„Er war phantastisch gekleidet und trug eine bunte griechische
Toga“ (Emil Szittya)
Der
phantastisch
Gekleidete
Doren
Wohlleben über
Gusto Gräser
(Auszüge aus dem Buch ‚Aussteigen
um 1900‘)
In ihrem Beitrag ‚Hermann
Brochs geistige Wanderschaft zum
Wahrheitsberg‘ (S. 517-562) skizziert Doren
Wohlleben den Weg von Brochs erstem Bekanntwerden mit Gusto Gräser
1910 in Wien
über seine Annäherung an die Eranos-Gesellschaft
von
Ascona bis zu den Romanen seiner späteren Jahre. „Über seinen
Malerfreund Anton
Faistauer könnte er
auf den künstlerischen Aussteiger und
Bruder des Mitbegründers der alternativen Reformbewegung von Ascona,
Gusto
Gräser, aufmerksam gemacht worden sein. Letzterer stand als
prophetische
Erlöserfigur Pate bei Emil Szittyas
Monte-Verità-Roman, von dem sich wiederum intertextuelle
Querverbindungen zu
Hermann Brochs Bergroman herstellen lassen. Brochs Wiener Bibliothek
lässt
erkennen, wie intensiv er sich bereits in den 1920er und 1930er Jahren
mit
alternativen religiösen Bewegungen sowie west-östlichen Begegnungen
auseinandergesetzt hatte“ (517). Hier sei davon abgesehen, dass Gusto
selbst
einer dieser Mitbegründer war und sogar der eigentliche Geistgeber und
Vorbereiter. Hatte er doch 1898 der Künstlerfamilie um den Maler Karl
Wilhelm
Diefenbach in Wien angehört und dort Erfahrungen in kommunitärem
Zusammenleben gesammelt, die er in Ascona in einem freieren Stil
umsetzen
wollte. Im Februar 1910 zog er von dort mit seiner großen Familie nach
Wien, wo
Freunde aus dem Kreis der „Neukünstler“ ihn gastlich aufnahmen.
Darüber
berichtet im Folgenden die Verfasserin:
In Wien war Hermann Broch mit dem
Maler Anton Faistauer befreundet, der ab
1909 für drei Jahre die Sommer
in Ascona verbrachte. 1910 lud Faistauer
Gusto Gräser
– mit bürgerlichem Namen Gustav Arthur Gräser (1879-1958) – nach Wien
ein, wo
Gräser für ein Jahr in den Wiener Künstlerkreisen verkehrte: Gusto
Gräser,
künstlerischer Aussteiger und in Wien als auffällige Figur und
Barfußprophet
stadtweit bekannt, galt als Vater der Alternativbewegung und Gandhi
des
Westens. Hermann Hesse fand in ihm seinen Meister. Thomas Mann
verteidigte ihn
als Mann reinen Herzens, auch vielen anderen Künstlern der Moderne
galt er als
inspirierendes Modell alternativen Denkens und Lebens.
Gusto Gräser war der Bruder Karl
Gräsers (1875-1915),
Mitbegründer der Reformsiedlung Monte Verità. Man kann spekulieren, ob
ein
Charakter wie Gusto Gräser als Vorbild diente, als Hermann Broch ein
Vierteljahrhundert
später für seinen Bergroman Die
Verzauberung den Protagonisten Marius Ratti entwarf: Auch Ratti
ist ein
unsteter Wanderer, ein Bergprediger, der einen hohen Prophetenton
anschlägt, um
seine Zuhörer zu verführen. Allerdings trägt Brochs negativer Held,
anders als
der friedliebende Gusto, Züge faschistischer Führerfiguren. (518)
Dieser Marius Ratti ist zwar wie Gräser ein „Wanderer“, „Wanderprediger“
und „Weltverbesserer“, der Maschinen und Städte ablehnt und die
Menschen zur
Erde zurückführen will: „Heilig ist das Brot, hat der Bauer gesagt,
heilig ist
unsere Nahrung, weil sie der Erde entstammt“. Aber im Gegensatz zu
Ratti war
der besitzlose Wanderer aus Siebenbürger ein leidenschaftlicher
Kämpfer gegen
jede Art von Zwang und Herrschaft. Doren Wohlleben fährt fort:
Eine weitere verborgene Verbindung
Hermann Brochs zum
Wahrheitsberg lässt sich zwar nur vermuten, ist aber intertextuell
reizvoll:
Ebenfalls im Künstlerkreis von Brochs Freund Anton Faistauer
bewegte sich der ungarische Maler, Journalist und Schriftsteller Emil
Szittya (1886-1964), dessen Monte
Verità-Roman Klaps oder
wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppot
1924
erschien. Szittya hielt sich von 1906 bis
1907
[richtig: zwischen 1908 und 1915; H. M.] auf dem Monte Verirà
auf und lernte dort Gusto Gräser kennen. Sein expressionistischer
Roman, der
die Welt als Klapsmühle zeichnet, liesrt
sich wie ein
grotesker Gegenentwurf zu Thomas Manns Zauberberg: anti-bürgerlich,
wahnhaft,
endzeitlich. Dort tritt ebenfalls, wie in Hermann Brochs Die
Verzauberung, ein
Worthändler auf, der als „der beste Agent des neuen Staates“ seine
vermeintlichen Prophetenworte gegen Geld zu vermarkten hofft. Er
„spielt wie
ein Seiltänzer mit den Worten“ und erinnert im Duktus stark an
Friedrich
Nietzsches Zarathustra. Eine machiavellistische Figur, der Irrenarzt
Dr. Funk,
will in Szittyas Roman einen neuen Staat
errichten:
angespielt wird auf den „Wahrheitshügel“ von Ascona. Über diesen Staat
heißt es
in einer karikaturistischen Szene aus dem Mund eines in „eine organgefarbene
Toga“ „phantastisch Gekleidete[n]“, der sich
seine Stirn mit einem „Myrtenkranz gepinselt“ hatte: „… In unserem
neuen Staat
wartet man auf all diejenigen, die sich in andern Staaten nicht beugen
können.
In unserem Staat findet die Allseele ein
harmonisches
Zusammenleben.“ (520)
Vorbild für diesen „phantastisch
Gekleideten“ ist zwar
zweifellos Gusto Gräser, doch, wie Doren
Wohlleben
selbst schreibt: „Szittya … verzerrt das
Geschehen
zur bewusst irritierenden Groteske“ (521). Ähnlich ambivalent wie
Broch im
Bergroman zeichnet Szittya zunächst ein
karikierendes
Negativbild des Wanderers und Wanderlehrers, den er dann doch
(in der selben Szene) als einen Christus auf
dem Weg nach Golgatha erscheinen lässt. Sein phantastisch Gekleideter
wird am
Ende in einer neuen Bartholomäusnacht das Opfer des zum Diktator des
Wahrheitshügels aufgestiegenen Dr. Funk. Szittya,
der
als Halbjude früh die Gefahr des heraufkommen Hakenkreuzlertums
erkannte, hat in seinem Roman eine hellsichtige Parabel geschrieben:
Der
Wahrheitshügel von Ascona wird zur Beute eines neuen Machiavell,
und der phantastisch Gekleidete, der (nicht gegen Geld sondern aus
idealistischer
Begeisterung) für dieses gesellschaftliche Experiment geworben hat,
findet
einen gewaltsamen Tod im Lago Maggiore.
Wohlleben fährt fort:
Einerseits begab
sich Broch bis kurz vor seinem Tod, so schreibt er in einem Brief an
Rudolf
Hartung vom 8. 2. 1950, auf die Suche nach einem „Gnadenbringer“, der
eine
„neue Religiosität“ erahnen lässt. Andererseits war Broch, der sich
jahrelang
mit der Massenwahntheorie
und ihrem
psychoanalytischen Fundament befasste, sensibilisiert für den
ideologischen
Nährboden falscher Propheten. Sein Bergroman stellte, dies schreibt er
seinem
Verleger Daniel Brody am 16. 1. 1936 vom Tiroler Bergdorf Mösern
aus, wo er sich über ein Jahr lang aufhielt, den „erste[n] religiöse[n] Roman“ dar, „wo das Religiöse nicht im Gottesstreitertum
usw. liegt, sondern im Nacherleben“, im –
hier lässt sich erneut an den Monte Verità denken – „Erd- und
Mutterkult“ (KW
13/1, 385f.). (521)
Einen derartigen „Kult“ hat es weder auf dem Monte Verità
noch bei Gusto
Gräser gegeben, wohl aber eine dichterische Verehrung der „Mutter Not“
und der
„Mutter Treu“. Diese „Urgroße Mutter“ hat
nichts mit
einem Blut-und-Boden-Kult zu tun. Sie wird als Bienenkönigin gezeichnet,
die die „Wissenschaftverirrten“
mit ihrem Honigmet ernährt. Sie ist die
große
Heilerin Natur: „In ihrer Hütten mitten in der Welt wildwonnig
wohnend, all Krumb und Krank zu junger
Schöne schonend“. Sie steht und
spricht für einen schonenden Umgang mit unserer Umwelt.
Der Imker ist
naturverbunden und steht in der antiken Tradition bukolischer
Hirtengedichte. Vergil
als römischer Friedensdichter ist also auch im Imker präsent. Denkt
man an die
berühmte Ekloge der Bucolica,
in der mit der Ankunft eines kleinen Knaben neue Geschlechter
ausgerufen werden
und das eiserne Zeitalter in ein goldenes umschlägt, ist es nicht
verwunderlich, dass sowohl die Vergil- als auch die Imker-Figur in
Begleitung
eines Kindes auftreten: Wie Lysanias das
messianisch
hoffnungsvolle „Doch schon“ verkündet, wenn sowohl der
Friedensherrscher als
auch der Friedensdichter noch daran zweifeln, so ist auch die
Ziehtochter des
Imkers, Melitta, märchenhaftes Sinnbild einer neuen Zeit. Ihretwegen
beginnt
der Adoptiv-Vater sogar wieder zu singen. Zugleich ahnt der alternde
Imker
jedoch – hierin wiederum Vergil vergleichbar – seinen eigenen Tod, der
ihn als
„Wanderlehrer“ (KW 5, 93) zur rastlosen Wanderschaft nötigt, die ihm
seine
„Fremdartigkeit“ (KW 5, 92), sein Aussteigertum,
erst
recht bewusstmacht. Der lyrisch inszenierte Abgang des Imkers – kurz
nach dem
Tod des Protagonisten A. - wird nicht nur von „Gesang“ begleitet,
sondern
darüber hinaus von einer eigentümlichen Lichtmetaphorik und
Dreieckssymbolik:
Von
ungeheurer Wirklichkeit durchflutet strömte dort um die
Dreiecksgrenzen das Nicht-Seiende,
die Auflösung des
Dreidimensionalen. Und getragen von dem blinden Blick der Mitte,
eingeflutet in
den Blick, umgeben von unsichtbaren Sternen, umkreist von unschaubaren
Zentralsonnen, sichtbar das Unsichtbare, klingend die Sterne, flutete
es herab,
aufgenommen hier von dem Gesang, der nun in unendlich vielen
Dimensionen
erscholl. (KW 5, 273f.) (531f.)
Während sich der
falsche Prophet Ratti selbstherrlich „auf seinem Wissen ausruht“,
lehrt der
Imker – wie sein lyrisches Vorbild Der
Urgefährte (KW 8, 66) – „Entwissen“
(KW 8, 66)
und ist sich seines Nicht-Wissens bewusst: Konsequenterweise
verzichtet er am
Ende, wie Vergil auch, auf die Sprache und gibt sich ganz dem Klang
der Worte,
dem „jenseits der Sprache“ (KW 4, 454) hin. (533f.)
Hier
wäre anzuschließen,
dass Gräser sich als den „Urfreund“ sah
und zugleich
als den „Urwirth“. Wie Broch suchte er das
„Jenseits
der Sprache“ in den Lauten und im Klang der Stimme. Seine Dichtung
endet im
Sphärengesang der „Allmusik“ oder
„Mussmusik“. Seine
Weisheit ist ein „Entwissen“.