Gräser, Beuys und Benirschke

Im Katalog der Ausstellung „Künstler und Propheten" von 2015 der Frankfurter Schirn schreibt die Kuratorin Pamela Kort:

„Michele Bonuomo ... hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass Beuys, bereits vor er 1971 das erste Mal nach Capri kam, ,sich sehr für Karl Wilhelm Diefenbach interessiert [hat] und auch über dessen Werk gut informiert [war].' ... Möglich ist auch, dass Beuys über Benirschke von Diefenbach wusste. Dieser stammte aus Wien und war im Oktober 1897 in die dortige Kunstgewerbeschule eingetreten. Diefenbachs Fries wurde fünf Monate später ausgestellt und Benirschkes Wohnung lag damals nur 30 Gehminuten von der Ausstellung entfernt." (Kort 351)

Diese Vermittlung Diefenbachs an Beuys durch den Kunstlehrer und Anthroposophen Max Benirschke (1880-1961) ist nicht nur möglich sondern höchst wahrscheinlich, ja als so gut wie sicher anzunehmen. Denn wir wissen ja nicht nur, dass Diefenbach damals der in Wien bekannteste Maler war (Zehntausende sollen seine Ausstellung von 1892 besucht haben!), wir wissen auch, dass Gusto Gräser diese Ausstellung besucht hat und durch sie ein Anhänger von Diefenbach wurde. Gräser war im Januar 1897 in die Wiener Kunstgewerbeschule eingetreten, wo er den siebzehnjährigen Mitschüler Max Benirschke, der im Oktober eintrat, kennen gelernt haben muss. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass beide (einzeln oder gemeinsam) die Ausstellung von Diefenbach besucht haben, dass über diese unter den Studenten gesprochen und gestritten wurde und dass Benirschke Gräsers Abgang und künftigen Lebensweg mit Aufmerksamkeit verfolgt hat.

Dass dieser seinerseits Benirschkes Werdegang beobachtet hat und vielleicht sogar mit ihm in persönlicher Verbindung blieb, ist ebenfalls naheliegend. Und tatsächlich hat Gräser Benirschkes grafische Mustersammlung ,Buchschmuck und Flächenmuster' von 1905 gekannt und für seine eigenen Entwürfe einer neuen Druckschrift genutzt.

Max Benirschke: Buchschmuck und Flächenmuster, 1905

Gusto Gräser, um 1905

Entwurfsblatt von Gusto Gräser, um 1905

Pamela Kort schreibt weiter: „In Capri wohnte Beuys in der von Amelio ... angemieteten Villa San Martino. Bonuomo erinnert sich auch daran, dass Beuys' Interesse an Diefenbach groß genug war, um Amelio zu bitten, ihm ein Exemplar des 1913 gedruckten Leporellos Per aspera ad astra zu besorgen: ... Zusammen mit Beuys besichtigte er [Amelio] ,die in der Certosa San Martino di Capri verwahrten Bilder Diefenbachs.' Beuys sollte auch spätere Capri-Aufenthalte für eine Besichtigung dieser Bilder nutzen (Kort 351f.)."

Pamela Kort ist der Meinung, dass das berühmte Beuys-Foto „La rivoluzione siamo Noi" von 1972 durch ein Foto Diefenbachs in Neapel von 1912 inspiriert wurde. Erstaunlicherweise zieht Kort aber keine Verbindungslinie zu Beuys' letzter Ausstellung in Neapel, die sein bekenntnishaftes Vermächtnis darstellt: „ Palazzo Regale".

Die Frage stellt sich doch: Warum interessierte sich Beuys für Diefenbach? Was zog ihn an? Und welche Folgen hatte diese Begegnung für sein eigenes Werk? Nur ein Foto, in dem er sich a la Diefenbach inszeniert? Nein. Es gibt eine viel bedeutsamere Wirkung dieses Vorbilds auf den Künstler: Durch Diefenbach und Gräser emanzipiert sich Beuys von Rudolf Steiner, durch Diefenbach und Gräser findet er endgültig zu seiner eigenen Identität. Er sieht sich als mythische Figur, als heidnischen Sonnenkönig.

Beuys hat auf Capri zu Diefenbach gefunden. Er wusste von ihm schon vorher, nun ließ er sich in die Certosa führen, jenes ehemalige Kloster auf der Insel, in dem Diefenbachs Gemälde gehütet wurden. Heute ist es ein Museum. Auch von Gräser hatte er gehört, denn jener Lehrer, der ihn einst mit Rudolf Steiner bekannt gemacht hatte, der Architekt und Kunstlehrer Max Benirschke, war 1897/98 ein Mitschüler von Gräser in der Wiener Kunstgewerbeschule gewesen. Es versteht sich, dass die jungen Maler die Ausstellung besuchten, die Diefenbach im März 1898 nicht weit von ihrer Schule in der Seilergasse eingerichtet hatte. Diefenbach hatte Sensation gemacht in der Stadt, er war bekannter als irgendein anderer Wiener Künstler. Die jungen Männer also gingen hin, Gräser wurde Feuer und Flamme für Diefenbach, schloss sich Ostern 1898 dessen Künstlergemeinschaft auf dem Himmelhof an. Benirschke konnte sich dazu nicht entschließen, aber er wird den Lebensweg seines Kameraden sehr aufmerksam verfolgt haben.

Die Kunstgewerbeschule in Wien, heute Universität für angewandte Kunst, an der auch Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Koloman Moser studiert oder gelehrt haben.

Katalog zur Ausstellung von 1898

Dieser Max Benirschke also, Gräsers Studienkamerad, wurde der einflussreichste Lehrer für Beuys. Er führte ihn zu Rudolf Steiner und er führte ihn zugleich, wenn auch zunächst weniger ausdrücklich, zu Gräser und Diefenbach. Aber auch Steiner war von Gräser beeinflusst worden. Sie kannten sich schon aus Berliner Jahren, als Steiner noch für Nietzsche und Stirner schwärmte, und sind sich immer mal wieder begegnet. Einmal, im November 1905 in Zürich, übte Gräser scharfe Kritik an Steiner: er forderte eine "natürlichere" Theosophie. Dem ist der spätere Erfinder der Anthroposophie auch gefolgt. Seit dieser Zeit hat er Elemente der Lebensreform verstärkt in seine Lehre aufgenommen, so z. B. die Eurythmie.

Diefenbachmuseum in der Certosa von Capri

Diefenbach auf Capri

Nun aber: Beuys in der Certosa von Capri, wo Diefenbachs Lebenswerk, verstaubt und vergessen, quasi begraben lag. Die Begegnung mit dem struppigen, unbürgerlich gewandeten Kuttenträger muss für Beuys eine Befreiung bedeutet haben. Denn die zugeknöpfte asketisch-priesterliche Art von Steiner war nie seine Sache gewesen. Er ist nie ein offizieller Anthroposoph geworden. Seine Vorliebe für Tiere, für so elementare und sinnliche Materialien wie Filz und Fett und Honig entsprach so gar nicht der ätherisch-asketischen Ästhetik Steiners. Beuys liebte und zeichnete Bienen, erfand und bastelte eine „Honigpumpe". Gräser war der Dichter der Bienen und des Biens. Beuys pflanzte in Kassel 7000 Eichen. Gräser sang als Dichter vom „Weltenbaum", „Mahnbaum", „Menschenbaum", vom „Weltwunderbaum". Beuys mag diese Dichtungen nicht gekannt haben, aber die Atmosphäre von Wildheit, Wärme, Wanderfreiheit, Naturbegeisterung und tänzerischer Ekstatik, die Diefenbach und mehr noch Gräser umgab, war genau das, was er suchte. Die Nachwirkung finden wir in seinem letzten Werk, seinem Vermächtnis, kurz vor seinem Tod entstanden. In der neapolitanischen Installation ,Palazzo regale' (königlicher Palast) inszeniert er sich als heidnischen Sonnenkönig im Silberfuchsmantel, mit Sonnenscheiben an seiner Seite. In einer zweiten Vitrine als Wanderer mit Rucksack, Stock und Pilgertrommel. Die Identifikation sowohl mit Diefenbach wie mit Gräser, von dem Benirschke ihm erzählt haben wird, ist offensichtlich.

Installation
„Palazzo Regale"


"La rivoluzione siamo Noi"

Von dieser letzten Wende, dieser archaisch-neuheidnischen Proklamation im Leben von Beuys - die Installation erinnert an die Grabkammer eines Keltenfürsten - ist in Ausstellung und Katalog von Pamela Kort nichts zu finden. Zwar hat sie dankenswerterweise den Weg des Künstlers zu Diefenbach aufgehellt -aber es fehlt die Pointe, es fehlt die Selbstkrönung des Joseph Beuys zum Sonnenkönig und Wanderpropheten. Warum? - Weil Kort ihn partout als Jesusapostel vorführen will. Von den 19 Werken des Künstlers, die sie im Katalog abbildet, beziehen sich nicht weniger als 18 auf Jesus. Es handelt sich meist um Kreuzesdarstellungen aus seinen frühen Jahren in der Schule von Ewald Matare. Als ob Beuys so etwas wie eine anthroposophischer Herrgottsschnitzer gewesen wäre! Das Eigene, das Neue von Beuys wird völlig verfehlt: seine Hinwendung zum Elementaren, zu den Dingen, deren Eigenart er zum Sprechen bringt -jenseits und unabhängig von allen Überlieferungen. Er tut damit dasselbe, was Gräser mit der Sprache getan hat, indem er die Sprachlaute jeder Bedeutung entkleidete und allein ihren Stimmungswert, ihr „Lauten" sprechen ließ.


Die Entdeckung von Pamela Kort ist wertvoll, aber die Kuratorin tut nur den halben Schritt. Sie verfolgt den Weg des Künstlers Beuys von Düsseldorf nach Capri, aber sein Bekenntnis zum Elementaren, Sinnlichen, Hiesigen will sie nicht nachvollziehen. Beuys bleibt in ihrer Darstellung baumlos und bienenlos; der Honig, der auf unterirdischen Bahnen von Diefenbach und Gräser zu dem Plastiker strömte - er wird nicht aufgefangen und nicht dargereicht, er tröpfelt nur.