Barbara Mahlmann-Bauer/Paul Michael Lützeler (Hg.):
Aussteigen
um 1900.
Imaginationen in der Literatur der Moderne. Wallstein,
Göttingen 2021.
Imker,
Sänger, Wanderlehrer und Prophet
Gusto Gräser in Dichtungen von Hermann Broch
Mehr
als ein Dutzend bekannter Literaturwissenschaftler haben ein Buch über
"Aussteiger" bei Hermann Broch geschrieben; im Grund ist es ein Buch
über Gusto Gräser. Die Entdeckung, dass der Siebenbürger das Urbild
für mehrere Aussteigergestalten in der Dichtung von Broch gewesen ist,
dürfte der Anlass zu diesen Untersuchungen gewesen sein.
Der
Schriftsteller Hermann Broch (1886-1951) gehört, neben Thomas Mann,
Robert Musil, Hermann Hesse und Franz Kafka zu den Klassikern der
modernen Literatur. Alle diese Autoren, vielleicht mit Ausnahme
Musils, blieben von der prophetischen Erscheinung des Siebenbürgers
nicht unberührt, manche haben ihn zur Hauptgestalt ihrer Werke
gemacht. Paul Michael Lützeler und Barbara Mahlmann-Bauer haben nun
einen Sammelband herausgebracht, der die Nachwirkungen von Gusto
Gräser und seines Monte Verità im Werk von Broch in einer Reihe von
Aufsätzen verfolgt. Das Buch beruht auf einer wissenschaftlichen
Tagung, die 2018 im Centro Stefano Franscini
der ETH Zürich auf dem Monte Verità in Ascona abgehalten wurde.
Die
Beiträge behandeln oder erwähnen auch die Lehrer, Schüler und Freunde
Gusto Gräsers: so den Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm
Diefenbach, dessen Schüler, den Jugendstilmaler Höppener-Fidus,
den Wandervogel und Schriftsteller Walter Hammer, die Gräserfreunde
Friedrich Muck-Lamberty, Hermann Hesse,
Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf, Anton Faistauer,
Mary Wigman und andere,
die an dem Projekt des Monte Verità beteiligt waren. Auch andre
Zentren der Lebensreform wie Hellerau und Dresden, die Künstlerbohème
von München, Wien und Berlin, sowie Sympathisanten wie Rilke und
Gerhart Hauptmann kommen zu Beachtung, sodass ein Grundlagen-werk über
Lebensreform und Literatur entstanden ist, wie es bisher keines
gegeben hat.
Hermann
Broch, Sohn eines Textilfabrikanten, wuchs in Wien auf und übernahm
zunächst das väterliche Unternehmen. Er bewegte sich zugleich in einem
befreundeten Künstlerkreis, zu dem Egon Schiele, Koloman Moser und
Anton Faistauer gehörten. Eine Gruppe
dieser „Neukünstler“ war zwischen 1909 und 1912 jährlich nach Ascona
gezogen, hatte sich mit Gusto Gräser angefreundet und ihn nach Wien
eingeladen. Dorthin, wo er selbst studiert und entscheidende Prägungen
durch Diefenbach empfangen hatte, zog Gräser mit seiner großen Familie
im Februar 1910 und wurde durch seine Auftritte und Vorträge allgemein
bekannt. Allein schon seine äußere Erscheinung im Rübezahlgewand
war Kulturprotest in Reinform und musste die Aufmerksamkeit des jungen
Broch erregen, der als Kulturkritiker den „Zerfall der Werte“
diagnostizierte. In dem philosophisch und künstlerisch Interessierten
regten sich zunehmend Zweifel am Sinn seines technisch-kaufmännischen
Tuns, die schließlich dazu führten, dass er seine Fabrik verkaufte, um
sich ganz der Philosophie und der Literatur zu widmen. 1935 zog er in
ein abgelegenes Bergdorf in Tirol, wo sein ‚Berg‘-Roman entstand, eine
Warnung vor dem faschistischen Missbrauch lebensreformerischer Ideen.
Broch setzte sich, ähnlich wie Thomas Mann, zum Ziel, dem falschen
Mythos der Hitleranhänger einen „Gegenmythos“ entgegenzustellen. In
den USA, wohin er wie Mann und viele andere Hitlergegner emigriert
war, schrieb Broch den Roman ‚Die
Schuldlosen‘, in dem ein Imker zum Bringer einer neuen
Welteinsicht erhöht wird. Dieser „Imker“ und „Hirt“ trägt die Züge
Gusto Gräsers.
Warum
Imker? - 1910 und in den Jahren davor war Gustos älterer Bruder Karl
immer wieder aus Ascona
nach Wien gekommen. Er war Obstbauer und Imker, wollte in der
Donaumetropole eine Fabrik für seine Erzeugnisse errichten, kaufte
dafür Maschinen und Obst. Er wird sicher auch seinen Honig und, wie in
anderen Städten auch, seinen mehrfach preisgekrönten
Reform-Bienenkasten angeboten haben. In der Phantasie von Broch
verschmolz sein Bild mit der noch eindrücklicheren Gestalt des
besitzlosen Wanderers und Wanderlehrers Gusto, in dessen Denken und
Dichten der „Bien“ und die Bienen einen zentralen Platz einnehmen.
Broch war zu dieser Zeit schon ein harter Kulturkritiker geworden und
befand sich auf der Suche nach einem Heilsbringer oder Erlöser, der
die neue Zeit und den kommenden Gott heraufbringen würde. In dieses
Hoffnungsbild passte kein anderer so genau wie Gusto Gräser. Dessen
biblische Erscheinung war in Wort und Tat ein
einziger Herausruf aus der, nach beider Meinung, dem
Untergang geweihten überkommenen Kultur und Gesellschaft. Schrittweise
und teilweise folgte Broch diesem Ruf, indem er erst seine Fabrik
verkaufte, dann sich in ein abgelegenes Bauerndorf zurückzog. Dort
schrieb er seinen Berg-Roman, in dem er, antwortend auf die politische
Lage und Gefahr, sein Gräser-Bild antithetisch aufteilte: in das
Negativbild des Marius Ratti einerseits und in das Positivbild der
Mutter Gisson andererseits. Mit der Figur
des Ratti sollte vor dem Rattenfänger Hitler gewarnt werden, in Mutter
Gisson verkörperte er seinen
„Gegenmythos“. Mutter Gisson lehrt, was Gräser lehrt: die „Heimkehr
zur Wirklichkeit“. Und
„das Wirklichste in der Welt“ ist für sie: „das Herz“ (KW 5, 224).
Gräser spricht von „Herzwirklichkeit“. „Denn
er ist Herz, und Herz muss eben schlagen, vorschlagen ringruhheitre Weltnotwend“. Die Entsprechungen zwischen
Gräser und Gisson, wie später zwischen
Gräser und dem Imker, sind Legion.
Damit
soll nicht behauptet werden, dass Broch bei Gräser „abgeschrieben“
habe. Wohl aber, dass der
Anstoß, den der Siebenbürger ihm gegeben hat, in ihm weiterwirkte und
zu überraschend ähnlichen Folgerungen führte.
Erst recht gilt das für die Gestalt
des „Urgefährten“ und des „Imkers“. Die Gewissensmahnung, die von
Gräser ausging, sein unerbittlicher Ruf zu praktischer Konsequenz, zu
Übereinstimmung von Wort und Tat, ließ ihn
im Nachbild auch zum „Steinernen Gast“ werden, der in der
Todesstunde Verantwortung fordert. Seine menschenfreundliche Seite
kommt im „Imker“ zum Vorschein, im „Bienengroßvater“ , der am Ende
auch seinem Imkerhandwerk entsagt, um sich völlig der Freiheit des
Weltraums preiszugeben.
Im Falle Brochs war das eine
Sehnsuchtsphantasie, im Falle Gräsers aber harte Wirklichkeit, die
Armut und Not bedeutete, Verfolgt- und Verachtetsein. Darum hat
Gräsers Selbstbild und auch sein Bild der Großen Mutter eine so viel
härtere Kontur. Seine „Mutter Not“ und „Mutter Treu“ ist mehr als ein
weise Bäurin, mehr auch als eine weise
Imkerin, in ihrem Bild vereinigt Gräser die heimelige Wärme des
Bienenschwarms mit der eisigen Kälte des Weltraums. Tod und Leben,
Schönheit und Grauen werden eins.
Führt
man allerdings Brochs Mutter
Gisson, seinen Urgefährten, den Steinernen
Gast und den Imker zusammen, dann ergibt sich ein Gesamtbild, das der
gräserschen Mythosgestalt
doch sehr nahekommt. Was der Erzähler Broch dem Leser in kunstvoller
Verkleidung nahebringt, hat der Dichterprophet aus Siebenbürgen
unverhüllt ausgesprochen.
Worin
also liegt der Gewinn von Brochs Gräser-Umdichtung für die Deutung und
Rezeption des Siebenbürgers? - Sie hat dieselbe Bedeutung wie die
Umdichtungen von Hesse, Hauptmann, Bloch, Bruno Goetz, Emil Szittya
und anderen. Sie lehrt uns im Vergleich die Umrisse der
Prophetengestalt deutlicher und differenzierter zu erkennen, sie
bereichert zugleich diese Gestalt um zusätzliche und feinere Züge,
auch um kritische, wie in der Negativfigur des Ratti. Zusammengenommen
aber mit den Dichtungen der Kollegen erhebt sich daraus eine mythische
Figur, ja, eine Saga, die über alles Persönliche, Zeitgebundene und
Zufällige hinauswächst und den „reinen Tor“ aus Transsilvanien einfügt
in das Gewebe der Geistesgeschichte.
Paul
Michael Lützeler, Professor an der Washington University in St. Louis,
USA, ist Herausgeber der Kritischen Werkausgabe von Broch, zugleich
Biograf und Verfasser zahlreicher Schriften zu dem österreichischen
Schriftsteller, der nach seinem frühen Tod für den Literaturnobelpreis
vorgeschlagen wurde. Lützeler gilt unbestritten als der beste Kenner
und Deuter seines Lebenswerks.
Im
Folgenden werden Auszüge aus seinem Beitrag: ‚Brochs
„Aussteiger“ im Kontext der Lebensreformer auf dem Monte Verità
(S. 25-49) wiedergegeben. Auslassungen werden nicht durch eckige
Klammern gekennzeichnet, um sie nicht mit denen des Autors zu
vermischen. Es handelt sich also immer um echte Auslassungen.
Paul Michael Lützeler über Gusto Gräser
In Die Schuldlosen
von 1950 entwirft Broch das Bild eines … Aussteigers: des heilkundigen
Imkers als Personifikation einer postkolonialen und postindustriellen
Ethik, in der Menschenwürde als „irdisch-absolut“ verteidigt wird.
(11)
Der durch Europa vagabundierendes
Künstler, Dichter, Einsiedler und Prophet Gusto Gräser gehörte
ebenfalls zur Gründergeneration des Monte Verità. Mit seinen Lehren,
in denen sich Weisheiten des Fernen Ostens mit christlichen
Anschauungen mischten, wurde er zur zentralen Figur der Aussteiger-
und Alternativbewegung. Er hatte Einfluss auf Hermann Hesse, dem er in
Ascona wiederholt begegnete. In mehreren Dichtungen Hesses
– etwa in dem Roman Demian von
1917 – tauchen Figuren und Themen auf, die erkennen lassen, wie stark
die Persönlichkeit und die Philosophie von Gusto Gräser auf ihn
gewirkt haben. Gräser war der Aussteiger par
excellence, und es überrascht nicht, dass die Romane Hesses
auf die alternative Bewegung der 1960er und 1970er Jahre besonders in
den USA und Japan gewirkt haben. Da handelte es sich um neue
Jugendbewegungen, in denen man vieles attraktiv fand, was in der
anti-bürgerlich-pazifistischen Reformzeit um 1900 erprobt worden war.
Hermann Hesse war erstmals 1907 Gast
auf dem Wahrheitsberg, doch kam er wiederholt zurück, etwa während des
Ersten Weltkriegs, als Gusto Gräser eine Gruppe von Kriegsgegnern um
sich scharte. Gräser verwandelte das Projekt einer Heilanstalt auf dem
Monte Verità in das einer Künstler- und Philosophen-Kolonie. Zwischen
1916 und 1918 stand er im Mittelpunkt links-pazifistischer
Anti-Militaristen wie Hermann Hesse, Ernst Bloch, der hier den Geist
der Utopie schrieb, Yvan und Claire Goll, Emmy Hennings, Hugo
Ball, Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf.
(30f.)
Eine der markantesten Erscheinungen
auf dem Monte Verità war Gusto Gräser: Urbild des ‚peregrinus‘, des
Wanderers, des Wanderpredigers, des Propheten einer neuen
Glücksbotschaft. Die richtete sich gegen das Leistungsprinzip der
Industriegesellschaft, gegen alle Formen der Vermassung, der
Einschränkung individueller Freiheit durch Ausbeutung und Versklavung.
Als Ziel benannte er ein irgendwie naturnäheres, einfacheres Leben,
gegründet auf menschlicher Solidarität und Hilfsbereitschaft, die dem
franziskanischen Ideal mittelalterlicher Christlichkeit nicht
fernstand, wenn auch alles Theologische im dogmatischen Sinne keine
Rolle spielte.
Der Typ Gusto Gräser hat auf die
Gestaltung zweier ‚pellegrini‘ in Brochs
Romanen Einfluss gehabt: mit literarisch-mythischen Attributen
versehen auf den Imker Leberecht Endeguth
in den Schuldlosen und – im
Sinn einer Negativ-Imitation – auf dem machtgierig-sektiererischen
Aufwiegler Marius Ratti in der Verzauberung.
(37)
Just in den Tagen, als Hitler 1933 an
die Macht kommt, taucht der Imker in mythisierter Gestalt auf. …. Bald
schon werden dem Imker Qualitäten zuerkannt, die ihn – vergleichbar
den Reform-Propheten – in die Nähe eines Heilsbringers rücken. Der
Imker wird als Verkörperung der „heilenden Natur“ verstanden, und man
traut ihm „Todesbezähmung“ (KW 5, 91) zu. Das wird im Neuen Testament
als Ausweis von Göttlichkeit gewertet. … Im Fall des Imkers verwandelt der Autor eine zunächst
realistisch gezeichnete Figur in eine Person aus „heilige[r] Ferne“
(KW 5, 92), d. h. aus einem transzendenten Bereich. (38f.)
Der Imker mutiert zum „Steinernen
Gast“, d. h. bis zu einem
gewissen Grad zum Komtur aus Mozarts Don
Giovanni. Er ist aber nicht mit dem Rächer aus Mozarts Oper
gleichzusetzen, der Don Giovanni auf die Höllenfahrt schickt. … Er
richtet nach den Normen der christlichen Religion. Gleichzeitig gehen
in ihn auch jüdisch-messianische Vorstelllungen ein. Broch selbst
nannte den mythisierten Imker den „geisthaften Träger einer neuen
Welteinsicht“, die „berufen sein mag, die terroristische
Menschheitsepoche zu überwinden und an ihre Stelle wieder die der
ewigen Absolutheit des moralischen Gesetzes zu setzen“. Er sei daher
„der Prophet des unbekanntes Gottes, der von keinem Kult […]
erreichbar ist und trotzdem im Wissen des Menschen wohnt.“ (KW 5,
315-316). (40)
Gusto
Gräsers Bruder Karl war Imker, und Gusto übernahm nach dessen Tod
seine Bienenvölker. Mit ihrem Honig ernährte er seine große Familie.
In seiner Dichtung wurde der „Bien“ ein zentrales Bild für Ordnung,
Zusammenhalt, Solidarität, Treue. Die Weltseele erscheint ihm als
Bienenkönigin, als „Allmittmutter-Königin“.
Wer spielt mit – du Weib – du Mann? Hier – geht – an Tiefeinanderdienen wie die Simsumbienen, hilft uns heim aus Unheimwust, irreschwirre, stolperstammelnd Blütenhonigseim uns sammelnd, sonnge Eintrachtlust – sammelnd uns aus tausend Auen, unsern Menschenbien zu bauen, Großmut in der Brust. * Hei, wie das biengleich aus-ein-tänzeltummelt, allsingsangseelig immersammelsummelt - ein Tausendsaus, ein sommerduftig urfideles Haus! Nur angepocht! "Herein, herein," ruft 's Allmaidmütterlein - "Ihr gwissensbissig Wissenschaft-Verirrten! Lasst hier uns mal, fern Hirnverbranntheit Quaal, mit Wesenssaft, mit Lebensfrucht bewirten, mit Mahl, mit Mahl! * So immeremsig, neu und neu geboren, schaltwaltet Mutter Treu in ihrer Welt, in ihrem Bien, als alldurchtreumend hehre Königin, lächelnd der Wicht, die voller Bang, sie könnt entfliehn, die Holde, sie ketten wolln mit altem kaltem Golde - mit Pfffflicht - - - grad damit pustend aus ihr Schöpferwunder: Begeisterung - ihr stillgewaltig Licht! * Weit - weltweit fort vom Wissenswintergrause wohnen wir Hier in warmdurchsonnten Zonen, bei der Weisheiterkeit - Urmuttermaid - wir wandelwohnen in ihrem Frischgefahr-durchwehten Haus, uns zu bewirten wie die wilden Bienen, mit Seelenhonigseim ininniglich uns zu bedienen. Jah, mit dem Töchterlein der Urnatur, der großen Mutter aller Lebensflur - urjung, uralt - mag's wohl geschehn, dass sich die Menschgestalt, die vielgekränkte, doch noch entfalt' – dass an der Tochter Fühleführehand der Mann in uns entbrennt, urgeistentbrannt, mit Manneslust, mit Kindespflicht durchbrennend all den Wust durchbricht - den Toten lässt die Toten - und - heimwehheiss heimkehrt ins Licht, ins heitermilde Mutterlicht. * Hierher zu Fels und Baum, Getier und Kind, wo blitzejetzt, von keiner Dort-Fortlebenssorg verletzt, im ewgen Eben, im schönsten Leben wirall, Wirall in freundlicher Bewegung beisammen sind, beisamm wie 's Bienelein bei seinem Bien, bei seiner Allmittmutter Königin im Wäldergrund, im simsumsammelseeligen Weltsommerbund – * Heilloh, gegrüßt, wildheilig Bin, allewig Sein im Lebensbaum, heimtragehagend die Getreuen dein als wie den Bien die Immenkönigin in ihre, hah, unser, Unsere Wildwunder- Wirklichkeit! O* Gusto
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