Ein Tanzschriftsteller aus Schwabing

Hans Brandenburg, geboren am 18. Oktober 1885 in Barmen, gestorben 1968 in Bingen, war ein mit Gräser befreundeter Dichter und Schriftsteller, der sich besonders um die Förderung des nach 1900 aufkommenden Ausdruckstanzes verdient gemacht hat. Seine biographischen Bücher über Dichter wie Goethe, Schiller, Hölderlin und Eichendorff waren zu seiner Zeit populär.

Brandenburg siedelte mit 17 Jahren nach München über. Dort wurde er von dem einflussreichen Kritiker Michael Georg Conrad gefördert. Er befreundete sich mit den jungen Dichterkollegen Will Vesper, Waldemar Bonsels, René Schickele und auch mit Gusto Gräser. Mit Leidenschaft verfolgte er das Aufkommen des neuen Ausdruckstanzes in Hellerau und Ascona, arbeitete mit Laban zusammen an einem Tanzspiel und kam dadurch im Sommer 1914 auf den Monte Verità, wo er auch als Tänzer in Erscheinung trat. Von ihm stammen das damals grundlegende Werk ‚Der moderne Tanz’ (1913) und  Aufsätze über Mary Wigman.  Im August 1914 trat der Dichter als Kriegsfreiwilliger bei den Pionieren in das Heer ein. Damit entfremdete er sich dem Geist von Gusto Gräser und des Monte Verità.

In den frühen Jahren, nach 1903, seit Brandenburg im Schwabinger Milieu als junger Dichter und Schützling von M. G. Conrad aufgetaucht war, muss seine Beziehung zu Gräser eine leidenschaftliche und begeisterte gewesen sein. Das geht aus einem Gedicht hervor, das Brandenburg Gräser geschenkt hat und das in dessen Nachlass in der Münchner Stadtbibliothek enthalten war, von dort aber noch zu Brandenburgs Lebzeiten entfernt worden ist. Dieses Gedicht ist zwar seinem Freund Will Vesper gewidmet; dass er es handschriftlich an Gräser übergab, besagt aber, dass er für diesen ähnliche Gefühle hegte. Da wird, mit  überschwänglichem Pathos, Freundschaft bis an den Rand des Grabes geschworen:

Das selbe wilde Blut durchtobt uns zweien
die Adern, und die selbe Leidenschaft
durchglüht uns heiß, daß oft gleich Feuerreihen
sprühn unsre Lieder der Verzehrung Kraft!
Drum sind wir eins! – Liebe und Freundschaft weihen
die Werke, die des Dichters Geist erschafft! - -
Wir sind uns treu, wie auch die Jahre seien,
bis einst des Grabes dunkler Abgrund klafft!

Die Freundschaft mit Gräser bewährte sich allerdings nicht bis zum Grabesrand. Als Gusto ihn eines Tages besuchen wollte, ließ Brandenburg sich verleugnen. Worauf ihm der Abgewiesene einen Zettel in den Briefkasten warf mit den Zeilen:

Sieh, Du willst den Mensch beschreiben –
kommt er, kann er draußen bleiben!

Im Sommer 1914 erlebte Brandenburg auf dem Monte Verità eine Glückszeit seines Lebens, als Dichter, als Tänzer und als umschwärmter Liebling der Frauen. Davon soll an anderer Stelle die Rede sein. Hier folgt sein Bild des „Fremdenheims“ im Süden, d. h. der Naturheilanstalt von Oedenkoven.

 

 Hans Brandenburg auf dem Monte Verità, Sommer 1914



Das Fremdenheim

Der Postwagen fuhr, das Städtchen [Locarno] hinter sich lassend, über eine breite Landzunge, die in den See vorstieß und die ihn, länger als eine Stunde, den Blicken entzog. … An Weingärten und Mauern vorüber erreichte man schließlich auf der staubigen Landstraße den nächsten Ort und von neuem den See, welch letzterer sich nur noch hinter Häusern verbarg, wie Hans Freytag nun, an seinem Ziele angekommen, ausstieg und die rohen Steinstufen eines Fußpfades hinanzuklimmen begann.

Dieser führte auf eine ausgedehnte, vielfach zerklüftete, ehemals fast nackte Felskuppe, die über dem Ort und dem See in breiter Welle den Hintergrund der höheren Berge schlug und auf der sich allerhand Siedler ansässig gemacht hatten, Leute aus aller Herren Länder, zum Teil Naturmenschen und Pflanzenesser, angelockt durch den mehr als billigen Preis des Bodens, auf welchem, so steinig er war, doch ein beinahe tropisches Wachstum sich entfaltete, wenn man ihm eine Schicht guter Erde auflegte. Von und nach den verschiedensten Seiten liefen ähnliche Steige, geröllig wie die Betten reißender Gebirgsbäche, in die sie sich bei Regen auch in der Tat verwandelten, so dass man dankbar sein musste, wenn man über die herausragenden Steine ziemlich trockenen Fußes durch die Fluten gelangen konnte.

An diesen Steigen lagen, weit sichtbar oder halbversteckt, größere oder kleinere Häuschen aus Stein oder Holz, meist inmitten von Obst-, Gemüse- und Baumpflanzungen, Bambusgehegen und Weingärten, und Reben spannen, an granitenen Säulen emporkletternd, an vielen Stellen grüne Dächer über den Weg, den überall niedrig geschichtete Cyklopenmauern säumten, aus welchen große Smaragdeidechsen wie grüne Blitze durch die Sonne sprühten. Schon auf halber Höhe dieses Berges hatte man das Städtchen unter sich, es lag einem mit seinen gestreckten Dächern und der ragenden Säule seines Kirchturms zu Füßen, als wäre es droben aus den Felsen herausgebrochen und dann hinabgeworfen worden, und dahinter entbreitete sich in langem Flusse der blaue See mit zwei kleinen Inseln und dem Rahmen der Berge. …

Überall, wo kein Garten war, wucherte allsogleich wieder die Wildnis über den nackten Fels, Farren und Moose, Krüppelbirken, Brombeersträucher und Preißelbeerkraut und immer wieder Edelkastanien. Diese bildeten schließlich zur Rechten wie zur Linken, wo sie den See und jeden Ausblick verdeckten, einen Hain, ganze Pfeilerbündel ihrer Stämme schossen zwischen den moosigen Blöcken des Felsens auf, und durch die gefiederten Laubmassen zog der Steig mit seinen beiden Mäuerchen eine tiefe, lauschige Gasse, die am Ende gegen ein Muttergotteshäuschen lief. Vielmehr war dies nur ein steinerner Sockel mit einem Dach, unter dem das Relief einer schwarzen Madonna, in leuchtendgelbem Kleide, den Jesusknaben hielt. …

Auf der Höhe des Berges nämlich lag, diesen bekrönend und beherrschend, ein großes Fremdenheim, das einem Herrn van Oovengaarde gehörte. Unter den mannigfachen Lufthütten und Sonderwohnungen, die außer dem Hauptgebäude für die Gäste bereit standen, befand sich ein weißes Haus, ein vieleckiger, flachgedachter, verbauter Kasten, der auf einem Felsen lag, von weitem selber wie ein Felsen, wie eine schimmernde Kreideklippe wirkte und den der Besitzer jenes Heims ursprünglich für seine Mutter errichtet hatte, um die alte, lebenslustige Dame für seine Ideen eines naturgemäßen Menschentums empfänglicher zu machen. Diese aber hatte die Behausung nur ein einziges Mal für einige Wochen bezogen, während welcher sie jenen weidlich verspottete, indem sie in dem weißen Naturtempel Schaumweingelage veranstaltete und dem Sohn täglich, ihn recht in Versuchung zu führen, ein Tönnchen mit Kaviar schickte, den dieser aber jedes Mal entrüstet in der dunklen Tiefe eines geheimen Örtchens

„Ein weißes Haus, ein vieleckiger, flachgedachter, verbauter Kasten, der
auf einem Felsen lag, von weitem selber wie ein Felsen, wie eine
schimmernde Kreideklippe wirkte.“
                                                                                                                         (Brandenburg)

verschwinden ließ, ohne dem kostbaren Nahrungsmittel zuvor den Umweg durch seinen oder irgend einen anderen Magen- und Darmkanal zu verstatten. Sie hatte auch einmal einem Vortrag des Sohnes über Pflanzenkost beigewohnt, in dessen Blockhaus, wo er mit einer ehemaligen Klavierkünstlerin lebte; der saalartige Hauptraum dieses Hauses enthielt als einzigen Schmuck eine dürftig-kleinliche Gipsgruppe „Adam und Eva“ und zwei, drei Bilder von ebenfalls weltanschaulicher Nacktheit, allerdings auch ein großes Gemälde, wie die Hausfrau zu jedem Besucher sagte, nämlich einriesiges, ungeteiltes Fenster, das den See in einem mächtigen Ausschnitt darbot. Jener Vortrag, der von der Hausherrin durch Harmoniumspiel eingeleitet worden war, hatte in der Feststellung gegipfelt, dass unter den Pflanzenköstlern dieses Berges noch niemals Kinderkrankheiten vorgekommen wären, doch die Mutter des Redners hatte, auf die bei dem Sohne und auch sonst meist fehlende Nachkommenschaft anspielend, eingeworfen, wo keine Kinder wären, da könnte es freilich keine Kinderkrankheiten geben, außerdem aber wären ihr Kinderkrankheiten mit nachfolgenden Leistungen lieber als Verhütung von Kinderkrankheiten mit gleichzeitiger Verhütung von Leistungen. Sie hatte dann lachend den Saal verlassen, verfolgt von einem ältlichen Fräulein, welche allerhand geheimnisvolle Zeichen über ihr in der Luft beschrieb, mit denen sie sonst Krankheiten auszutreiben und Geister zu beschwören suchte. Die unverbesserliche Mutter reiste auf Nimmerwiederkehr ab, den Sohn seiner Pflanzenkost überlassend, und die Zimmer ihres Hauses wurden vermietet, während der größte Raum darin leer stehen blieb und auf Hans Freytags Fürsprache für jene gelegentlichen Körperübungsstunden bei schlechtem Wetter von Herrn van Oovengaarde hergegeben wurde, zumal es meistens Gäste von ihm waren, die diesen Unterricht besuchten. Klärte sich die Luft plötzlich auf, so stieg man auf das flache Dach und setzte dort die Übungen fort, wo dann die bewegten Gestalten weithin auf dem Himmel gesehen werden konnten.

Er stieg … an den Mäuerchen entlang und aus deren Bereich über Felsstufen und Geröll auf einem dieser schmalen Steige zur Höhe hinauf; der Mittag lag stur, mit dem glasigen Auge des Sees, im Brutkessel der Berge, weiße Feuer schlugen aus den Birken und verloschen im Säulenschatten der Kastanienbündel, und die Echsen zuckten, grünfunkige Tagesirrwische, durchs Gestein.

„Der Speisesaal: ein Blockhaus für sich mit einer hohen
Freitreppe  und symbolischen Zeichen an der Front.“

Kurz vor der letzten Höhe ging die Wildnis in eine Anpflanzung aus Feigenbäumen, Kornelkirschen, Rosen, Oleander- und Granatbüschen über, die oberste Plattform aber bestand in einer rasigen Fläche, um die unter parkartigen Laubmassen das Heim, ein großer steinerner Bau, hölzerne Lufthütten und der Speisesaal lagen, letzterer ein Blockhaus für sich mit einer hohen Freitreppe und symbolischen Zeichen an der Front. Aus der offenen Türe hörte man schon fern ein allgemeines Nüsseknacken, zu welchem Geräusch Hans, wie zu einer Gebetsübung, mit kaum verkniffenem Lachen die Hände faltete, aber es nahten andere Nachzügler barbeinig und in härenen Gewanden aus den Bäumen und herauf aus den Felsen, unter anderen der weißbekuttete, langhaarige Herr van Oovengaarde selber und seine Klavierkünstlerin, die einen Stirnreif um die naturöligen Strähnen trug und die, gleich jenem, ein braunledern überzogenes Gerippe war. Drinnen saß man um runde Tische, auf deren jedem – eine sinnreiche Einrichtung – eine leicht überhöhte Drehscheibe die Speisen trug, so dass man sich bequem bedienen konnte. Die Haselnüsse, welche die Hauptnahrung bildeten, waren zwar zum großen Teile taub und die Gemüse, die ohne Wasser gekocht, vielmehr in ihrem eigenen Saft gedünstet wurden, ungesalzen, aber wem der selig machende Glaube an die natürlichen Pflanzensalze nicht genügte, der konnte sie nachsalzen, und die süßen Früchte, die es gab, waren wirklich reichlich und gut.

(Aus Hans Brandenburg: Das Zimmer der Jugend. Roman. Stuttgart Düsseldorf 1920, S. 307-315)