Geh lieber ins Reformhaus! Abgelebt: Das Museum auf dem Monte Verità wartet auf die überfällige Renovierung ASCONA, im Oktober In der wohlhabenden Schweiz, im reichen Ascona, auf dem villengesäumten Monte Verità wirkt die Anlage befremdlich: Kein Schild verweist auf das "Museo Monte Verità", nur Eingeweihte gelangen durch wucherndes Grün hierher. Der Zustand des Holzhauses, eine der interessantesten Wohnarchitekturen ihrer Zeit, ist erbärmlich. Teile der Verschalung sind verrottet, das Flachdach darf nicht mehr betreten werden. Die Ausstellung selbst ist seit 1981, als die Objekte nach Stationen in Berlin, Zürich, München und Wien hier sesshaft wurden, nicht mehr verändert oder aktualisiert worden. Fast alle Texte wirken unzeitgemäß, Beschriftungen sind verrutscht, vertauscht oder abgefallen, Fehler blieben unkorrigiert. Das Museum, das die geistesgeschichtlichen Grundlagen der europäischen Moderne beschreibt, befindet sich in einem desolaten Zustand. Der Eigentümer hat offenbar kein Interesse an der einst von Harald Szeemann eingerichteten Schau. Ende der siebziger Jahre war der Monte Verità eine große Entdeckung. Mit ihm bekamen alternative Gesellschafts- und Reformprojekte plötzlich Herkunft und Tradition, hatten doch sechs junge Leute aus Belgien, Deutschland und Österreich um 1900 auf dem Berg der Wahrheit ein alternatives Lebensprojekt begonnen. In Holzhütten wollten sie eine bessere Gesellschaft von Grund auf neu formieren. Der Berg der Wahrheit, wo zusätzlich in einem Sanatorium an der Zivilisation Erkrankte behandelt werden sollten, entwickelte in den ersten Jahren eine enorme Strahlkraft. Aus ganz Europa kamen Schriftsteller, Maler, Lebensreformer und Intellektuelle, die sich in den gründerzeitlichen Städten nicht mehr zu Hause fühlten, unter ihnen Hermann Hesse und Erich Mühsam, der später mit bösem Spott über die Lebensreformer schrieb. Das Experiment Monte Verità endete bereits in den zwanziger Jahren, als die Gründer den Berg und die von ihnen gebauten Häuser verkauften: das Sanatorium, das großzügige Wohnhaus der Gründer Ida Hofmann und Henri Oedenkoven sowie weitere Wohnhütten, so die heute noch erhaltene "Casa Selma" oder das "Russenhaus". Nach wechselnden Eigentümern kam das gesamte Areal in den Besitz der "Fondatione Monte Verità", an der der Kanton Tessin, die Gemeinde Ascona sowie die ETH Zürich beteiligt sind. Das Hofmann-Oedenkoven-Haus, genannt "Casa Anatta", wurde für Harald Szeemanns Ausstellung "Die Brüste der Wahrheit" hergerichtet. Sie dokumentiert die Geistesgeschichte des Berges in parallelen Erzählsträngen vom Anarchismus, der von Russland nach Ascona driftete, über die bürgerlichen Neuerungsbewegungen - Reformkleid, Reformarchitektur - bis zu den Tempel- und Freikulturideen des Zeichners Fidus. Als Mittelpunkt eines historischen Experimentes wiederentdeckt, das alle Bereiche des Lebens und Denkens umfasst hatte, wurde der Berg der Wahrheit zur Metapher für die kulturelle Modernisierung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Nun droht die Anlage selbst im buchstäblichen Sinne zur Metapher - sprich: substanzlos - zu werden. Die "Casa Anatta", das Wohnhaus der Gründer, beispielsweise gehörte zu diesen heute noch irritierenden Projekten, die gleichermaßen modern und anachronistisch wirken. Das Haus mit seinen anthroposophisch abgerundeten Kanten hatte bereits 1904 ein Flachdach erhalten, auf dem Ida Hofmann und Henri Oedenkoven ihre privaten Licht-Luft-Kuren auslebten. Siegfried Giedon beurteilte es 1929 in seiner Publikation "Befreites Wohnen" als Meilenstein auf dem Weg zum modernen Bauen. Doch die "Casa Anatta" verfällt zusehends. Die "Casa Selma" wiederum, das Doppelwohnhaus der Reformer, eine Dependance des Museums, ist meist geschlossen. Ihre Terrasse mit reformertypischem Knüppelgeländer scheint kaum noch sicher. Das "Russenhaus", am Hang unterhalb des Museums gelegen, ein Symbol des Einflusses der russischen Intellektuellen und Künstler auf die mittel- und westeuropäische Geistesgeschichte, steht leer und ist gänzlich heruntergekommen. Nur eine große Plane verhindert, dass Regen zum völligen Ruin der Holzarchitektur führt. Die ETH Zürich, die in dem benachbarten Hotel, Ende der zwanziger Jahre von Emil Fahrenkamp entworfen, ein Tagungszentrum betreibt, scheint diesen Niedergang zu ignorieren. Ausgerechnet eine der angesehensten Hochschulen Europas wendet sich ab von dem Ort, an dem folgenreich Wege in die Zukunft beschritten wurden. Der Kanton Tessin und die Gemeinde Ascona scheinen ebenso desinteressiert an einem Museum der Geistesgeschichte, das es in dieser Art kein zweites Mal gibt und das auch ein Vermächtnis des bedeutenden Ausstellungsmachers Harald Szeemann ist. In diesem Jahr hätte eine Sanierung beginnen sollen. Doch die Stiftung hat die seit Jahren überfällige Maßnahme wieder einmal verschoben. Selbst wenn im kommenden Jahr die Architektur endlich gerettet würde, bliebe viel zu tun. Für die Sammlung muss eine Perspektive entwickelt werden, damit Szeemanns Schau wieder die Zugkraft gewinnt, die sie einmal hatte. NILS ASCHENBECK |
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