Monte Verità - ewiger Glutkern und Mythos

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Das Mekka der Aussteiger von 1910 war ein Berg im Tessin

Die Alternativ-Bewegungen der 1970er Jahre bis heute, seien sie nun eher spirituell, ökologisch oder politisch motiviert, haben einen Vorläufer: die Aussteiger vom Monte Verità, dem »Berg der Wahrheit« im schweizer Tessin. Schon damals spalteten sie sich in kompromissbereite Realos und unerbittliche Fundis – Gegenpole gesellschaftskritischer Bewegungen bis heute
Von Ulrich Holbein

Wie entsteht ein Mythos? 1900 war Ascona nur ein Fischerdorf am Lago Maggiore, und rundum Wildnis. Dann kam eine Handvoll Aussteiger von München her an diesen Ort. Im Rückblick könnte man sie Landkommunarden, vorauseilende Öko-Freaks oder Früh-Hippies nennen. Sie suchten im Tessin ein Terrain, um sich aus der übertechnisierten Gesellschaft zurückzuziehen. In einem südlichen Arkadien wollten sie ein wahreres, schöneres, besseres Leben aufbauen und lebenslang durchziehen. Ihre mitgebrachten, gefundenen, lebensreformerischen, also vegetarischen, agrarischen, pazifistischen, nudistischen, sportlichen, grünen Ideale nannten sie »Wahrheit« und den gefundenen Ort »Monte Verità«. Man kaufte das Grundstück, begann Hütten zu bauen, Wege anzulegen, Bäume und Sträucher zu pflanzen. Neben klassischen heiligen Bergen à la Kailash (6714 m), Sinai (2285 m), Tabor (558 m), Knüllköpfchen (immerhin 475 m), ja selbst nur neben den Standard-Achthundertern und Zweitausendern am Lago Maggiore, wirkt der Monte Verità (150 m überm See; 350 m überm Meer) zunächst wenig hoch und steil, so als begnüge er sich, fast nur ein flach ansteigender Hügel der Wahrheit zu sein.

Realos und Fundis

Die kaum zehnköpfige Gründungsgruppe zerfiel bald in einen gemäßigten und einen extremen Flügel

Doch die kaum zehnköpfige Gründungsgruppe zerfiel bald in einen gemäßigten und einen extremen Flügel – so wie später bei den Grünen die Realos und die Fundis. Oder wie tausend Jahre vorher die Sufis in kühle Köpfe und ekstatische Geister, Vorwärtsschreitende und Hinangezogene. Der zwar langbärtige, aber ziemlich pragmatisch herangehende belgische Industriellen-, also Millionärssohn Henri Oedenkoeven und seine tatkräftige Lebensgefährtin, die Klavierlehrerin Ida Hofmann schwebte der Aufbau einer dann auch gewinnbringenden Genossenschaftssiedlung und Luftbad-Naturheilanstalt vor, nach dem Vorbild der Sonnenkuranstalt von Arnold Rikli 1855 in Österreich. Auf der anderen Seite standen die eher idealistischen Träumer, im wesentlichen die Brüder Karl und Arthur Gustav Gräser aus Siebenbürgen, die sich bald landesgemäß Carlo und Gusto nannten, bewegt von anarchistischen und kleinbäuerlichen Idealen, Tauschhandel statt Geldverkehr. Sie wollten dem Wahrheitsberg eher eine Art Wonneberg oder Freudenberg als naturlyrische Gegenmelodie entgegensetzen.

Was man mit späterem Vokabular »Gruppendynamik« nannte: Binnen Jahresfrist wurden die beiden Naturmenschen Gräser sowie auch das labile, religiös schwärmerische Hippiemädchen Lotte Hattemer an den Rand geschoben, wo sie eigene Parzellen mit Imkerei hochzogen, oder vertrieben, gefeuert, ausgemendelt. Die Realos sagten den Naturmenschen »utopische Gelüste und Fantasien« nach. Henri Oedenkoven: »Unsere Sache zieht leider viele dieser Naturmenschen an. Ich werde mir jetzt ein grobes Sieb zulegen, und kein Unpassender soll mir jetzt in meine Sache hineinkommen«. Ein Sanatorium entstand wie damals zig andere, mit den Zugaben: Nacktgehen im Luftbad und »freie Liebe«, worunter damals einfach nur kühne Trauscheinlosigkeit verstanden wurde.

Attraktion für Suchende

Der Monte Verità sprach sich bald sehr herum und lockte dutzende, hunderte, tausende Durchreisende an – Neugierige, Zaungäste, Suchende, Reporter, Kriegsgegner, Dadaisten, Theosophen, Kritiker und Künstler. Zum Teil siedelten die sich auch an: 1904 eine Anarchistengruppe um den Schriftsteller Erich Mühsam und den Psychoanalytiker Otto Gross, 1907 Hermann Hesse und die Tänzerinnen Isadora Duncan und Wigman. Der ungarische Tänzer Rudolf von Laban entwickelte am Monte Verità einen neuen Ausdruckstanz. Das ausgebaute Sanatorium kam allerdings ökonomisch und medizinisch nie so recht auf grüne Zweige. Trotz reichlicher Bezuschussung durch Angehörige, Sympathisanten und Gönner schleppte es sich Jahr um Jahr nur so dahin und musste 1920 die Pforten schließen.

Hier verbanden sich Psychoanalyse, Anarchismus, Pazifismus, Dadaismus, Feminismus, Theosophie und sexuelle Revolution zu einer einzigartigen Mischung

Aber der geomantische Ort, wenn nicht gar der bloße Name Monte Verità, hatte einen magnetischen bis magischen Sog, Hallraum und Nimbus erzeugt. So rückte er in den weiterstrahlenden Rang einer geistigen Urzelle der meisten der späteren alternativen Projekte auf, von Ökotopia über Findhorn, Auroville, Christiana, Rajneeshpuram, Utopiaggia, Damanhur bis Greenpeace und Peta. Die typische FKK wirkt gegen die exotischen und spirituell hinterfangenen Luft- und Lichtbäder des Monte Verità vergleichsweise förmlich blank, nüchtern, fotorealistisch, unexklusiv und auralos. Am Heiligen Berg verbanden sich Psychoanalyse, Anarchismus, Pazifismus, Dadaismus, Feminismus, Theosophie und sexuelle Revolution zu einer einzigartigen Mischung.

Beglückendes Nostalgiepaket

Über der Szene schwebten Nietzsche, Freud, Darwin, Rousseau, Meister Eckhart, Laotse und Madame Blavatsky. Kein Wunder, dass der Wahrheitsberg schlicht als »Narrenhaus« galt, als »Hauptstadt der psychopathischen Internationale«. Er bot und bietet allen, die im Grunde ebenso leben möchten, aber nie tatsächlich so leben wollen, weiterhin ein historisch beglückendes Nostalgiepaket aus Jugendstil, Lebensreform und antagonistisch seltsamen Persönlichkeiten, alles detailliert und anekdotisch dokumentiert im Quellenwerk »Ascona Monte Verità« von Robert Landmann, 1930, neu 1973. Man sehnte sich dorthin zurück, als wäre im Öko-Utopicum alles vorbildlich erfolreich und epochemachend verlaufen, umflort von braunstichigen und blaßfarbigen Photographien der damaligen Gründerväter und ihrer wechselnden Gäste. Gusto Gräser, die orginellste Zentralgestalt, ja Zentralgestirn, blieb seinen Jugendidealen lebenslang treu, noch bis in die fünfziger Jahre wanderte er als Prediger und Dichter durch deutsche Lande.

Keimzelle der Alternativbewegungen

Nach 1967 gipfelte die ewige Sub-, Gegen- und Jugendkultur aus in die Hippie-Bewegung und nach 1972 in die Alternativkultur. Nun zählte sie nicht mehr bloß Tausende, sondern Hunderttausende. Zeitweise lief praktisch jeder Beatnick, Easy Rider, Vietnam-Demonstrant, Jesus-Freak, Runaway, Straßenkünstler, Anti-Karrierist, Peace-Aktivist, Andersdenkender, Kernkraftgegner als ausgeflippte Farbfoto-Variante auf die ernstblickenden Naturmenschen von 1900 herum und die verlotterten Kiffer und Tramper mit Stirnband erinnerten sich an ihre würdigen Stammväter, Vordenker und Urgesteine vom Monte Verità. Die Landkommunen der siebziger Jahre scheiterten genauso regelmäßig wie schon ihre Vorgänger, die Monteveritaner, an harten landwirtschaftlichen Realitäten: Sie stießen ihre Bauernhöfe bald wieder ab und zogen zurück nach Berlin, Hamburg, München. Immerhin: Als die Hippies dann Familienväter wurden und Haare ließen, waren etliche liberale, linke, lebenspraktische, energiesparende und biodynamische Ziele und Tendenzen flächendeckend in allerlei Gesellschaftsschichten eingesickert.

»Barfüßige Propheten«

Erinnerungstücke der Gründungszeit wie knorzelige Wurzelholzstühle, verfertigt vom Imker und Fruchtkäsehersteller Carlo Gräser, wanderten ins Museo und in den reichbebilderten (vergriffenen) Katalog von Harald Szeemann: »Monte Verità. Berg der Wahrheit, Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie« (Katalog Akademie der Künste Berlin, 1978/84). Ein anderer Meilenstein über die vielen verschiedenen Heilsbringer, Wandervögel, Wanderprediger und Naturopropheten ist: »Barfüßige Propheten«, von Ulrich Linse, 1983. Zum besten Gusto-Gräser-Kenner und Gräser-Nachfolger, förmlich zu einem neu reinkarniert wandelnden Gusto Gräser entwickelte sich siebzig Jahre lang Hermann Müller, der das deutsche Monte Verità Archiv in Freudenstein bei Stuttgart aufbaute, einzelnde Dichtungswerke wie Gräsers Laotse-Nachdichtung »TAO – das heilende Geheimnis« in Buchform herausgab. Er stellte es auch ins Internet, sammelte und bewahrte alles wie ein wandelndes Lexikon und führte den Beweis, dass Gusto Gräser mit Hermann Hesse befreundet gewesen sei.

Entzauberung und Narrenspiegel

Zuletzt erschien bloß ein sehr nüchtern ernüchtendes Buch von Andreas Schwab: der Monte Verità aus ökonomischer Bilanzprüfer-Sicht, d.h. die analytisch akribische monitäre Entzauberung des schönsten Zauberbergs, und neuerdings, angesichts der Ausstellung der Monacensia München »Freie Liebe und Anarchie. Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben«, die noch bis zum 13. November 2009 geht, ein gleichnamiger Katalog in der edition monacensia, von Ulrike Voswinckel, darin auch Hermann Hesse als Nacktfrosch abgebildet.

Das Narratorium von Ulrich Holbein, das tausendseitige Monumentalwerk über 266 heilige Narren, Grazy Clowns, Madmen, Gurus und Fools (erschienen 2008, Ausschnitte davon über den 6. Dalai Lama, Jesus und Osho erschienen in connection 6/08, 10/08 und 11/08) legt einen Schwerpunkt auf diese Naturpropheten zwischen 1880 und 1950, darunter auch auf den Gesundheitsdenker Johannes Friedrich Guttzeit (1853–1935), den Extremvegetarier, Gemüseverneiner, Sonnenanbeter, Südseenarr, Kokosnußesser und Welterlöser Dr. August Engelhardt (1877–1919) oder auch den umtriebigen Erfinder von Cornflakes, Heizdecke und Erdnußbutter Dr. John Harvey Kellogg (1852–1943).

Wer es noch genauer wissen will und viel aufschlussreiches Fotomaterial sehen möchte, greife zu »Drum Tao-Wind ins Winterland! Drei radikale Naturpropheten: Karl Wilhelm Diefenbach, Gustaf Nagel, Arthur Gustav Gräser«, (ebenfalls von Holbein, erschienen bei Werner Pieper, Der Grüne Zweig 260), darin auch eine Darstellung, wie die Ideen und Ideale der Naturmenschen über den Umweg die amerikanische Hippiebewegung beeinflussten. Einzig die große, alles Material zusammenfassende Gräser-Monographie steht noch aus, genauso wie die große Monte-Verità-Monographie.

Ascona hat heute ein Schickimicki-Flair. Die Monte Verità Besucher bleiben aus

Ascona entwickelte sich unterdessen zu einer touristisch interessanten Kleinstadt in bester, fast tropisch anmutender Lage. 2009 ist es ein teures Pflaster, mit museo, congressi, albergo, ristorante, parco, mehr WCs als Palmen und Agaven, Schickimicki-Flair, Schaufenster voller Teddybären und vergoldetem Klimbim. Nur noch in dem Antiquariat Libreria della Rondine in der 1600 erbauten Barock-Casa Serondine hält man ein Fähnlein aufrecht und beklagt, Monte-Verità-Besucher, die sonst immer ihre wohlfeilen Bücherschätze stürmten, würden seit Längerem ausbleiben.


Ulrich Holbein wurde 1953 in Erfurt geboren und lebt heute zurückgezogen in einer Kate im nordhessischen Knüllgebirge.

Bekannt wurde er durch seine kauzigen Kolumnen in der ZEIT und der SZ. 

Auszeichnungen:

1986 Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik
1992 Arno-Schmidt-Stipendium
          Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb
1993 Hugo-Ball-Preis
2009 Ben-Witter-Preis.

Zurück Erschienen in: connection spirit 11/09