Berner Intelligenzblatt / Nummer 201 / 22.10.1916 / Seite 2
Kleines Feuilleton
Otto Borngräber
M.I. Otto Borngräber, der im Alter von 42 Jahren in Lugano gestorben ist, war zum Künstler berufen und ist Apostel geworden. Dieser seltenen Verquickung einer Doppelmission war die scheinbar geschlossene Persönlichkeit Borngräbers nicht gewachsen. Der Künstler Borngräber besass ein ausgesprochenes Gefühl für sprachliches Pathos. Was ihm aber fehlte, war jene Urlust am Gestalten und Umgestalten, die den Künstler schöpferisch macht. Er ging nie von Menschen aus, sondern stets von der Idee. Und diese Idee selbst entsprang nicht menschlichen Schicksalen und Entwicklungen, wie etwa die Idee von der Determiniertheit des Menschen erst aus den Schicksalen der dekadenten Vertreter einer willensschwachen Generation hervorging. Es war vielmehr einer reinen Forderung, der die Gestalten, welche die Idee darzustellen hatten, menschlich untergeordnet worden. Das ist auch der Grund, warum dem Dramatiker Borngräber der Erfolg versagt blieb. Er stellte keine Menschen auf die Bühne, sondern wandern den Ideen und Forderungen. Man hat ihn in Deutschland als Künstler nicht vorgenommen, und man beginnt damit sicherlich kein Unrecht. Diesmal braucht sich die Nachwelt nicht zu entrüsten über die Verkennung eines grossen Zeitgenossen.
Bei Tolstoi war die Mischung zwischen Christentum und Apostelmission glücklicher. Da war der Künstler stark genug, um in jedem Fall seine Pflichten geltend zu machen. Bei Borngräber aber hat die Apostelmission das Künstlertum aufgesogen. Er selbst war sich dessen bewusst und konnte deshalb seine Ablehnung begreifen. Er sah eben seine Vollendung nicht im Künstlertum. Er sucht in sich den Menschen, den Verkünder. Anlässlich einer Äusserung über die Uraufführung seines Weltfriedensdramas bemerkte er: „Man lobte dies und das, aber man sah nicht die Idee, die weltumfassende, göttliche Idee." Das ist es, die Idee des Weltfriedens! Man darf ihn allerdings nicht verwechseln mit den Friedensaposteln, die heute in die Posaunen stossen, die aus persönlicher Überzeugung und aus Vernunftsgründen das Ende des Krieges fördern. Borngräbers Sehnsucht nach dem Frieden, die stark und mächtig genug war, um ihm in einer Zeit des strengen nationalen Zusammenschlusses das freie Weltbürgertum zu erhalten, entstammte viel tieferen Quellen. Borngräber bekannte sich zum Mitleid. Es war das grosse, entscheidende Erlebnis seiner Jugend. Mitleid mit der leitenden Kreatur, dem geplagten Tier, den gequälten Menschen, Mitleid mit der ganzen Menschheit, die die Tragik ihres Seins durch den Krieg noch selbst ins Unendliche steigert. Mitleid heraus oder wurde die Idee des ewigen Weltfriedens geboren, in deren Dienst er mit leidenschaftlicher Hingabe sein Dichten und Denken, ja sein Leben stellte.
Er hatte etwas von der Natur eines Stürmers und Drängers, wollte unter allen Umständen begeistern. Allein seine eigene Begeisterung vermochte nicht auf weitere Kreise über zugreifen, ihre Wirkung blieb beschränkt auf eine verhältnismässig geringe Zahl von Anhängern. Der Fehler lag nicht an ihm, sondern an der Zeit. Es war nicht seine Zeit. Man ertrug das mächtige Pathos seiner Sprache nicht, man lächelte darüber. Seine Werke aber überklebte man mit der Aufschrift: Tendenz. Damit war der Künstler gerichtet. Für Apostel aber hat die Zeit taube Ohren.