Der falsche Prophet
Hermann Brochs Berg-Roman
Der Schriftsteller Hermann Broch (*1.11.1886 in Wien; †30.5.1951 in New Haven, Connecticut) muss Gusto Gräser 1910 in Wien kennen gelernt haben, als beide dort im Künstlermilieu verkehrten. Broch war mit dem gleichaltrigen Maler Anton Faistauer befreundet, der die Sommer 1909-12 in Arcegno und Ascona verbrachte und im Januar 1910 Gräser in Wien empfing. Fast ein Jahr lang bewegte sich Gräser im Kreis der Wiener Künstler. Der Barfußprophet musste Broch faszinieren und abstoßen zugleich. Fünfundzwanzig Jahre später, in der Hitlerzeit um 1935, als er sich selbst aufs Land zurückzieht, schreibt Broch seinen ‚Berg‘-Roman unter dem Titel ’DerVersucher’ oder ‚Die Verzauberung‘ . Die Hauptfigur Ratti ist wie Gräser ein Wanderer oder „Landstreicher“ mit Zurück-zur-Natur-Vorstellungen, Vegetarier, der Maschinen ablehnt, mit hohem Prophetenton seine Zuhörer verzaubert. „Wanderprediger einer abstinenten Sekte mit kommunistischem Einschlag“ wird er genannt. Das trifft voll auf Gräser zu und die Veganer vom Monte Verità mit ihren idealkommunistischen Vorstellungen. Ratti will Gold holen aus dem Zwergenstollen im Berg. Er ist Rutengänger und Goldgräber (und Gold, „Sonnengold“, ist eine beliebte Metapher bei Gräser). Broch zeichnet ihn als Verführer, ist aber selbst von ihm fasziniert. Als Gegenfigur stellt er ihm die als Demeter stilisierte Mutter Gisson („Gnosis“) entgegen, nicht ahnend, dass Gräser ein dichterischer Verehrer der Großen Mutter war.
Höhepunkt der Handlung im Berg-Roman ist die rituelle Opferung eines Mädchens. Es handelt sich um Irmgard, die Enkelin von Mutter Gisson, die zur „Bergbraut“ erklärt und bei einem Bergfest getötet wird. Nun fällt auf: Ein ganz ähnliches Geschehnis bildet auch den Höhepunkt in einem anderen Roman - in dem Monte Verità-Roman ‚Klaps‘ von Emil Szittya (1923). Ein dreizehnjähriges Mädchen, die Tochter einer „Heiligen“, wird geopfert, um den „neuen Staat“ – gemeint ist der „Wahrheitshügel“ von Ascona, der Monte Verità – zu retten. Inszeniert wird das Verbrechen von einem zynischen Rattenfänger namens Papus, der sich als Usurpator auf dem Berg eingenistet hat. Er verspricht den Massen ein Wunder, um seine diktatorische Herrschaft zu erhalten. Und die Massen gieren nach diesem Wunder, sie gieren nach dem Tod des jungfräulichen Mädchens. Der verzweifelten Mutter sagt man: „Deine Tochter wird eine Heilige. ... Deine Tochter wird auch einen Wahrheitshügel bekommen“ (Klaps 181). Dieser „Wahrheitshügel“ wird ein Grabhügel sein. Das Mädchen muss über einen Telegraphendraht laufen, der von Ascona zu den Brissago-Inseln führt, um dort schwarze Rosen, die Rosen des Todes, zu stehlen, die angeblich „alles heilen“ sollen. Dass das todgeweihte Kind buchstäblich über den Tele-graphendraht laufen muss, ist eine durchsichtige Metapher: Die Ermordung der Unschuldigen vollzieht sich im Zusammenspiel der Medien (deren Nachrichten über den Telegraphendraht laufen) mit der Sensationsgier der Massen, die angeheizt wird durch einen machtbesessenen Verführer. Man kann hier schon eine Vorahnung Hitlers vermuten (die Szittya durchaus nicht fremd war und für die es in seinem Roman vielfache Anzeichen gibt), auf jeden Fall aber haben wir eine Kritik der Massen und der Medien vor uns, die für Hermann Broch anziehend sein musste.
Der muss den Verfasser Emil Szittya gekannt haben, und er wird auch sein Buch gekannt haben. Denn Szittya bewegte sich 1910 im Künstlerkreis von Brochs Freund Anton Faistauer, reiste mit diesem und zwei weiteren Kollegen im selben Jahr ins Tessin, wo er mit dem Malertrio Faistauer, Schütt und Andersen in dem halb-verlassenen Dörfchen Arcegno zusammenlebte. Der Monte Verità war also das Ziel dieser jungen Leute, vom Monte Verità muss in den Künstlercafés von Wien viel die Rede gewesen sein, umso mehr, nachdem der Wanderprophet des Berges, Gusto Gräser, im Januar 1910 nach Wien kam, seine große Familie mitbrachte und durch seine auffällige Erscheinung schnell eine stadtbekannte Figur wurde. Szittya, der Vagabund und Chronist des Untergrunds, kam auch später öfters nach Wien, so für längere Zeit 1919, wo er die Zeitschrift ‚Horizonte‘ redigierte und seine Geschichten zum besten gegeben haben wird. Broch konnte sich den Monte Verità-Roman dieses Verfassers, der 1924 erschien – Roman über einen Berg, zu dem seine Freunde gepilgert waren, Roman um einen Berg, über den er schon so viel gehört hatte, Roman zudem über den rätselhaften Wanderprediger und Künstler, der ihm in Wien begegnet war – sicher nicht entgehen lassen.
Als in den Dreißigerjahren ein politischer Rattenfänger die Massen an sich zog und wie ein Erlöser gefeiert wurde, da musste sich Broch an den Roman von Szittya erinnern, in dem ein zynischer Verführer sich zum Herrscher über den Berg aufschwingt und zur Erhaltung seiner Macht sich nicht scheut, ein unschuldiges Kind, ein jungfräuliches Mädchen zu opfern: die Tochter einer Heiligen und damit die Seele, die Anima des Volkes. Wie später in Brochs Bergroman wird schon bei Szittya die verbrecherische Tat als blutdürstige Massenorgie in seitenlanger Breite geschildert. Anders allerdings als bei Broch, wo die Mutter Gisson merkwürdig passiv bleibt, stürzt sich in Szittyas Erzählung die Mutter der Geopferten auf den Drahtzieher Papus, um ihn zu würgen.
Kurz: Es kann kein Zweifel sein, dass Szittyas Roman auf Broch anregend gewirkt und zusammen mit den Erinnerungen an Gräsers Auftreten in Wien den Grundstoff für seinen Bergroman geliefert hat. Während aber Szittya in seiner Geschichte eindeutig für Gräser Partei nimmt, der ebenfalls ein Opfer des Intriganten Papus wird, ist Brochs Verhältnis zu Gräser-Ratti auffällig ambivalent. Wie Döblin gegenüber Wang-Lun und wie Gerhart Hauptmann gegenüber Emmanuel Quint kann er sich weder für ihn, noch tatkräftig gegen ihn entscheiden. Ja, in späteren Bearbeitungen geht Broch so weit, seinen Antihelden Ratti zum Gleichnis für Hitler zu stilisieren. Dabei gibt sein Roman deutlich genug zu erkennen, dass er sich der Anziehungskraft dieser Figur nicht völlig entziehen konnte. Hatte er sich doch selbst zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans in ein Dorf zurückgezogen, war dabei, die Werte des einfachen Lebens auf dem Land zu entdecken und zu feiern. Dass er seinem Protagonisten Ratti Züge eines Protohitler gab, war bei der damaligen Zeitlage naheliegend, war als dichterische Warnung vor dem faschistischen Massenwahn gemeint. Mit dem ursprünglich anregenden Modell hatte de romanhafte Gestaltung denkbar wenig zu tun. Einen echten von einem falschen Propheten zu unterscheiden ist keine leichte Sache. Broch hat sich darum bemüht, konnte aber, da er die spätere Entwicklung Gräsers und sein Werk nicht kannte, ihn überhaupt nicht näher kannte, ihm nicht gerecht werden. Dies war sicher auch nicht sein vorrangiges Ziel. Ihm ging es darum, seiner Zeit die Diagnose zu stellen, und dafür, für gewisse Gefahren und Versuchungen, denen auch Gräser ausgesetzt war (wenn auch nicht erlag), bot der Wanderer aus Siebenbürgen dann doch ein brauchbares dichterisches Bild.
Literatur:
Lützeler, Paul Michel |
Brochs ‚Verzauberung‘. Suhrkamp taschenbuch 2039, Frankfurt/Main 1983.
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Lützeler, Paul Michael |
Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Biografie. Wilhelm Fink Verlag, München2011. |
Natter, Tobis G./ Trummer, Thomas |
Die Tafelrunde. Egon Schiele und sein Kreis. Dumont, Köln 2006. |
Natter,Tobias G. u. a. (Hg.) |
Klimt persönlich. Bilder – Briefe –Einblicke. Brandstätter, Wien 2012. |
Sandberg, Glenn Robert |
The Genealogy of the Massenführer. Hermann Broch’s „Die Verzauberung“ as a Religious Novel. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1997. |
Schaffer, Nikolaus |
Anton Faistauer,1887-1930. Museum Carolinum Augusteum, Salzburg 2005. |
Schröder, Klaus Albrecht |
Egon Schiele. Eros und Passion. Prestel Verlag, München /New York 1998.
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Schwarzwälder, Florens |
Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil . Transcript. Bielefeld 2019.
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Streibel, Robert (Hg.)
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Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis. Picus, Wien 1996 |
Szittya, Emil |
Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt. Potsdam 1924.
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