Von Ascona nach Los Angeles

Ein Hungerkünstler erobert die Neue Welt

Arnold Ehret

Was verbindet Kafkas Erzählung 'Der Hungerkünstler' mit dem Monte Verità, und was den Monte Verità mit dem Weißen Haus?

Das verbindende Glied ist ein ehemaliger Realschullehrer aus St. Georgen im Schwarzwald, der am 26. Juni 1909 sich in Köln zu einem 51tägigen Fastenversuch einschließen ließ. In einer Glaszelle zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt,  verbrachte er 49 Tage ohne Nahrung und stellte damit einen  neuen Weltrekord auf. Er kam vom Monte Verità, wo er als "diätetischer Gesundungslehrer" auftrat; in Locarno will er ein eigenes Fastensanatorium unterhalten haben. In seinen Erinnerungen erweckt er allerdings den Eindruck, der Monte Verità sei sein eigenes Unternehmen gewesen, wie denn ein großsprecherischer Zug auch sonst in seinen Äußerungen und seinem Auftreten nicht zu übersehen ist. Hermann Hesse, der sich mit ihm vor der Naturheilanstalt Oedenkovens auf dem Berg fotografieren ließ, erwähnt in seiner Monte Verità-Satire 'Doktor Knölges Ende' die "Vorträge eines früheren badischen Lehrers namens Klauber, der in reinem Alemannisch die Völker der Erde über die Geschehnisse des Landes Atlantis unterrichtete". Er kann damit nur jenen Hungerkünstler gemeint haben, der sich als solcher Num Nafar nannte, in Wirklichkeit aber Arnold Ehret hieß und ein durchaus ernstzunehmender Lehrer des Heilfastens und einer gesunden Ernährungsweise war. Ehret kam nach 1914 in den USA zu Ruhm und Erfolg und ist dort bis heute ein Bestsellerautor in Ernährungs-fragen geblieben. Seine Bücher werden von einem eigenen Ehret-Verlag in Großauflagen vertrieben. Zu seinen dankbaren Verehrern bekannte sich auch die rebellische Tochter des amerikanischen Präsidenten Reagan.

Neben Ehret gab es noch eine Reihe radikalerer Lebensreformer oder "Naturmenschen", die seit etwa 1904  aus Deutschland in die Vereinigten Staaten kamen und dort zu Vorläufern und Vorkämpfern der späteren Alternativbewegung wurden. Ihr Lebensstil und ihre Anschauungen entsprachen so auffallend denen von Gusto Gräser, daß ein Zusammenhang angenommen werden muß. Sie sind vermutlich deshalb aus Deutschland ausgewandert, weil sie sich dem Zwang zum Militärdienst entziehen wollten. Mit ihren Health-Food-Läden und ihren Baumhäusern bildeten sie an der amerikanischen Ostküste die Keimzelle einer Lebens- und Kulturreform, die seit den Siebzigerjahren als "Alternativ-" und "New Age"-Bewegung auf den europäischen Kontinent zurückkehrte.

Arnold Ehret: Die Insel der Seligen


In den Berichten über Askona ist oft von spiritistischen Zirkeln und ihren Sitzungen die Rede, ohne daß Näheres darüber  gesagt würde. Hier nun, bei Ehret, finden wir zum ersten Mal die Darstellung einer solchen Sitzung durch einen Teilnehmer, ihn selbst.

Ehret erzählt von Hilda, einer jungen Frau, in die er sich einst als Student in München verliebt hatte. Seine Liebe war unerfüllt und darum umso lebendiger geblieben. Die Angebetete hatte einen vermögenden älteren Mann geheiratet, ihre Ehe war unglücklich gewesen und sie war früh gestorben. "Ich hatte nie einen von Hildas Briefen beantwortet. Ich konnte es nicht, und sie erwartete es nicht", erzählt er seiner Sekretärin. "Ich wußte nicht einmal von ihrem Tod, bis sie im Geist nach Askona kam."  "Sie besuchte mich dort. ... Allerdings nicht im Fleisch ... wir haben uns auf dieser Erde nicht wiedergesehen." 

Arnold Ehret, durch den Ausbruch des Weltkriegs in den USA festgehalten, erzählte  seiner Sekretärin Anita Bauer die Geschichte seines Lebens. Nach seinem frühen Tode hat Anita Bauer aus ihren Aufzeichnungen dieser Gespräche eine Biographie geschaffen. Im Folgenden werden, leicht gekürzt, jene Kapitel wiedergegeben, die sich auf Ehrets Aufenthalt in Ascona und Locarno beziehen.

Meine stille Liebe


Einige Wochen später brachte er [Arnold Ehret] ein kleines Ölbild in mein Haus und stellte es auf den Kaminsims. Dann, die Hände in den Taschen, wie es seine Art war, trat er zurück und lächelte befriedigt.

"Es gehört hierher", sagt er. "Ihre Gegend erinnert mich daran."

Ich schaute mir's an und erblickte eine grüne Matte mit einigen Bäumen im Hintergrund und einem kleinen weißen Schrein. Weiße Nonnen gingen im Abendlicht daraufhin, um zu beten. [Ein Gemälde von Arnold Böcklin]

"Die Insel der Seligen?" fragte ich, da ich ihn davon reden gehört hatte. Er schüttelt den Kopf.

"Das ist der Heilige Hain. Der Rest ist ein Stück Land mit der roten Glut des Sonnenuntergangs." Vielsagend: "Es gibt viele Arten von Inseln der Seligen."

Ich bat ihn: "Erzählen Sie mir von der Ihrigen!"

Und indem er das Zimmer mit langen Schritten durchmaß, hin und zurück, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf nach vorn gebeugt, begann er seine Geschichte.

"Es gab eine Hilda", sagte er zögernd. "Viele Jahre sind seither vergangen. Aber das Bild steht mir immer noch vor Augen... Ich sitze, als schüchterner Jüngling in einem Lokal, wo sie, eine junge Kellnerein, arbeitet. Es gibt da eine Art von Wettkampf um dieses Mädchen. Sie ist eine Königin, zu der ich kaum die Augen zu erheben wage... Diese zarten Wesen, die einer der schlimmsten Geißeln dieser Welt verfallen sind und deshalb oft eine vergeistigte Art von Schönheit ausstrahlen, haben mich immer schon angezogen. Nur diese Art zieht mich an.

Sie hatte diese klaren, wundervollen Augen, wie  man sie im Unterschied zu anderen Kranken bei den Tuberkulosekranken findet. Ihr schlanker Körper hatte die Grazie eines überirdischen Wesens."

Er unterbrach sich und setzte hinzu: "Tuberkulose scheint eine Naturkraft zu sein, deren Ziel es ist, ideale Formen hervorzubringen statt all der unattraktiven Fülligkeit, die durch Überernährung entsteht."

"Aber", fuhr er fort, "ich fand an ihr keine Spur von Kränklichkeit. Liebe und Jugend halten Gesundheit für selbstverständlich. Ich sitze also einfach da, möchte mich ihr nähern und wage es nicht. Und meine Schüchternheit ist nicht das einzige Hindernis. Es sind eine Menge Studenten da und das ständige Gedränge der Gäste... Bewußt wähle ich einen Tisch in der hintersten Ecke, dann sage ich mir, daß ich als angehender Künstler ihren Liebreiz besser zu würdigen weiß und deshalb ein besseres Recht habe, sie zu verehren, als alle andern, die um sie werben."

Ein träumerisches Lächeln. "Es kam ein Tag, da ergab sich die Möglichkeit, ihr näher zu kommen, aber ihre große Schönheit flößte mir eine heilige Scheu ein, so daß ich keine Worte finden konnte.

Dann aber, eines Abends - es war der letzte, bevor sie verschwand - , trafen sich meine Augen über die Köpfe der Studenten hinweg mit den ihren. Und dieser durchdringende Blick, dieser Ausdruck tiefen Leidens, verriet mir das Geheimnis einer großen Liebe... Wahre Liebe hat keine Worte.

Am folgenden Tag war meine Königin verschwunden. Ich suchte sie aber fand sie nicht mehr. Bald danach wurde auch das Restaurant geschlossen. Mit Hilda hatte es seine Attraktivität verloren."

Nach einem Augenblick des Schweigens schloß er: "Das war Kapitel Nummer eins."

"Ja", antwortete ich, und war begierig, mehr zu hören.

Ein Kind mit meinem Gesicht


"Ich habe einen merkwürdigen Traum gehabt", sagte ich eines Tages zu Herrn Ehret.

"Ja?" antwortete er, interessiert. "Ich kann Träume deuten. Ja, das kann ich."

Also erzählte ich ihm, daß er von Hilda handelte und ihm selbst und einem kleinen Fischerdorf. "Dann bemerkte ich zu meiner Verwunderung, daß es nicht Hilda war, die neben Ihnen stand, sondern ich", sagte ich am Schluß.

Herr Ehret legte eine Hand über seine Augen und sagte für eine Weile nichts. Er antwortete nicht immer sofort, also wartete ich ab. Und was ich hörte, belohnte mein Warten. Er sagte mir kleinem, einfältigen, ungeschickten Ding, daß er und ich verwandte Seelen seien. Mein Herz schwoll vor Stolz.

Er nickte ernsthaft: "Ich wußte es von Anfang an. Und wir werden uns im Jenseits wieder treffen." Dann: "das kleine Fischerdorf - Hilda - das ist Askona! Sie war dort bei mir."

"Oh", antwortete ich begierig. "Wirklich?"

"Nicht körperlich allerdings", sagte er. "Wir haben uns auf dieser Erde nie wieder getroffen. Aber sie schrieb mir. Und zwar so schrecklich, daß ich fast nicht darüber sprechen kann. Sie würde sich lieber eine halbe Stunde peitschen lassen als sich umarmen lassen von ihrem Mann, schrieb sie. Und doch lebte sie weiter mit ihm zusammen aus Angst vor ewiger Verdammnis...

Aber ich will Ihnen sagen, was Frauen oft übersehen: Hilda erwartete ein Kind und schrieb, daß sie während ihrer Schwangerschaft, wenn ihr Mann sie küssen wollte, die Augen schloß und sich vorzustellen versuchte, ich sei es, der sie küsse. Später ging ich mit dem Photo ihres Kindes zu einem Rechtsanwalt, und er sagte mir, wenn der Ehemann mich des Ehebruchs anklagen würde, müßte er vor Gericht bezeugen, daß ich der Vater sei. Das Kind war mir aus dem Gesicht geschnitten.

Dabei hatten Hilda und ich uns seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Wir waren durch ein ganzes Land von einander getrennt. Sie schrieb mir ihre Wahrnehmung aus dieser  Zeit, daß ihr Mann von der Aussicht auf einen Nachkommen hoch erfreut war. Als er jedoch die überraschende Ähnlichkeit zwischen dem Baby und dem früheren Freund seiner Frau bemerkte und sie diese ebenfalls zugeben mußte, beschuldigte er sie der Untreue.

Glücklicherweise wußte er, daß Hilda und ich nie allein zusammen gewesen waren und daß darum die Möglichkeit eines echten Ehebruchs außer Frage stand. Gleichwohl, da er in dem Kleinen keine Spur seiner Vaterschaft entdecken konnte, machte er ihr das Leben derart schwer, daß sie starb.

Natürlich spielte dabei eine Rolle, daß sie an Schwindsucht litt. Unter solchen Umständen kommt es vor, daß eine Frau einem gesunden Kind das Leben schenkt und selbst dabei umkommt.

Nach dem Tod seiner Frau trat der General einer religiösen Vereinigung bei und spielte eine gewisse Rolle im öffentlichen Leben, weil er große Summen an Wohltätigkeits-einrichtungen spendete. Er wurde einer der sogenannten Wohltäter der Menschheit.

Ich hatte nie einen der Briefe von Hilda beantwortet. Ich konnte es nicht, und sie erwartete es nicht. So blieb vieles völlig im Dunkeln. Ich wußte nichts von ihrem Tod, bis sie im Geist nach Askona kam."

Die Pforte zum Paradies    


"Ich bin oft ein Träumer genannt worden", fuhr er fort, "und einmal hatte ich einen Traum, eine Ahnung, daß ein großer Krieg kommen werde. Ich riet meiner Schwester und meinem Schwager, in die Schweiz zu ziehen. Sie taten es und kauften ein schönes Anwesen bei Askona. Ich selbst hatte vor, dort später ein Sanatorium zu errichten.

Damals ging durch die Presse die Nachricht, daß ein bestimmter Erzherzog von Österreich, der in Zürich studiert und dann auf seine Anwartschaft auf den Thron verzichtet hatte, die bekannte Adamowitzsch geheiratet habe. Sie war eine Sängerin, eine Schönheit, und es hieß, sie habe sich einer Gesellschaft von Naturheilern angeschlossen.

Dem Artikel beigegeben war folgendes Bild: Ein Bretterzaun und hinter ihm ein Obstgarten. Auf dem Tor stand geschrieben: 'Der Eingang zum Paradies'. Der Erzherzog und seine Braut wurden als in Felle gehüllte Urmenschen dargestellt, die sich dem Tor näherten, vor dem  der Besitzer stand und dem Paar einen Apfel anbot. Dies, so hieß es, sei die Rezeption.

Nun, das Blatt wollte die Sache ins Lächerliche ziehen. Es behauptete, die Adamowitzsch spaziere nackt herum, mit offen hängendem Haar, daß sie kein Bad mehr nehme und daß ihr Gatte sich deshalb von ihr scheiden lassen wolle.

In Wirklichkeit war nichts davon wahr. Eine Handvoll friedlicher Menschen hatte sich zusammengeschlossen auf der Grundlage und mit dem Ideal einer unblutigen, pflanzlichen Ernährungsweise. Das Nichttöten betonten sie besonders. Der Berg, auf dem diese Kolonie entstand, wurde Monte Verità getauft: Berg der Wahrheit. Der Erzherzog mit seiner Braut und einem Freund hielt sich dort nur kurze Zeit auf und in eleganter Kleidung. Alles andere war Lüge. ...

Der Gründer dieser Kolonie war ein reicher Belgier, der die Sache auf kommunistischer Grundlage aufbauen wollte. Das Hauptideal war strikter Vegetarismus. Ursprünglich sollten nur Früchte gegessen werden. ... Aber, wie in vielen anderen Fällen, bewirkte die kommunistische Idee die Auflösung der Organisation. Sie wurde ein Signal für gewisse Faulenzer.

Das minderte jedoch keineswegs meine Begeisterung, eine Kolonie auf ähnlicher Grundlage zu errichten. Auf jeden Fall erlangte das schöne und idyllisch gelegene Dörfchen am Lago Maggiore eine weltweite Bekanntheit. Es ist ein Fischerdorf mit unverdorbenen, gutgläubigen Menschen, die noch nicht durch Kultur korrumpiert sind.

Mit der Zeit kamen Reisende aus allen Teilen der Erde, um diese bemerkenswerte Gründung zu besichtigen, die sich inzwischen schon wieder aufgelöst hat. Heute ist Askona eine Hauptattraktion für Touristen. Sie kommen von überallher auf der Suche nach Wahrheit und Befreiung von ihren Nöten. Wie folgte ich ihnen einst mit meinen Augen und mit meiner Phantasie, wenn sie zum Monte Verità und seinen kleinen Hütten hinaufstiegen, wo der frühere Besitzer, die geheimnisvolle Anziehungskraft des Berges ausnutzend, ein Luftbad eröffnet hatte. ...

Eine äußerst farbige Versammlung. Russische Anarchisten, Studenten, Geistliche, die an der Wahrheit ihres Bekenntnisses zweifelten, Arme, Reiche, alle verbunden durch die eine Frage: Wo ist Wahrheit? ...

Alle Nationalitäten waren vertreten. Man hörte jede Sprache unter der Sonne, als ob das kleine Fischerdorf eine große Weltstadt wäre. Das Ganze hatte etwas Märchenhaftes. Doch alles atmete Frieden und Gestilltheit. Es schien völlig unvorstellbar, daß hier irgendjemand mit bösen Gedanken umgehen könnte.

Dort also ließ ich mich nieder. Und dort kam Hilda zu mir. ...

Überzeugende Erfahrungen bei einer spiritistischen Sitzung


"Erzählen Sie mir, wie Sie Hilda in Ascona getroffen haben", bat ich, als er nichts mehr zu sagen wußte.

"Sie kam zu der Sitzung", sagte er einfach.

"Als Tote?"

"Wenn Sie so wollen." Dann: "Es war auf dem Gipfel eines Berges, in einem kleinen Haus, einem Bungalow. Einige meiner Freunde waren anwesend. Ein Geist erschien, der sich Hilda nannte. Es stellte sich heraus, daß es sich um meine einstige Freundin handelte. Ich ahnte nicht, daß sie inzwischen verstorben war, und fragte sie, warum sie hier sei und nicht bei ihrem Kind und ihrem Mann. Sie antwortete: 'Die Geister wohnen bei denen, die sie lieben.'

Dann sprach sie weiter und sagte, daß sie bei meinem Vortrag in München gewesen sei und beschrieb den Saal. Bemerkenswert und sehr überzeugend war, daß sie erklärte, sie sei in einem bestimmten Krankenhaus in einer bestimmten Stadt gestorben, was sich, als ich darüber Nachforschungen anstellte,  als wahr erwies.

Bei einer zweiten Sitzung sagte sie, daß zwei Seelen, die zusammengehören, sich begegnen müssen, und sei es auch erst in irgendeinem Jenseits. Die wahren Ehen würden im Himmel geschlossen... Ich fragte sie, wie es jetzt um ihre Gesundheit stehe, und sie sagte, daß sie noch immer husten müsse."

Als ich meine Verwunderung darüber ausdrückte, sagte mir Herr Ehret: "Der erste Patient, der in Askona zu mir kam, war ein Architekt, der dadurch bekannt war, daß er in Stockholm eine Reihe schöner Villen gebaut hatte. Er litt an hochgradiger Schwindsucht und hatte noch eine andere verdächtige Krankheit.

Er starb, noch ehe er einen halben Tag gefastet hatte.

Nun, er erschien auch in der Sitzung und erzählte, daß er im Jenseits immer noch Schmerzen habe, und als ich ihn fragte, warum er den Tisch nicht kräftiger bewege, antwortete er: 'Wie könnte ich? Sie wissen doch, daß mein rechter Arm lahm ist.'"

Übers ganze Gesicht grinsend erzählte mir Herr Ehret von einem alten Freund, dessen größtes Vergnügen es war, immer das Beste zu essen und zu trinken, der sich nicht scheute, eine Stunde weit zu gehen, wenn er dort die gewünschte gute Mahlzeit bekommen konnte. "Nach meiner Meinung wird seine Hölle im Jenseits ein ewiger Durst nach Essen und Trinken sein, der nicht erfüllt wird", schloß er. "Das Jenseits kennt keine Lügen und kein Geld. Die Geister, die verklärten Körper können sich gegenseitig durchblicken."

Einmal  waren wir in einer erlesenen Gesellschaft, aber alle Stühle waren besetzt und der Raum wurde verdunkelt, als wir hereinkamen, sodaß wir Campingstühle holen und uns so gut es ging einen Platz suchen mußten. Später, als Licht gemacht wurde, sah ich, daß nur eine Frau im Raum war, und das war ich; alle übrigen waren gelehrt aussehende Männer, die meisten kahlköpfig und bebrillt, und daß Herr Ehret einen Platz zwischen ihnen gefunden hatte.

Hinterher sagte ich ihm, wie gut er zu dieser Gruppe von Leuten gepaßt hätte trotz seiner Rede, daß er nicht zu den Gelehrten gehöre. Er berichtigte mich: "Ich sagte, daß ich nie zu ihnen gehen würde, um Weisheit zu finden."

"Oh", antwortete ich, ohne viel zu denken, "wer ist schon weise - "

"Diejenigen, die begeistert sind über das Leben", sagte er.

"Die Gelehrten versuchen, diese Begeisterung zu verbannen, die Religion tut desgleichen, und doch haben alle Erlöser sie verkündet. Wir sollten vom Leben so begeistert sein, daß es uns wie ein farbiger Traum erscheint."

"Sie haben es erfahren?"

"Manchmal, ja. Als ich zum erstenmal meine Gesundheit wieder gewann, spürte ich, wie erregend das Leben sein kann, das bloße Bewußtsein der Existenz. Man kann ein Geschenk nicht schätzen, das man nicht vermißt hat. Gesundheit scheint kein so kostbarer Besitz zu sein für Leute, die nie krank waren. Aber ich, als ich zurückkam von Nizza und meine Arbeit wieder aufnehmen konnte, ich war berauscht von der Freude zu  sein!"

23tägiges Fasten auf Capri

138  Wehmütig schloß er: "Das Leben ist überall das selbe, die selben Probleme, Freude, Schmerz, Erfog, Mißerfolg. Wir sind alle Schauspieler, die ihre Rollen spielen; die Kleider, die Umstände mögen sich unterscheiden; darunter sind wir alle gleich. Wer eine Phase des Lebens gesehen und verstanden hat, hat alle gesehen."

Die Insel des Lebens, das Land der Seligen


Nachdem er geendet hatte, fragte ich ihn, ob das geschehen sei, bevor er nach Askona ging. Er sagte: "Ja. Ehe ich auch nur davon hörte."

Ich: "Dann hatte ihre Suche nach der seligen Insel dort ein Ende? Sie fanden sie auf Capri?"

Er schüttelte den Kopf. "Ich bin noch immer auf der Suche."

"Aber was denken Sie, wie sie aussehen sollte?"

"Wie sie aussehen sollte?" wiederholte er langsam meine Worte. Dann: "Eines Nachts hatte ich einen Traum oder eher eine Reihe von Träumen, die es besser ausdrückten als ich könnte... Kurz davor hatte ich über meine zweite Neugeburt auf Capri nachgedacht und wie vollkommen sie war dank der geistigen Erneuerung, die ihr voranging. Ich begann zu sehen, wie wenig der materielle Teil meines Wesens wirklich zählte, wie der Geist allein die gute Arbeit geleistet hatte, der Geist, das Wasser und die Sonne. Und ich erkannte, daß all dies nur möglich gewesen war in der Einsamkeit einer Insel, weit weg von den Menschen in ihren überfüllten Wohnungen, einsam wie Christus in der Wüste und die Einsiedler in der Wildnis.

Ich träumte also von der Insel des Lebens, dem unentdeckten Land der Seligen. Und so war mein Traum:

Mein Freund und ich gingen auf Wanderschaft, durch viele Länder und über ferne Meere, weg von den Menschenmassen.Unsere Füße waren so leicht wie die der Hirsche. Und froh und immer glühender wurde unsere Stimmung. Der Wald war unser Haus, sanftes Moos unser Bett. Wir zogen weiter der Sonne entgegen und kamen in die Sphäre eines ewigen Sommers. Die Strahlen der Himmelskörper wiesen uns den Weg zu der seligen Insel, wo in ungeschädigten Wäldern sanftmütige Tiere leben, wo zwischen glühenden Felsen und unbeackerter Erde paradiesische Früchte reifen.

Und dann sahen wir plötzlich die selige Insel im rosigen Osten liegen auf den warmen, glänzenden Wassern. Wir hörten die himmlischen Stimmen der Seligen. Ein leuchtendes Wesen erschreckte uns. Es war eine weibliche Gestalt , von ätherischem Licht umgeben. Als sie näher kam, hörten wir die Stimmen singen: Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.[Ein Zitat nach Crowley?]

Die Leuchtende war Hilda. Ich erkannte sie an jenem ersten Blick, dessen unsterbliche Kraft uns vor so langer Zeit vereinigt hatte... Mein Freund, der nie die reine Seele einer Frau geliebt hatte, warf sich ihr schluchzend zu Füßen, bedeckte sein Gesicht vor ihrem Glanz. Dann kehrten wir zur Erde zurück, um jenes große Gesetz zu erfüllen, das die Bestimmung des menschlichen Lebens ist."

Ich konnte nichts dazu sagen, und Herr Ehret blickte mit seinem üblichen Lächeln auf und verabschiedete sich. Ich mußte nach Norden reisen; er ging nach Los Angeles.

ENDE
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Arnold Ehret (links) 1907 mit Henri Oedenkoven
und Ida Hofmann auf dem Monte Verità