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Plastik von Hans Arp vor dem Tagungshaus des Monte Verità in Ascona

Die Feuerflamme

Vor dem Tagungshaus auf dem Monte Verità steht eine goldfarbene Stahlplastik des Bildhauers Hans Arp.  Von der Seite gesehen erscheint sie wie ein rollendes Rad, von vorne gesehen wie eine durchlöcherte Sonne, eine Welle oder eine Vagina. Es handelt sich um das schönste, sprechendste Symbol für den Wahrheitsberg. Denn dass dieses Gebilde eine weibliche Form darstellt wie die meisten Plastiken von Arp, ist offensichtlich. Und der Monte Verità stand im Zeichen des Weiblichen, Mütterlichen, Emotionalen und Intuitiven - im Protest gegen die männlich-patriarchale Techno-Zivilisation seiner Zeit. Für Freiheit, freie Liebe, Naturgemäßheit und Naturfrömmigkeit gegen staatlichen, rationalistischen und kapitalistischen Zwangsbetrieb. Eine Gegenwelt unter der Flagge des Großen Weiblichen.

Diese Flagge wird hier von Arp enthüllt, entrollt, entfaltet – in goldglänzendem Stahl. Er nennt sie „Oriflamme“. Warum? Oriflamme war der Name der französischen Königsflagge, sie wurde in Schlachten vorangetragen. Aber dachte Arp an dieses Nationalheiligtum der Franzosen? Eben dieser Flagge hatte er sich 1914 entzogen, als er mit Hilfe eines Pseudo-Attests sich in die neutrale Schweiz absetzte, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Und zwar nach Ascona, auf den Monte Verità, wo die Kriegsgegner aus den kriegführenden Nationen sich sammelten. Nein, der Name hatte für Arp einen anderen Ursprung. Auf dem Wahrheitsberg hatte sich 1916 der Ordenstempel des Ostens (O.T.O.) von Theodor Reuß etabliert, und dessen Zeitschrift nannte sich ‚Oriflamme‘.

Titel einer freimaurerischen Zeitschrift dieses Namens von 1906.

Ob es sich um die des O.T.O. handelt, konnte nicht festgestellt werden.

 

                  

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Arp muss mit dem O.T.O. und seinem Blatt in Berührung gekommen sein, denn er war, mindestens als Zuschauer und durch seine Freundin Sophie Taeuber, Teilnehmer des von Reuß organisierten „Anatíonalen Kongresses“ vom August 1917 auf dem Berg. Die Malerin und Tänzerin Sophie Taeuber war beteiligt an dem Tanzspiel „Sonnenfest“, dessen mitternächtlichen Höhepunkt Rudolf Laban vor der Grotte Gusto Gräsers inszenierte. Arp war als Zuschauer dabei. Er wird auch dabei gewesen sein, wenn die Tänzer ihre Aufführung probten, wenn sie aus Baumzweigen und Farnstauden ihre Verkleidungen bastelten und in Gräsers Grotte deponierten. Er wird also diese Höhle gekannt haben, die gewissermaßen das Depot für die Requisiten der Aufführung war, die dort unter der Leitung von Marcel Janco, seinem dadaistischen Kollegen, hergestellt wurden. Deshalb kann man seine Plastik auch als künstlerisches Nachbild von Gräsers Grotte verstehen: als den geöffneten Mund der Mutter Erde, als den in Stahl übersetzten goldenen Mutterschoß.

             Eingang zur Grotte Gusto Gräsers im Wald von Arcegno

Arp muss auch Gräser selbst gekannt haben. Er hatte sich ja mit seiner Freundin auf dem Berg angesiedelt, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft des Gräserhauses: schräg gegenüber im Garten der Casa Angolo des Malers Artur Segal. Er ernährte sich damals vegetarisch und soll sein eigenes Gemüse angebaut haben. Wenn seine Freundin zu Proben die Treppen zum Park des Sanatoriums hinaufstieg, dann musste sie am Haus von Gusto Gräser vorbei. Man wird sich also gesehen und wohl auch gesprochen haben. Gusto war ja der rechtmäßige Besitzer jener Grotte, und ohne seine Erlaubnis hätte das Festspiel auf seiner Wiese nicht stattfinden können. Und da dieses Spiel wie der Kongress letztlich eine Inszenierung des O.T.O. war, wird auch dessen Zeitschrift im Umlauf gewesen sein. Man könnte sich vorstellen, dass Gräser und Arp das Blatt gemeinsam gelesen oder besprochen haben. Arp scheint kein Anhänger des O.T.O. gewesen zu sein, über den er gelegentlich spottete. Wohl aber dürfte seine Freundin Sophie Taeuber, wie Mary Wigman und andere Schülerinnen von Laban, der auf dem Monte Verità begründeten irregulären Freimaurerloge „Libertas et Fraternitas“ angehört haben. „Oriflamme“ kommt von dem lateinischen „aurea flamma – Goldflamme“ her, und dieser Name schien Arp für seine Schöpfung passend. Völlig zu Recht. Denn sie ist auch ein goldenes Feuerrad in Stahl.

Aber nicht nur Arp hat sich an den Titel jener freimaurerischen Zeitschrift erinnert, auch Gusto Gräser. Auf einem Blatt seiner Vorstudien zu seinem Buch ‚Weltsprache‘ findet sich dieses Wort: eine der ganz wenigen Spuren, die der Berg sprachlich in seinem Werk hinterlassen hat, fast die einzige. Auch ihm also war dieses Wort von Bedeutung. Von Arps Plastik kann er nicht an diesen Namen erinnert worden sein, denn die gab es zu seinen Lebzeiten noch nicht. 

http://welt-der-form.net/Hans_Arp/images/Arp-1962-Roue_Oriflamme-Landolt_6143.jpg

                                                                 Roue Oriflamme Goldflammendes Rad (1962)

Rostfreier Stahl, Guss 1982/83, 240 cm hoch.
Vergrößerung einer 30 cm hohen Duraluminium-Plastik aus dem Jahr 1962. Standort: Fondazione Monte Verità / Hotel Monte Verità, Ascona, Tessin. Dauerleihgabe der Fondazione Marguerite Arp, Locarno.

Vor und während des Ersten Weltkriegs lebten auf dem Monte Verità Kriegsverweigerer, Emigranten und Flüchtlinge aus den kriegführenden Staaten in einer Art Kommune zusammen, darunter zahlreiche Künstler und Schriftsteller, unter ihnen Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, Ernst Bloch, Hermann Hesse und viele andere.

http://welt-der-form.net › Hans_Arp › Arp-1962-Roue_

 

 

                            Schriftzug von Gusto Gräser in ‘Weltsprache‘