunarden und Maler Wilhelm
Diefenbach geprägt wurde, einer der bekanntesten Wanderprediger dieser
Epoche war und seine Spuren in vielen Werken hinterlassen hat.
Hermann Hesse war sein Anhänger, und so gibt es zahlreiche an
Gräser orientierte Weisheitsgestalten in seinem Werk, insbesondere
der Demian (1919) ist zu nennen. Aber auch bei Gerhart Hauptmann
(---> Agnetendorf)
finden sich Stellen, die an Gusto Gräser erinnern, so in seinem
ersten Roman, Narr in Christo Emanuel Quint (1910). Aber auch
Rudolf von Labans Ausdruckstanz ist von Gusto Gräsers
Mitternachtstänzen inspiriert.
Ablehnung
gab es natürlich auch. Nicht nur durch die alteingesessene Bevölkerung,
die das Treiben auf dem Berg mißtrauisch verfolgte, sondern auch durch
Gäste selbst. In der frühen
Zeit war es z.
B. der Anarchist Erich Mühsam, der sich auf dem Berg kurzzeitig
ansiedelte, dann aber eine scharfe Abrechnung verfaßte und sich wieder
der politischen Agitation zuwandte. Für die meisten Besucher blieb
der Berg, unabhängig von der politischen Ausrichtung, Quelle der
Inspiration. Max
Weber hat in Ascona seine Charisma-Lehre entwickelt und Ernst
Bloch den Geist der Utopie vollendet. Im Ersten Weltkrieg wurde
der Ort zu einem Sammelpunkt für Kriegsdienstverweigerer und
Pazifisten aus vielen europäischen Ländern.
Nach
der Pleite des Projekts von Oedenkoven kaufte 1926 der Bankier Eduard
von der Heydt den Berg, ließ ein noch heute existierendes Hotel im
Bauhausstil errichten und konnte den Ort so noch einmal beleben.
In den 1970er Jahren, als die wachsende Alternativszene nach
historischen Vorbildern suchte und in diesem Zusammenhang
die Geschichte der deutschen Lebensreformbewegung zu erforschen
begann, wurde der Berg wiederentdeckt. Entscheidend war dabei die
Ausstellung von Harald Szeemann, die in vielen deutschen
Metropolen gezeigt wurde und dem Berg einen zweiten Sommer
der Bekanntheit einbrachte. Im Haus der Gründer der Kolonie, der
Casa Anatta, ist sie noch heute zu besichtigen.
• Diese Seite wurde zuletzt am 26. Oktober 2016 um 18:24 Uhr geändert.
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Der Artikel wurde von Erik Lehnert verfaßt.
Farbige Hervorhebungen und Illustration von Hermann Müller
Literatur
- Kai Buchholz et al. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001.
- Martin Green: Mountain of Truth. The Counterculture begins - Ascona, 1900-1920, London 1986.
- Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983.
- Harald Szeemann (Hrsg.): Monte
Verità - Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur
Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Mailand 1978.