Wald – Du,
unsres Menschseins Wiege, wo grünt groß dein Traumgeraun?
Frost und Wurmfraß feiern Siege – Stürme brechen ein und
Kriege,
weil uns starb, mit deinem Baum, auch der Andacht heilig
Wesen,
der Gemütruh warmer Hauch, ohne
die kein Geist genesen
kann, und kann die Run nit
lesen, die ihn ruft zu heitrem Brauch.
*
Welt – wer kann dich wie dein Hochwald loben
in der schauerschönen Sommernacht, dieser duftvoll
funkelsternereichen
Wandernacht voll deiner Wunderzeichen?
Helle spür ich meinen Mut entfacht! Heilge
Speise hast du mir gespendet,
als dein Bote heute ausgesendet ward ich,
künden deine Waltemacht.
*
Hah, singe, sing,
oh Wunderweltenseel, sing,
wilder Freund,
Waldgeist, rauhtrauter, sing!
Läut uns dein Lied, braus uns dein Sturmgedröhn,
durchfrischelüfte unser Wurmgewöhn,
hilf – uns – zum – Sprung –
zum notwendlustigen Weltgeisterstraus,
zur wiederwild ringfrohen
R E i n i g u n g –
nachhaus, nachhaus!
*
Raum, ein‘ger Raum,
vom
Winzigsten, vom Wuchtigsten durchzirkt,
vom ewgen
Odem, vom Gottheitstrom tiefzährtlich
warm durchwirkt,
von dem der
Buchfink zinkt und Urhirsch röhrt im
Walde tief,
der Uhu ruft,
wie er in Urzeit rief,
durch den im
Himmel tief aufblinkt das Weltgestirn, auch unsre Stirn
durchkernend wie Kristall,
auch uns,
auch uns einsternend tief ins Wunderall
- in seinen
wildgewachsnen Weltendom,
in seiner Ordnungsorgel
Tönestrom!
*
Horch,
Mussmusik!
Aufbricht,
aufspringt, aufklingesingt Urklang
-
Allweltvermählungsang -
zum
Notwendmahl singt unser Notmund hie
Heilmelodie.
Aufschwingt
sein Ton voll Weltwaldrauscheruh -
lauschrausche
mit, Gesell, du Lieber du!
Und insgeheim
wird Kraft uns zugesungen,
von Ganzheitmut,
von Muttermut durchdrungen
wird
aufgeschwungen uns
Alltrost
im Schwer -
voll
Urbehagen, voll donnersonnig menschenwürdgen
Tagen,
voll Leben,
Leben, lichtleicht, sternenhehr!
*
Horch –
bricht
da nicht uns auf, Seelharfen stimmend,
Weltmusikus Alldrein,
anstimmend uns den Sang aus Allerinnerung:
"ALLEIN",
das Lied der Lieder,
das immer
wieder nach ungeheuer grauser Weltenpein
zum Blühn
sie weckt mit Urgesang
wie Sonne wahr?
*
Horch - Mussmusik!
O stille, Freund - o schweigen -
dass Mein und Dein grundrein ins Wirken rinnt,
urheimlich keimt, herzreimlich
treibt ins Zweigen und blüht und dient,
vonselberdient
wie unser Eingeweid in unverwusst
wesender Wirklichkeit,
von eitler Wissgier nimmer frech
entweiht,
gezerrt ins Licht, wo 's Keimleinzahrte
härtet, verdorrt und bricht -
genug, genug wenn hieda ahneschaund
Vernunft vernimmt,
was
Welturwesen
raunt -
Bei Blüht und Hummel, jah, da brummelspricht es,
das Heilgeheimnis, offneren
Gesichtes -
beim Baum, der tausendtausend Früchte bringt - wem bringt er
sie?
Er lächelt rot und winkt:
"Komm, brauche mich, brich meine Frucht, o Mensch -
ich brauch auch Dich,
brauch Deine Hand, mir zugewachsen, traulich anverwandt,
Samen
zu tragen weit und breit ins Land - - -
Bist jah zu mir - ich Dir tief
zugesellt -
wir - all - Wirall - sind - eine
- Wunderwelt!
*
Weltlebenslied –
nit
immer klar vielleicht, erst mal nur stotterstolpernd,
wie Hummelbrummelei
ums Blümchen holpernd,
nachnach erst heiter wie des Aares Bogen
durchs Blau dahergejauchzet
und geflogen.
*
Kein Schreiben bloß, ein Aufbruch ist’s, ein
Schreiten!
Das geht bereits mit Herzenstaktgeton
aus allem Irrwahn
ins Urheilgewohn -
vonselber geht’s, wie’s grad von Grund
geboren.
Aufauf,
ihr Augen, auf, ihr Herzensohren,
zu Wanderfahrt, zur Lebenswunderfahrt,
mit Urwort-Sinnsang-Musika dabei, Ihr Wonnehungrigen –
dumdirl
dumdei!
*
Eine der markantesten Erscheinungen auf dem
Monte Verità war Gusto Gräser: Urbild des ‚peregrinus‘, des Wanderers,
des Wanderpredigers, des Propheten einer neuen Glücks-botschaft. Die
richtete sich gegen das Leistungsprinzip der Industriegesellschaft,
gegen alle Formen der Vermassung, der Einschränkung individueller
Freiheit durch Ausbeutung und Versklavung. Als Ziel benannte er ein
irgendwie naturnäheres, einfacheres Leben, gegründet auf menschlicher
Solidarität und Hilfsbereitschaft. Es war eine Botschaft, die dem
franziskanischen Ideal mittelalterlicher Christlichkeit nicht fernstand,
wenn auch alles Theologische im dogmatischen Sinne keine Rolle spielte.
Der Typ Gusto Gräser hat auf die Gestaltung zweier ‚pellegrini‘
in Brochs Romanen Einfluss gehabt: mit literarisch-mythischen Attributen
versehen auf den Imker Lebrecht Endeguth in
den Schuldlosen und – im Sinn
einer Negativ-Imitation – auf den machtgierig-sektiererischen Aufwiegler
Marius Ratti in der Verzauberung.
Sowohl Lebrecht Endeguth – dessen Name
etwas allzudeutlich ein ethisches Programm
verkündet – wie auch Marius Ratti sind „Wanderlehrer“ (KW 5, 224) bzw.
„Wanderprediger“ (KW 3, 208). Das haben sie mit Gusto Gräser gemein.
Paul Michal Lützeler in ‚Aussteigen um
1900‘, S.37
In Wien war Hermann Broch mit dem Maler
Anton Faistauer befreundet, der ab 1909 für
drei Jahre die Sommer in Ascona verbrachte. 1910 lud Faistauer
Gusto Gräser – mit bürgerlichem Namen Gustav Arthur Gräser (1879-1958) –
nach Wien ein, wo Gräser für ein Jahr in den Wiener Künstlerkreisen
verkehrte: Gusto Gräser, künstlerischer Aussteiger und in Wien als
auffällige Figur und Barfußprophet stadtweit bekannt, gilt als Vater der
Alternativbewegung und Gandhi des Westens. Hermann Hesse fand in ihm
seinen Meister, Thomas Mann verteidigte ihn als Mann reinen Herzens,
auch vielen anderen Künstlern der Moderne galt er als inspirierendes
Modell alternativen Denkens und Lebens.
Doren Wohlleben in ‚Aussteigen um
1900‘, S. 518