Holzfällerlied

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Der Sänger, der aus dem Wald kommt


Und eines Tages war es wirklicher Gesang.
Es war erst, als ob tief im Walde ein Holzfäller zu seiner Arbeit sänge.
Dann mischte sich das Trillern und Zwitschern der Vögel hinein ….
Doch war es überhaupt der Holzfäller, der den Gesang erschallen ließ?
Kamen die Axtschläge und der Gesang nicht aus verschiedenen Richtungen,
 voneinander getrennt, dennoch aufeinander abgestimmt?
Das klang fast wie ein Choral vieler Stimmen.
Nichtsdestoweniger, es war eine einzige Stimme,
die das Chorhafte bewältigte, und dies wurde merkbar, sooft sie,
gewissermaßen über sich selbst hinausschwingend,
 zu einer Art Arie wurde.


Unzweifelhaft, es war eine einzige Stimme,
eine einzige Mannesstimme, und unzweifelhaft kam sie näher,
 ihren Gesang vor sich hertragend,
begleitet und umflötet von Vogelgezwitscher,
zudem von einem mächtigen Schnee-Regenbogen überwölbt.
Holzfällerlied, Marschchoral, Psalm und Trosteshymne,
es war alles zugleich und von großer Schönheit
.     

Hermann Broch: Steinerner Gast (KW 5, 252f.)      

 

 

Wald – Du,

unsres Menschseins Wiege, wo grünt groß dein Traumgeraun?

Frost und Wurmfraß feiern Siege – Stürme brechen ein und Kriege,

weil uns starb, mit deinem Baum, auch der Andacht heilig Wesen,

der Gemütruh warmer Hauch, ohne die kein Geist genesen

kann, und kann die Run nit lesen, die ihn ruft zu heitrem Brauch.

*

Welt – wer kann dich wie dein Hochwald loben

in der schauerschönen Sommernacht, dieser duftvoll funkelsternereichen

Wandernacht voll deiner Wunderzeichen?

Helle spür ich meinen Mut entfacht! Heilge Speise hast du mir gespendet,

als dein Bote heute ausgesendet ward ich,

künden deine Waltemacht.

*

Hah, singe, sing,

oh Wunderweltenseel, sing, wilder Freund,

Waldgeist, rauhtrauter, sing!

Läut uns dein Lied, braus uns dein Sturmgedröhn,

durchfrischelüfte unser Wurmgewöhn,

hilf – uns – zum – Sprung –

zum notwendlustigen Weltgeisterstraus,

zur wiederwild ringfrohen

R E i n i g u n g –

nachhaus, nachhaus!

*

 

 


Die Kinder nannten ihn Großvater, Bienengroßvater. Und er ließ vor ihnen eine Biene über den Handrücken kriechen, die ihn nicht stach. … Er war bienengefeit und weltgefeit und vielleicht sogar schon todesgefeit; das ahnten sie, das wußten sie. …

Als einen, der von dort drüben kommt, sahen sie ihn, als einen Teil der Wälder, der Flüsse, der Hügel, als einen Teil der Natur, als einen Teil des Todes, er selber schon heilende Natur, er selber schon heilender Tod. …

War er außerhalb der Stadt, so atmete er auf; er gehörte nicht mehr dahin, er gehörte überhaupt in keine Wohnung, unter kein Dach mehr: bei schlechter Witterung ging es nicht anders, da mußte er in diesem oder jenem Dorf, bei diesem oder jenem Bauern übernachten: indes, wenn es nur halbwegs sich als tunlich erwies, schlief er im Freíen, eingebettet in die Verwobenheit von Leben und Tod, die in seinen Schlummer eindrang. Und öffnete er inmitten des Nachtdunkels oder im ersten Vormorgen das wiedererwachende Staunen seiner Seele, hinaufschauend zum schwebenden Firmament, hinablauschend zur ruhenden Erde, so wurde er selber zum schwebenden und ruhenden Erspüren der Ganzheit, er selber Ganzheit, welche die Ganzheit der Welt erfüllt und von ihr erfüllt wird: das Gestein unter ihm und …das Gebein in ihm wurden eins mit dem kühlen Leuchten der Sterne …

Und dieser unendlich gespannte Austausch zwischen den Polen des Belebten und Unbelebten enthüllte sich als das Unmittelbare schlechthin, als das innerste Gezeit der Ganzheit, als die unmittelbare Heiligkeit der Dauer, die aus dem unendlichen Wechsel von Leben und Tod hervorgeht, als die Heiligkeit der unmittelbaren Ferne, die den Menschen aufnimmt, soferne er sich ihr rückhaltlos unterwirft. …

Er war ein Handwerker gewesen, und jetzt war er ein Wanderlehrer. Doch wenn er singend durch die Landschaft dahinschritt, ein weißbärtiger, weißmähniger Hüne, da hing die Ferne als ein heiliger Mantel um ihn, und er war bienengefeit, lebensgefeit, todesgefeit.

 

Hermann Broch: Ballade vom Imker (KW 5, 91-93)

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Raum, ein‘ger Raum,

vom Winzigsten, vom Wuchtigsten durchzirkt,

vom ewgen Odem, vom Gottheitstrom tiefzährtlich warm durchwirkt,

von dem der Buchfink zinkt und Urhirsch röhrt im Walde tief,

der Uhu ruft, wie er in Urzeit rief,

durch den im Himmel tief aufblinkt das Weltgestirn, auch unsre Stirn

 durchkernend wie Kristall,

auch uns, auch uns einsternend tief ins Wunderall - in seinen

wildgewachsnen Weltendom, in seiner Ordnungsorgel

Tönestrom!

*

Horch, Mussmusik!

Aufbricht, aufspringt, aufklingesingt Urklang -

Allweltvermählungsang -

zum Notwendmahl singt unser Notmund hie Heilmelodie.

Aufschwingt sein Ton voll Weltwaldrauscheruh -

lauschrausche mit, Gesell, du Lieber du!

Und insgeheim wird Kraft uns zugesungen,

von Ganzheitmut, von Muttermut durchdrungen

wird aufgeschwungen uns

  Alltrost im Schwer -

voll Urbehagen, voll donnersonnig menschenwürdgen Tagen,

voll Leben, Leben, lichtleicht, sternenhehr!

*

Horch –

bricht da nicht uns auf, Seelharfen stimmend,

Weltmusikus Alldrein,

anstimmend uns den Sang aus Allerinnerung:

"ALLEIN",

das Lied der Lieder,

das immer wieder nach ungeheuer grauser Weltenpein

zum Blühn sie weckt mit Urgesang

wie Sonne wahr?

*

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Horch - Mussmusik!

O stille, Freund - o schweigen -

dass Mein und Dein grundrein ins Wirken rinnt,

urheimlich keimt, herzreimlich treibt ins Zweigen und blüht und dient,

vonselberdient wie unser Eingeweid in unverwusst wesender Wirklichkeit,

von eitler Wissgier nimmer frech entweiht,

gezerrt ins Licht, wo 's Keimleinzahrte härtet, verdorrt und bricht -

genug, genug wenn hieda ahneschaund Vernunft vernimmt,

was Welturwesen raunt -

Bei Blüht und Hummel, jah, da brummelspricht es,

das Heilgeheimnis, offneren Gesichtes -

beim Baum, der tausendtausend Früchte bringt - wem bringt er sie?

Er lächelt rot und winkt:

"Komm, brauche mich, brich meine Frucht, o Mensch -

ich brauch auch Dich,

brauch Deine Hand, mir zugewachsen, traulich anverwandt,

Samen zu tragen weit und breit ins Land - - -

Bist jah zu mir - ich Dir tief zugesellt -

wir - all - Wirall - sind - eine - Wunderwelt!

*

Weltlebenslied –

nit immer klar vielleicht, erst mal nur stotterstolpernd,

wie Hummelbrummelei ums Blümchen holpernd,

nachnach erst heiter wie des Aares Bogen

durchs Blau dahergejauchzet und geflogen.

*

Kein Schreiben bloß, ein Aufbruch ist’s, ein Schreiten!

Das geht bereits mit Herzenstaktgeton aus allem Irrwahn

ins Urheilgewohn - vonselber geht’s, wie’s grad von Grund geboren.

Aufauf, ihr Augen, auf, ihr Herzensohren,

zu Wanderfahrt, zur Lebenswunderfahrt,

mit Urwort-Sinnsang-Musika dabei, Ihr Wonnehungrigen –

dumdirl dumdei!

*


 

Der Sehende (mag er auch vor lauter Sehen schließlich blind werden, ja dann erst recht) singt die Sichtbarkeit, singt die stets sich erneuernde Sichtbarkeit des Lebens, singt das Neue, und darum singt er sich selber.

 Nur der wirklich Sehende singt wirklich. Und was immer im Lied des Wanderers mitklingt, das Summen der Bienen bis herab zum Brummen der Hummeln und hinauf bis zum weichklirrenden Jauchzen der Lerche, es ist niemals Nachahmung der Töne, sondern es ist das gesehene Bienengeschwärme, ist die gesehene Lerchenhöhe und mehr noch: es ist das Unsichtbare im Geschehen, übergetreten in den Ton. Das war das Singen des Alten; das Singen war er selber.

Hermann Broch in ‚Aussteigen‘, S. 87f.

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Gusto Gräser  

Eine der markantesten Erscheinungen auf dem Monte Verità war Gusto Gräser: Urbild des ‚peregrinus‘, des Wanderers, des Wanderpredigers, des Propheten einer neuen Glücks-botschaft. Die richtete sich gegen das Leistungsprinzip der Industriegesellschaft, gegen alle Formen der Vermassung, der Einschränkung individueller Freiheit durch Ausbeutung und Versklavung. Als Ziel benannte er ein irgendwie naturnäheres, einfacheres Leben, gegründet auf menschlicher Solidarität und Hilfsbereitschaft. Es war eine Botschaft, die dem franziskanischen Ideal mittelalterlicher Christlichkeit nicht fernstand, wenn auch alles Theologische im dogmatischen Sinne keine Rolle spielte. Der Typ Gusto Gräser hat auf die Gestaltung zweier ‚pellegrini‘ in Brochs Romanen Einfluss gehabt: mit literarisch-mythischen Attributen versehen auf den Imker Lebrecht Endeguth in den Schuldlosen und – im Sinn einer Negativ-Imitation – auf den machtgierig-sektiererischen Aufwiegler Marius Ratti in der Verzauberung. Sowohl Lebrecht Endeguth – dessen Name etwas allzudeutlich ein ethisches Programm verkündet – wie auch Marius Ratti sind „Wanderlehrer“ (KW 5, 224) bzw. „Wanderprediger“ (KW 3, 208). Das haben sie mit Gusto Gräser gemein.

Paul Michal Lützeler in ‚Aussteigen um 1900‘, S.37

In Wien war Hermann Broch mit dem Maler Anton Faistauer befreundet, der ab 1909 für drei Jahre die Sommer in Ascona verbrachte. 1910 lud Faistauer Gusto Gräser – mit bürgerlichem Namen Gustav Arthur Gräser (1879-1958) – nach Wien ein, wo Gräser für ein Jahr in den Wiener Künstlerkreisen verkehrte: Gusto Gräser, künstlerischer Aussteiger und in Wien als auffällige Figur und Barfußprophet stadtweit bekannt, gilt als Vater der Alternativbewegung und Gandhi des Westens. Hermann Hesse fand in ihm seinen Meister, Thomas Mann verteidigte ihn als Mann reinen Herzens, auch vielen anderen Künstlern der Moderne galt er als inspirierendes Modell alternativen Denkens und Lebens.

Doren Wohlleben in ‚Aussteigen um 1900‘, S. 518