Monte Verità - Berg der Wahrheit - 2008

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Wie müssen sich vor über hundert Jahren die ersten Monteveritaner gefühlt haben, wenn wir Rohköstler uns selbst heute noch unserer Zeit voraus empfinden?

Denn unseren Ideen von einem Zusammenleben in Kommunen, mit Selbstversorgung, freier Partnerschaft, Spiritualität, Nacktheit und Unabhängigkeit, sind nicht neu. Das Führen eines gesunden einfachen Lebens ohne falsche Konventionen war bereits im Jahr 1900 der Wunsch einer kleinen Gruppe von jungen Menschen, die sich zuvor in Arnold Rikli’s Kuranstalt in Veldes getroffen hatten. Sie wollten ein alternatives Lebensmodell verwirklichen. Einer der Gründer, Henri Oedenkoven (1875-1935), ein belgischer Industriellensohn, wurde bei Rikli 1899 von Lungentuberkulose geheilt.

Der „Sonnendoktor“ Arnold Rikli ist der Begründer der sogenannten atmosphärischen Kur, bei der Licht- und Luftbäder eine wesentliche Rolle spielen. Er heilte seine Patienten mit Wasser-Luft-Licht-Therapien, verschrieb ihnen Beschäftigung an der frischen Luft, intensive Sonnenbäder und eine roh-vegane (damals als vegetarisch bezeichnete) Diät. Geschlafen wurde in offenen Hütten, man lief barfuß und ging mit minimaler Bekleidung wandern. Er war strikt gegen Impfungen und Operationen und ein erbitterter Gegner der Ärzteschaft. Rikli war ein Anhänger der Lebensreform-Bewegung. Von seinen Schriften ließen sich unter anderem Adolf Just mit seiner Heilanstalt Jungborn und später Walter Sommer inspirieren.

Bei Rikli traf der 24-jährige Henri auch die elf Jahre ältere Pianistin Ida Hofmann (1864-1926), mit der er später in wilder Ehe lebte. Beide waren gleich verzweifelt und angewidert von der Verlogenheit und Heuchelei in ihren Gesellschaftskreisen und zogen zusammen mit den Gräser-Brüdern, ein Ex-Offizier und ein junger Maler, südwärts, um ein geeignetes Stück Land zu finden. Sie entschieden sich schließlich für den Hügel Monescia bei Ascona im Tessin, der aus Wald und Rebbergen bestand. Mit Henri’s Geld wurde das erste Stück Land erworben. Ascona war damals touristisch noch kaum entdeckt. Sie errichteten ein riesiges abgeschiedenes Parkgelände mit Zentralhaus, Kurbereich und Anlagen zum Sonnenbaden. Es fanden Vorträge und kulturelle Anlässe statt und es wurde immer wieder debattiert. Mit dem Monte Verità bekam Ascona sein erstes touristisches Etablissement. Zu den ursprünglichen Gründern gesellten sich noch die Ausreißerin Lotte Hattemer, eine Bürgermeister-Tochter, und Ida’s jüngere Schwester Jenny. Der Ruf der Kolonie verbreitete sich schnell. Genauso schnell lief leider die Entzweiung der Pioniere. Die Gräser-Brüder wollten ihre eigenen Ideale leben, ihnen schwebte eine Liebeskommune und eine Freistatt für Aussteiger vor. Henri und Ida waren eher praktisch veranlagt und wollten ein wirtschaftliches Naturheilsanatorium mit Sonnenbad, Licht- und Luftkuren und veganer Rohkost errichten. Es eskalierte und die Brüder wurden bereits nach einem Jahr ausgeschlossen. Der Richtungsstreit war unlösbar, woraufhin Henri und Ida die Gräsers, sowie die beiden jungen Frauen auszahlten, die sich daraufhin in der Nähe auf dem Hügel niederließen und das Bild der Bewegung maßgeblich mit beeinflußten.

Oedenkoven und Hofmann kämpften 20 Jahre um das Überleben ihres Projektes, daß doch nie Existenz sichernde Einnahmen brachte. Sie hatten viele Helfer, fast genauso viele gingen wieder, manche siedelten sich dann in der Nähe an, um teils weit extremere Lebensvorstellungen umzusetzen.

Insbesondere Gustav „Gusto“ Gräser, der junge Maler, verweigerte rigoros jegliches ökonomisches Handeln und lebte als extremer Naturmensch und radikaler Selbstversorger, der sich irgendwie durchschlug. Zeitweise wohnte Gusto in einer Höhle bei Arcegno, wo ihn auch Hermann Hesse aufsuchte, sogar eine Zeit lang mit ihm dort verbrachte und später noch des Öfteren besuchte. Hesse war erstmals 1907 für eine Alkoholentziehungskur im Sanatorium und schloß Freundschaft mit Gusto Gräser, der ihn inspirierte. 1917, nach Gusto’s Wanderjahren, kehrte auch Hesse zurück auf den Berg. Sein Buch „Weltverbesserer“ handelt von diesem Ort. Nachdem er sich von seiner Familie getrennt hatte, siedelte er sich 1919 im Tessin an.

Der Monte Verità gilt als Wiege der Alternativkultur.

In ihren Prospekten warb Ida für Aufbruch, Reform und Spiritualität.

Ihr und Henri’s erstes Zuhause auf dem Hügel war die Casa Andrea, ein Holzhaus, selbstgebaut.

Die vier Gründer hatten ursprünglich gemeinsame Vorstellungen in Bezug auf ein Leben im Zeichen des Vegetarismus, der Gleichberechtigung, Unabhängigkeit, freien Partnerschaft und Theosophie. Sie strebten ein Dasein der Natur nahe und selbstbestimmt an. Eine Kommune mit genügend Freiraum für alle. Weg von den Zwängen, vom einengenden Korsett, daß die wachsende industrielle Gesellschaft Mitteleuropas ihnen und ihren Zeitgenossen angelegt hatte. Sie wollten ihre Häuser ohne fremde Hilfe bauen und ihr Essen selbst anpflanzen, und das trotz aller Schwierigkeiten. Unter ihnen befanden sich keine Bauern und Handwerker, sie stammten alle aus bürgerlichem Haus. Auf dem Berg gab es damals noch nicht einmal Wasser. Mit eigenen Händen wollten sie eine Kolonie mit neuen Lebensformen schaffen.

Der Vegetarismus spielte eine zentrale Rolle, wurde als menschheitsbefreiende Idee betrachtet und als unverzichtbares Element einer Lebensweise, in der das Prinzip, nicht zu töten, zentral war. Man wollte kein Töten in der Kolonie und sah darin einen Weg, um eine bessere Gesellschaft ohne Kriege zu gestalten. Sie lehnten alle tierischen Produkte, sowie Salz, gekochte Speisen, Alkohol und Kaffee ab und ernährten sich vor allem von rohen Früchten, tranken wenig. Dabei war ihr Speisenangebot keineswegs einseitig. Es enthielt die verschiedensten Sorten von Nüssen, getrocknete Früchte wie Datteln, Feigen, Sultaninen und Zwetschgen. Es gab frische Beeren und, für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich, stets entweder Orangen oder Bananen. Gemüse nach Saison. Kokosnuß, Cassis, Mandeln und Erdbeeren. Angeblich wurden, wegen der harten körperlichen Arbeit während des Kolonieaufbaus, später Kartoffeln erlaubt. Für die Gäste gab es am Anfang nicht einmal einen Speisesaal, jeder holte sich seine Früchte und Nüsse selbst ab und aß sie, wo es ihm gerade gefiel.

Die verfrühten Hippies ohne Drogen trugen einfache luftige Kleidung aus grobem Stoff oder gar nichts, Sandalen, lange offene Haare, die Männer Bärte und wadenfreie Hosen. Neugierige aus der Umgebung beobachteten nackt tanzende Frauen und nackte Männer bei der Feldarbeit. Auch die Kurgäste wurden zur textilfreien Gartenarbeit verpflichtet. Sie bauten Licht-Lufthäuser aus Holz. Bald lockten sie Freigeister und Weltverbesserer verschiedenster Couleur an.

In ihrer eigenen reformierten Orthographie schreibt Ida Hofmann:
"... dass wir keines wegs behaupten die 'wahrheit' gefunden zu haben, monopolisiren zu wolen, sondern dass wir entgegen dem oft lügnerischen gebaren der geschäftswelt, u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft, danach streben, in wort u. tat 'war' zu sein, der lüge zur fernichtung, der warheit zum sige zu ferhelfen"

Eine Zeugung von Kindern käme erst in Frage, wenn sie physisch und moralisch ausreichend gestärkt seien. Eine Einstellung, die bestimmt auch unserer heutigen Gesellschaft nicht schaden könnte.

Der Monte Verità galt als ein wichtiger Ort für revolutionäre Reformideen. Es entstand eine ungeheuer anregende Ambiance, die Intellektuelle, Künstler, Literaten, Denker, Polit-Aktivisten, Anarchisten und Vegetarier anzog. Immer wieder gab es Referenten, Musiker und Konzerte auf dem Berg, auch für Außenstehende. Das Treiben auf dem Hügel beeinflußte Philosophie, Tanz und Malerei. Der deutsche Ausdruckstanz und die Körperkultur haben ihre Wurzeln hier. Rudolf von Laban betrieb seine berühmte Tanzschule auf dem Hügel. Daher kommt wahrscheinlich auch ein Spitzname der Monteveritaner, der übersetzt „die nackt Tanzenden“ heißt. Laban spielte eine wesentliche Rolle bei der Verbindung zur Kunstwelt. Als Wegbereiter des modernen Ausdruckstanzes beeinflußte er mehr als eine Generation Tänzerinnen. Später war er Leiter des Balletts der Deutschen Staatsoper Berlin.

Auch die Schriftstellerin und alleinerziehende Mutter Fanny zu Reventlow hielt sich in Ascona auf. Ein lebender zu Reventlow kursiert gerade durch die Medien, weil er sich über die Fernsehshow „Gräfin gesucht“ zu vermählen gedenkt (Graf Moritz).
Die Liste der berühmten Gäste ließe sich beinahe endlos fortsetzen, unter ihnen auch Lenin und C.G.Jung.

Mittlerweile hatte sich Henri Oedenkoven in eine andere Frau verliebt. Da diese für eine wilde Ehe nicht offen war, heiratete er sie 1913.

Auf dem Berg herrschte unstrukturierte Anarchie, jeder machte was er wollte, keiner was er sollte. Wirtschaftliche Aspekte wurden vernachlässigt. Dies führte schließlich dazu, daß Henri sich gezwungen sah, 1920 alles zu verkaufen. Mit seiner Familie wanderte er erst nach Spanien aus und zog dann weiter nach Brasilien, wohin ihnen Ida Hofmann kameradschaftlich folgte.

Den Schlüssel gab er Carl Vester. Dieser traf 1902 auf dem Berg ein, blieb eine Weile, zog weiter in die Südsee um eine eigene Kommune zu gründen, kam nach deren Scheitern zurück auf den Monte Verità und blieb dort. Er gilt als letzter Überlebender der Naturmenschen und behielt bis zu seinem Tod 1963 den Lebens- und Bekleidungsstil der frühen Monteveritaner bei.

1923 wurde der Berg von drei Künstlern aufgekauft. Das Boheme-Kollektiv Werner Ackermann, Hugo Wilkens und Max Bethge machte daraus eine expressionistische Künstlerkolonie, in der rauschende Feste gefeiert wurden. Bereits nach drei Jahren mußten auch sie wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgeben. Sie boten den Monte Verità dem Privatbankier und Welt-Kunstsammler Baron Eduard von der Heydt (1882-1964) zum Kauf an. Dieser bot zum Spaß die Hälfte des Kaufpreises und bekam zu seiner eigenen Überraschung den Zuschlag. Zum Spottpreis von 160.000,00 Schweizer Franken kam er 1926 in den Besitz des Berges. Unter ihm wurde der Monte Verità zu einem intellektuellem Zentrum, in dem sich die Vertreter des progressiven europäischen Geistesleben trafen. Er ließ ein hypermodernes Hotel im Bauhaus-Stil mit vegetarischem Restaurant errichten, statt der Obstbäume baute er exotische Pflanzen an und stattete Park und Hotel mit einem Teil seiner ostasiatischen Kunstsammlung aus. Das ganze wurde zu einem mondänen Treffpunkt, an dem sich Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Wirtschaft die Hand reichten. Die Gästeliste reicht von Kronprinz Ruprecht zu Bayern, dem russischen Großfürsten Alexander und König Leopold von Belgien über die Literaten Emil Ludwig und Gerhard Hauptmann bis zum Ministerpräsidenten Otto Braun und endete nicht mit Erich Maria Remarque, dem Industriellen Thyssen, dem Nationalbankpräsidenten Schacht, dem Musiker Richard Strauss, Graf von Metternich oder Gustav Stresemann mit Familie. Sogar Adenauer zählte zu Heydt’s berühmten Besuchern. Nach dem zweiten Weltkrieg vermachte er den Berg dem Kanton Tessin, mit der Auflage, dort kulturelle und künstlerische Aktivitäten von Bedeutung zu veranstalten und die Geschäftsführung bis zu seinem Tode beibehalten zu dürfen.

Das 75.000 qm große Grundstück mit Gebäuden, Park und Kunstwerken gehört nun der Stiftung Monte Verità, hinter der sich der Kanton Tessin und die ETH Zürich verbirgt. Das Tessin ließ das Erbe lange brach liegen. Der Kanton hatte immer Probleme, es zu würdigen und konnte damit nichts anfangen. Schließlich entstand ein Seminarzentrum. Der Berg wurde Tagungsort für Wissenschaftler, ohne Bezug zu seiner berühmten Vergangenheit.

Es gibt einen, der alles versucht hat, damit der Monte Verità nicht in Vergessenheit gerät. Nach seiner Meinung ist er ein Lebensentwurf für ein neues Jahrhundert. Der Geist für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, ein gesundes, einfaches Leben ohne falsche Konventionen, der Suche nach einer besseren Welt. Mit Auswirkungen auf Philosophie, Tanz und Malerei. Er wollte den Berg wieder zu einer Quelle der Erneuerung machen, von deren Kraft die kommenden Generationen schöpfen sollten. Mit seiner berühmten Ausstellung „Mammelle delle verità“ (Brüste der Wahrheit) hat der international bekannte Kurator Harald Szeemann (1933-2005) den Hügel wieder zu einem Gesamtkunstwerk gemacht. Erstmals wurde sie 1978 auf dem Monte Verità gezeigt, ging dann auf Wanderschaft nach Zürich, München, Wien und Berlin, um schließlich 1981 eine feste Bleibe im Haus Anatta zu bekommen. Das Museum kann noch heute besichtigt werden, ist jedoch in einem baufälligen Zustand und selbst Ausstellungsstücke wurden bereits vom hereintropfenden Regen beschädigt.

Angeblich soll jetzt endlich etwas geschehen. Zumindest wurde das ehemalige Jetset-Hotel renoviert und es finden dort 20-25 Tagungen der ETH jährlich statt. Daß Restaurant ist nun auch außerhalb des Tagungsbetriebes offen und bietet natürliche, überwiegend vegetarische Küche mit Themenabenden. Der Kanton Tessin organisiert kulturelle Veranstaltungen. Die Website der Stiftung ist zu finden unter www.monteverita.org .

All das wird jedoch dem ursprünglichen Geist, vom Tessin noch immer unverstanden, nicht gerecht. Es verwässert ihn nur mehr und mehr und läßt ihn schließlich ganz verschwinden. Damals waren es nur einzelne, die ihn leben konnten, heute sollten es genügend sein, um ein solches Projekt am laufen zu halten. Die Fehler unserer Vorfahren sind dazu da, um daraus zu lernen. An den anfänglichen Idealen ist nichts auszusetzen. Ich würde sie höchstens ergänzen durch eine gute Organisation mit Rücksicht auf die individuellen Scherpunkte, eine lebende Struktur schaffen. Auch Sandalen brauchen wir nicht, gibt es ein schöneres Gefühl, als frische Erde unter seinen Füßen zu spüren?! Wir würden früh aufstehen und mit Permakultur unsere Nahrung hervor bringen. Gedünkt würde lediglich mit dem Kompost aus Essensresten und unseren eigenen rohköstlichen Körperausscheidungen. Strom und Warmwasser käme über Solar oder andere unabhängige Energiequellen. Unsere Kinder würden wir im Kollektiv selber unterrichten. Für Außenstehende gäbe es ein bio-roh-veganes Gourmet-Restaurant, eine Bibliothek und WWOOFer hätten die Möglichkeit, bei uns hinein zu schnuppern. Wer Lust dazu hat, den Monte Verità wieder aufleben zu lassen, der melde sich bei mir.

Literaturtip:
http://www.societyofcontrol.com/ppmwiki/pmwiki.php/Main/MonteRieger

Quellen:
  • Tessiner Zeitung, Extra-Ausgabe Frühling 2007
  • Semler, Edmund: Rohkost, Historische, therapeutische und theoretische Aspekte einer alternativen Ernährungsform, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades, Institut für Ernährungswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2006
  • Wikipedia
  • Internet
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Quelle: Rohkostler
Sonntag, 17. Mai 2009