Die Geburt des Monte Verità aus dem Geist der Humanität



Humanitas, Veritas, Fraternitas

November 1900. Als die Brüder Gräser im Gebiet des Lago Maggiore nach einem geeigneten Gelände für ihre geplante Siedlung suchen, hören sie von einer vegetarischen Pension in Monti della Trinità, auf der Höhe über Locarno. Nichts wie hin! Hier ist ein Gesinnungsverwandter zu finden.


Die Verwandtschaft erweist sich als enger denn gedacht. Denn der Inhaber der Pension ist ein Mitgründer jenes ‘Pythagoräer-Bundes’ von 1884, der dann umbenannt wurde in ‘Internationaler Bund für konsequente Humanität’, dann in 'Bund für volle Menschlichkeit', kurz auch 'Bruder-Bund' genannt. (Seit 1885 mit dem Organ Der Bruder. Zeitschrift des Bundes für volle Menschlichkeit.) Eine Umbenennung, die nichts anderes besagt, als dass den Beteiligten das Korsett des Vegetarisch-Leiblichen zu eng erschien für ihre Gesellschaft. Humanität oder Menschlichkeit umfasst sehr viel mehr: den ganzen Menschen in jeder seiner Lebensweisen, nicht nur im Feld der Ernährung. Auch z. B. das Feld des Politischen, auch Kultur und Religion. Das Wort „international“ ebenso wie das Wort „Humanität“ setzte diese Vereinigung klar ab gegen jede Art von nationaler oder konfessioneller Beschränktheit.

Zu den Gründern hatte der Exoffizier und zeitweise Redakteur des ‚Vorwärts‘ Johannes Friedrich Guttzeit (1853-1935) aus Königsberg gehört und der Berliner Journalist, Schriftsteller und Lebensreformer Robert Springer (1816-1885), Verfasser des Grundlagenwerks ‚Enkarpa. Culturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoräischen Lehre‘. Dann der Genossenschaftspionier Otto Rabe (1862-1933) und eben Max Engelmann, ihr jetziger Gastgeber in Monti, der Inhaber der Pension. Mindestens zwei dieser Gründer waren Gymnasiallehrer gewesen, Kenner des Griechischen, und wahrscheinlich alle waren humanistisch gebildet. Daher die Wahl von Worten wie „Humanität“ und „Humanismus“. Engelmann verfasste auch in Locarno noch Dramen mit griechischen Göttergestalten.

Er konnte erzählen – und auch Gusto wird seine Geschichte erzählt haben. Es stellt sich heraus, dass der Bundesbruder Guttzeit schon lange vor Gräser ein Mitarbeiter von Diefenbach gewesen war und diesen – vermutlich – auf den Gedanken gebracht hatte, seine bislang namenlose Lebensgemeinschaft in Höllriegelskreuth mit dem Wort „Humanitas“ zu bezeichen. „Humanitas“ – eine Verwirklichung der Idee, die mit dem ‚Internationalen Bund für konsequente Humanität‘ (der anscheinend nie so recht gedieh) gemeint gewesen war. Diese Erinnerung dürfte die im Hause Engelmann versammelten Neusiedler dazu angeregt haben, ihre eigene Gründung später zwar nicht mit „Humanitas“ – da dieser Titel schon vergeben war -, dafür aber mit dem geistverwandten Wort “Veritas“ zu bezeichen, italienisch: „Monte Verità“. „Veritas“ gehörte aber auch zu den Symbolwörtern der Freimaurerorden, zumal der theosophisch angehauchten. Das traf sich wieder einmal gut.

Warum und wie aber war der Lebensreformer Max Engelmann aus Berlin gerade nach Locarno gekommen?

In Locarno gab es die beiden Theosophen Franz Hartmann und Alfredo Pioda, die auf den Monesce von Ascona ein theosophisches Laienkloster errichten wollten. Ihre Gesellschaft von 1889 nannte sich „Fraternitas“ – was geradezu an den Berliner „Bruder-Bund“ von 1885 erinnert. „Fraternité universelle“ auch hier, weltumfassende Brüderlichkeit. Für ihre Gemeinschaft auf dem Berg suchten sie geeignete Kandidaten, und der Lebensreformer Max Engelmann wird sich als ein solcher gemeldet haben. Nachdem dieses Vorhaben jedoch mangels genügender Bewerber nicht zustande kam, wird sich Engelmann eine andere Existenzgrundlage als Pensionsbetreiber gesucht haben. Jedenfalls kannte er die Pläne der Theosophen und wusste auch, dass diese bereits Grundstücke auf dem Hügel über Ascona in Besitz hatten. Nichts lag näher, als dass er die Neuankömmlinge auf dieses Projekt aufmerksam machte, es ihnen sozusagen zu Füßen legte. Die Geschichte, die er erzählte, war ebenso einleuchtend und verheißend wie die Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitete. Die Gäste von Engelmann müssen begeistert gewesen sein.


Ausschreibung von Pioda, Locarno 1889

Freimaureremblem

Das ist noch aus dem Bericht zu spüren, den Ida Hofmann Jahre später niedergeschrieben hat. Sie erzählt, die Gräsers seien ihnen vorausgeeilt, hätten die Gegend um Ascona entdeckt und ihrer Gruppe, die noch um den Comer See auf Suche war, geschrieben: „Hier findet man Menschen“, „auch langhaarige – vegetarische Pensionen u. s. w.“, „kommet zu uns“ (Hofmann 1906, 15). Weiter:

Wir wurden [bei Engelmann] freundlichst empfangen. Die Brüder Gräser schienen hier schon wie zu Hause. Tagsüber wurden nun, diesmal gemeinschaftliche Streifungen in die Umgebung Locarno’s unternommen. Der Abend war meist der musikalischen Unterhaltung im Kreise der Familie Engelmann gewidmet. Vater Engelmann, eine schöngeistig angehauchte Natur rezitirte Stellen aus Opern Wagners und begleitete dazu am Harmonium; eine, unter einem Tisch angebrachte Lampe verbreitete rotes Dämmerlicht, welches die Wirkung dieser Vorträge wesentlich erhöhte“ (ebd.).

Auch in der Verehrung Richard Wagners war man sich also einig, was sich alsbald in Ortsbenennungen auf dem Gelände des Wahrheitsberges niederschlagen sollte.

Doch zurück zu „Humanitas“! Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Benennung des neuen Siedlungsortes auf die Bruderschaft jener vier Berliner Inellektuellen zurückgeht, die ihren ursprünglich vegetarisch-lebensreformerischen Bund zu einem die ganze Menschheit umfassenden Unternehmen im Sinne unbegrenzter Aufklärung erweitert hatten. Aufklärend waren die Schriften von Johannes Guttzeit und seiner Mitstreiter: auf politischem, auf kulturellem, auf religiösem Gebiet. Auch auf Monte Verità sollte es nicht nur um leibliche Gesundung gehen, sondern um „eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender Menschen“ (Hofmann 1906, 3). „Wahrheit und Freiheit in Denken und Handeln sollten künftig … teuerster Leitstern“ sein (ebd.).

In diesem Sinne kann der Monte Verità als eine Fortsetzung, ja als eine konkrete Verwirklichung des Berliner Bruderbundes verstanden werden. Das Ideal urchristlicher Brüderlichkeit, das Guttzeit verkündete, seine Ablehnung jeder Art von Herrschaft, wurde dann von keinem anderen so konsequent in die Tat umgesetzt wie von dem wandernden Propheten Gusto Gräser.
***

Ein Titel von Guttzeit, eines der wenigen Dokumente, die die kurzlebige Existenz des 'Internationalen Bundes für konsequente Humanität' bestätigen:
Der konsequente Humanismus, oder der natürliche Weg zu Gesundheit, Veredlung, Lebensfreude, Gemütsruhe und langem Leben: Internat. Bund f. konsequente Humanität. Verteidigt gegen e. großen Pessimisten, nämlich Eduard v. Hartmann, v. e. kleinen Optimisten, nämlich Johannes Friedereich Guttzeit. Ein am 25. Nov. 1884 zu Berlin gehaltener Vortrag.
***

Titel einer Zeitschrift von Diefenbach, Wien 1897


KAMPF DEM KRIEG

Der Friedenskongress von 1916 auf dem Monte Verità

Der „Vegetarisch-soziale Kongress“, der vom 18. bis 22. April 1916 in Ascona stattfand, ist bis heute in der Literatur zum Monte Verità unbekannt geblieben,vermutlich deshalb, weil eine derartige Demonstration gegen den Krieg weder in Deutschland noch in der Schweiz genehm war. Die Siedlung derpazifistischen Reformer auf dem Monte Monescia bot 1916 die letzte Insel, auf der ein solcher Protest offen zu Wort kommen konnte.

Geleitet und einberufen wurde der Kongress von Paul Birukoff (1860-1931), dem Biografen, Freund und einstigen Hausgenossen von Leo Tolstoi.Mitunterschrieben wurde die Einladung von Ida Hofmann, Henri Oedenkoven und dem Lyriker Otto Borngräber. Darin erweist sich einmal mehr die enge Verbindung des Monte Verità mitdem großen russischen Dichter und Pazifisten.

Die Tagung kann als Vorstufe gesehen werden für den „Anational Congress for organising the reconstruction of Society on practicalcooperative lines“, der im folgenden Jahr vom 15. bis 25. August in Ascona stattfand.Internationalität und Pazifismus gehörten zu den Grundbedingungen des Monte Verità. Schon 1905 hatte Ida Hofmann geschrieben: „DieErhaltung von Heeresmassen verschlingt Staatsvermögen; der gegenseitige Menschenmord zehrt am Racen- und Volksvermögen – ihmfällt die Blüte des Menschengeschlechtes – die Jugend – in ungezählten Reihen zum Opfer“. Und ihr Gefährte Henri Oedenkovenentgegnete am 20. Juli 1917 einer französischen Zeitschrift: „Je suis Belge et n’ai aucune sympathie pour le gouvernementautocratique de l’Allemagne, ni pour ses buts de guerre“, („Ich bin Belgier und habe keinerlei Sympathie für die autokratischeRegierung Deutschlands noch für ihre Kriegsziele“.)

Borngräber veröffentlichte 1916 ein ‚Weltfriedensdrama‘ und, zusammen mit Georg Brandes, einen „Friedensappell an die Völker“. Künstlerischer Höhepunkt des „Anationalen Kongresses“ von 1917wurde dann sein Festspiel ‚Sang an die Sonne’, aufgeführt von der Tanztruppe Rudolf Labans.

 

Pavel Ivanovitch Birioukov IdaHofmann-Oedenkoven

Ein zweiter Tolstoifreund neben Birukoff, der slowakische Arzt und Militärdienstverweigerer Albert Skarvan, hatte den Aufbau der Siedlung von Anfang an begleitet und sich an Gusto Gräser angeschlossen. Gemeinsam planten sie die Gründung einer Landheimschule auf demfelsigen Hügel über Ascona oder in Amden. Im Frühjahr 1905 reisten sie nach Genf, wo viele russische Emigranten sich aufhielten, unterihnen auch Paul Birukoff. (Nicht zu reden von Lenin und anderen Revolutionären.) Dass im Sommer des selben Jahres, nach dergescheiterten Revolution in Russland, Gruppen flüchtiger Revolutionäre in Ascona auftauchten, dürfte mit den damalsangeknüpften Verbindungen zusammenhängen. So auch die Scharen russischer Studenten, die im folgenden Frühjahr in das Dörfchen amLago Maggiore einfielen.

Ein dritter Tolstoianer, der ungarische Ingenieur Wladimir Straskraba, betrieb dort die vegetarische „Herberge zur Heidelbeere“. Das„Russenhaus“ auf dem Monte Verità gibt bis heute Zeugnis, dass der Berg eineZuflucht war für Dissidenten aus dem Zarenreich. Die Malerfreunde Anton Faistauer, Robin Christian Andersen und Gustav Schütt,Neukünstler aus Wien, die sich in Arcegno eingenistet hatten, lernten sie kennen: Am „Abend waren wir bei den Russen geladen u.tranken Tee in matten Gesprächen von den Revolucionen“, schreibt Faistauer am 10. September 1910 aus Ascona an seine Braut (zit. inSchlaffer 108). Matt waren diese Revolutionsgespräche vermutlich nur deshalb, weil die Wiener Maler wenig am Thema interessiert waren.Ihre Gedanken kreisten um Kunst, Natur und Liebe. An den politischen Ereignissen nahmen sie wenig Anteil.

Andersen wusste sogar zu berichten, dass in Arcegno „eine lustige Kolonie junger Leute war,die in Höhlen lebte, darunter Trotzkji, Lenin und Schaljapin, zum Großteil Künstler“ (zit. in Schlaffer 104). Damit lieferte erein möglicherweise verlässliches Zeugnis aus erster Hand über den Aufenthalt der bolschewistischen Revolutionäre auf demWahrheitshügel. Mit der sprachlich in den Plural erhobenen Höhle kann nur die Pagangrott von Gusto Gräser gemeint sein. Es gibt keineandere im Umfeld von Ascona und Arcegno. Sollte Lenin also in Gräsers Grotte gesessen haben?

Siehe: www.magnus-schwantje-archiv.de/Tiermord_und_Menschenmord.pdf und de.wikipedia.org/wiki/Magnus_Schwantje,

sowie Nikolaus Schlaffer: Anton Faistauer 1887-1930, Salzburg 2005.


Der vegetarisch-soziale Kongress von 1916

war keine lebensreformerische Fachtagung sondern ein Friedenskongress. Zugleichder Aufruf, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage vegetarischer Gemeinschaften zu bilden, also nach dem Modell des Monte Verità. DieEinladenden wollten an alle diejenigen appellieren, die sich der kollektiven Hysterie entziehen und erkennen, dass die wahre Ursachedes Krieges im herrschenden Materialismus und Kapitalismus zu finden ist. Die kapitalistische Konkurrenz soll ersetzt werden durchgerechte und vernünftige Zusammenarbeit. Der Krieg sei nichts als der Abszess einer verirrten und verfaulten, zum Sterben verurteiltenGesellschaft. Zitat:

Le congrès cherchera à mettre en lumière la valeur d’une réforme radicalede la vie: le végétarisme, auquel depuis Pythagoro et Platon les plus grands esprits et les plus grands sages se sont intéressés. Il fera voir que le végétarisme n’est pas seulement, comme on croitassez généralement, une question d’estomac. Le végétarisme est toute une philosophie qui entend mettre sur les bases morales,hygiéniques, économiques et esthétiques la manière de s’alimenter, de se vêtir, d’habiter. Il normalise les rapportssexuels, cause de tant de maladies et de chagrins; règle les relations enlre les êtres humains pour subvenir à leurs besoinsmoraux, intellectuels et matériels en substituant la concurrence capitaliste par une coopération équitable et rationnelle.

Der Kongress wird versuchen, den Wert einer radikalen Lebensreform ins Licht zustellen: den Vegetarismus, dem sich seit Pythagoras und Platon die größten Intelligenzen und die größten Weisen zugewandt haben. Erwird zeigen, dass der Vegetarismus nicht nur eine Sache des Magens ist, wie man ziemlich allgemein meint. Der Vegetarismus ist vielmehreine ganze Philosophie, die die Art der Ernährung, der Kleidung und des Wohnens auf moralische, hygienische, ökonomische und ästhetischeGrundlagen stellt.

Le but du congrès est double. 1° réunir ceux qui s’intéressentsincèrement à cette reforme, mais ne peuvent, isolés qu’ils sont dans la société capitaliste, vivre selon leurs convictions, afin deformer des centres de coopération végétariens – colonies se suffisant à elles-mèmes – 2° organiser la propagande des idéesvégétariennes-sociales.

Das Ziel des Kongresses ist ein doppeltes. 1. Jene zusammenzuführen, die sichernsthaft für diese Reform interessieren, die aber, isoliert wie sie sind in der kapitalistischen Gesellschaft, nicht nach ihrenÜberzeugungen leben können, um dann Zentren vegetarischer Zusammenarbeit zu schaffen – autarke Kolonien. - 2. Werbung fürdie vegetarisch-sozialen Ideen zu organisieren.

Einer der Redner auf dem Kongress war der Lebensreformer Magnus Schwantje (1877-1959). Er konnte seine Rede allerdings nur verlesen lassen, weil er ausDeutschland nicht ausreisen durfte. 1898 war er gleichzeitig mit Gusto Gräser Schüler von Diefenbach auf demHimmelhof bei Wien gewesen.. Schwantje wurde später der rührigste Vorkämpfer für Tierschutz und Tierrechte im Deutschland des 20.Jahrhunderts. Von ihm stammt die meist Albert Schweitzer zugeschriebene Formulierung „Ehrfurcht vor dem Leben“. Mit denWorten „Der Mensch im Frieden mit der Natur“ beschrieb er, einer Prägung von Diefenbach folgend, am 19. April 1916 beimVegetarisch-sozialen Kongress in Ascona sein „Traumbild“. Seine Rede gegen Tiermord und Menschenmord wurde auf dem Monte Veritàvorgetragen.. Die Lebensgemeinschaft ‚Humanitas’ war – für die Gräsers zumindest – in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung Vorbildfür die Aussteiger-Siedlung auf dem Weinberg von Ascona. Es lag daher für Schwantje nahe – und im Kriegsjahr 1916 mehr denn je –seine Rede gegen Tiermord und Menschenmord auf dem „Berg der Wahrheit“ zu halten. In Deutschland war seine Zeitschrift, die‚Ethische Rundschau’, schon 1915 verboten worden.



Ehrfurcht vor dem Leben



Schwantjes Kampf gegen Krieg und Militarismus begann nicht erst, als derErnstfall eingetreten war. Als Herausgeber der Ethischen Rundschau und als Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft protestierte erschon 1913 mit einem Appell an alle Reichstagsabgeordneten und an 450 Zeitungen, sowie mit einem Schreiben an den deutschen Reichskanzlerund mit einem Aufruf an alle Geistlichen und Hochschullehrer gegen das enorme deutsche Wettrüsten. Die Rüstungsausgaben seien in 30Jahren um 400% gestiegen, ohne den Frieden sicherer, dafür den Krieg wahrscheinlicher zu machen. Seine leidenschaftlichen Warnungenverhallten ungehört. Als im selben Jahr auf Betreiben der Lebensreformer im Wandervogel das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißnerzustande kam, fielen die Mahnungen sehr viel schwächer aus und waren mit Kriegsausbruch völlig vergessen. Das Schlachten konnte beginnen.

Hier das Heft 5 der Ethischen Rundschau vom Mai 1913: www.magnus-schwantje-archiv.de/Schriften/ER_II_1913_H_5.pdf

Auf dem untenstehenden Foto von Ostern 1898 finden wir Gräser und Schwantjevereint als Schüler des Kriegsgegners Karl Wilhelm Diefenbach in dessen Kommune Himmelhof bei Wien. Gräser ganz links außen knieend,Schwantje vorn in der Mitte halb liegend. Später wird er ein Freund und Mitarbeiter von Hans Paasche. Dem Kriegsdienst entzog er sich,indem er sich krankhungerte.

Schwantje (Mitte,vorn) befindet sich genau in der Achsenrichtung seinesMeisters

und verblieb darin auch im geistigen Sinn.

Im Jahre 1916 fand sich neben Gusto Gräser und Magnus Schwantje ein dritter,in diesem Falle indirekter, Diefenbach-Schüler auf dem Berg der Wahrheit ein: der Wandervogelführer und Freideutsche Jakob Feldner, Sohn des gleichnamigen Fidusfreundes. Er traf auf dem Berg dreiMitarbeiter des französischen Pazifisten und Schriftstellers Romain Rolland: den Journalisten Henri Guilbeaux, den Gewerkschafter Fernand Desprès und den Lyriker Pierre Jean Jouve. Mit dem Pazifisten Alfred H. Fried, der Lyrikerin Claire Studer und ihrem Freund Ivan Goll schlossen sich weitere Rolland-Freunde ihnen an. Russen und Deutsche, Franzosen und Österreicher, Reformer, Wandervögel undKünstler reichten sich die Hand im Widerstand gegen die Barbarei des Krieges.

Hier der volle Text des Aufrufs von Birukoff, wie er am 1. April 1916 in derZeitschrift ‚L’Essor‘ erschien:

Congrès végétarien social

Monte Verità, 1er mars 1916.

On nous écrit:

Nous vous invitons à bien vouloir prendre part au premier congrès„végétarien-social“ en Suisse.

En presence des horreurs de la guerre actuelle nous faisons appel à votreconscience pour vous intéresser a une réforme de la vie humaine qui rendrait impossible le retour à pareille barbarie.

Si vous pouvez vous mettre au-dessus des préjugés, vous soustraire auxsuggestions colléctives, et considérer impartialement quelle est la cause première de la guerre actuelle, vous devrez reconnaître quec’est le materialisme dans sa forrme capitaliste arrivé à son apogée. Toutes les autres causes ne sont que des prétextestrompeures, des fantômes agités devant les masses par ceux qui ont intérêt ä la guerrre. La guerre actuelle n’est pas un mal ensoi, elle n’est que la suite logique de la voie erronée qu’a suivie l’évolution sociale et ses horreurs ne sont que lesmanifestations des instincts que le système capitaliste a cultivés dans Ie coeur des hommes; elle n’est que la crise, l’abcès desbases pourries de la société, qui crève.

Le congrès cherchera à mettre en lumière la valeur d’une réforme radicalede la vie: le végétarisme, auquel depuis Pytbagoro et Platon les plus grands esprits et les plus grands sages se sont intéressés. Ilfera voir que le végétarisme n’est pas seulement, comme on croit assez généralement, une question d’estomac. Le végétarisme esttoute une philosophie qui entend mettre sur les bases morales, hygiéniques, économiques et esthétiques la manière des’alimenter, de se vêtir, d’habiter. Il normalise les rapports sexuels, cause de tant de maladies et de chagrins; règle lesrelations enlre les êtres humains pour subvenir à leurs besoins moraux, intellectuels et matériels en substituant la concurrencecapitaliste par une coopération équitable et rationnelle.

Le but du congrès est double. 1° réunir ceux qui s’intéressentsincèrement à cette reforme, mais ne peuvent, isolés qu’ils sont dans la société capitaliste, vivre selon leurs convictions, afin deformer des centres de coopération végétariens – colonies se suffisant à elles-mèmes – 2° organiser la propagande des idéesvégétariennes-sociales.

Le congrès permettra à tous les intéressés d’exposer par des conférenceset des discussions leur opinion sur les avantages moraux, économiques et hygiéniques dérivant du genre de vie végétarien-coopératif,et sur I’art nouveau qui en surgira.

Nous avons cru bien faire en choisissant la Suisse pour I’organisation de cecongrès parce que la Suisse est le centre neutre de I’Europe, parce qu’avec les trois nationalités qu’elle reunit en un touthomogène, elle représenle le symbole de l’union des peuples de la terre et donne le démenti le plus flagrant à ceux qui prétendentimpossible I’accord entre peuples de différentes races. Aussi espérons-nous rencontrer au congrès les représentants de toutesles nations.

Les conférences pourront se faire en français, en allemand, en anglaisou en italien. Les conférenciers sont priés de communiquer le sujet de leur conférenceau comité organisateur avant Ie 8 avril 1916. Ceux qui seraient empêchés d’assister en personne au congrès peuvent envoyer leurscommunications par écrit au comité qui en fera donner Iecture à  l’une des réunions.

La cotisation pour l’adhésion au congrès est fixé à 5 fr.Moyennant paiement de cette cotisation il sera délivré une carle donnant le droit de participer à tous les travaux du congrès, ainsiqu’aux excursions et fêtes organisées par le comité.

Le congrès se tiendra au Monte Verità, près d’Ascona, sur le Lac Majeur(partie Suisse) du 18 au 22 avril 1916. Le comité organisateur se charge de procurer aux congressistes qui s’inscriront avant le 8avril 1916, un logement convenable avec pension au prix de 5 fr. par jour.

Paul Birukoff,
Président de la Soc. Végétar. de Moscou.
Ida Hofmann,
Dr.O. Borngäber,
Henri Oedenkoven.

L’Essor, 11. Jahrg., 1. April 1916, Nr. 14, S. 3. Online: Congrès végétarien social.

Literatur

Baumgartner, Judith

Vegetarismus im Kaiserreich: 1871 - 1914. Gesellschaftsveränderung durch Lebens­reform? Magisterarbeit am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Mün­chen, 1989.

Birukoff, Paul

Congrès végétarien-social. In: L’Essor, 11. Jg., 1. April 1916, Nr. 14, S. 3.


Leo Tolstoy - His Life and Work. 3 Bde. 1921.

Borngräber, Otto

Weltfriedensdrama. Ein Weihespiel. 1916.


Sang an die Sonne. Tanzspiel. Ascona 1917.

Brucker, Renate

Tierrechte und Friedensbewegung. „Radikale Ethik“ und gesellschaftlicher Fortschritt in der deutschen Geschichte. In: www.magnus-schwantje-archiv.de/.../9783506763822_BRUCKER-268-...

Feldner, Jakob

Deutsche Jugend und Weltkrieg. Zürich: Orell Füssli, 1918.

Flach, Jakob

Ascona. Gestern und heute. Zürich 1964.

Gräser, Gusto

An dich mein unbekannter Freund im Elend der Zivilisation. Flugblatt, Ascona 1917.

Hanke, Edith

Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen 1993.

Hofmann, Ida

Vegetabilismus! Vegetarismus! Ascona 1905.

Laban, Rudolf von

Ein Leben für den Tanz. Dresden 1935, Stuttgart 1989.

Oedenkoven, Henri

Une mise au point. In: La Sentinelle, 33. Jg., 20. Juli 1917, Nr. 167.

Müller, Hermann

New Age am Lago Maggiore. Vordenker und Vorkämpfer auf dem Monte Verità von Ascona. Deutsches Monte Verità Archiv, Freudenstein 1999. In: www.emmet.de/pdf/New%20Age%20Ganztext%202013.pdf

Rolland, Romain

Au-dessus de la mêlée (1915); Über den Schlachten, dt. P. Ammann (1950).

Schwantje, Magnus

Tiermord und Menschenmord. Vegetarismus und Pazifismus. Berlin 1919.


Hans Paasche. Sein Leben und Wirken [Flugschriften des Bundes Neues Vaterland, Nr. 26/27], Berlin 1921.

Steiner, Rudolf

Das Neue Jahrhundert“. Eine Tragödie von Otto Borngräber. In: Magazin für Literatur 1900, 69. Jg., Nr. 24, 28, 29 (GA 29, S. 385-392).