Gräfin Franziska zu Reventlow (1871-1918) theoretisierte nicht so sehr über die “freie Liebe”, sondern lebte sie. Reventlow galt vielen damaligen Zeitgenossen als die Inkarnation der erotischen Bewegung um die Jahrhundertwende, als Frau war sie für die Bohèmiens das Idealbild einer “freien Frau”. Erich Mühsam bezeichnete sie als den “innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin”. Reventlow stand der damaligen bürgerlichen Frauenbewegung eher reserviert und skeptisch gegenüber. Sie war der Meinung, dass die Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Frauenbewegung zwar zu einer äußerlichen Gleichstellung von Mann und Frau führen würden, aber nur auf Kosten der Entwicklung einer erotischen Kultur der Geschlechter. Von daher greift sie die bürgerliche Frauenbewegung radikal an: Solange die bürgerliche Frauenbewegung an der christlichen Moral festhalte und die Forderung, eine spezifisch weibliche erotische Kultur zu entwickeln, nicht berücksichtigt, sei sie “die ausgesprochene Feindin aller erotischen Kultur, weil sie die Weiber vermännlichen” wolle und “die Männer zur Askese” erziehe.
In der Weimarer Republik radikalisierte die Boheme die Sexualreform zur erotischen Rebellion. Schwule und lesbische Subkulturen traten in den Großstädten in die Öffentlichkeit. Sexualisierte Tänze sorgten Anfangs für Skandale und kamen dann in Mode, bis hin zur Stilisierung von Anita Berbers „Tänze des Lasters“ auf der Bühne. In den 20er Jahren wurde die Homosexualität von Frauen als modisches Accessoire gesellschaftsfähig. Viele Bühnenkünstlerinnen wurden lesbische Neigungen nachgesagt ohne das dies ihrer künstlerischen Laufbahn schadete. Berühmte Beispiele waren neben Anita Berber und Marlene Dietrich u.a. Margo Lien, Jeanne Mammen und Renee Sintenis. Andere wie Claire Waldhoff bekannten sich offensiv in der Öffentlichkeit zu ihren sexuellen Vorlieben. Im Berlin der 20er Jahre entwickelte sich eine lebendige Subkultur von homosexuellen Frauen mit einer Vielzahl von Bars, Cafes und Clubs. Viele dieser subkulturellen Freiräume waren allerdings nur einer ausgewählten Bevölkerungsschicht zugänglich. Das Leben in vielen der Clubs und Varietes rund um Revuen, Gesellschaften und Tanzvergnügen stand denjenigen zur Verfügung die über ausreichend Geld, Zeit und Verbindungen verfügten, während ein großer Teil der Bevölkerung in Zeiten der Inflation und Arbeitslosigkeit existenzielle Sorgen hatte.
Mit der lesbischen und schwulen Subkultur entstanden auch zahlreiche Zeitschriften. Zuerst etablierten sich die Publikationen der Schwulenbewegung. Die erste Zeitschrift war „Der Eigene“, die bereits 1888 gegründet wurde und bis 1906 erschien und nach langer Pause im Zeitraum 1919 – 1932 wieder publiziert wurde. Eine weitere Zeitschrift war beispielsweise „Die Freundschaft“. Im Zeitraum 1924 – 1933 erschienen in Berlin eine Reihe von Zeitschriften für homosexuelle Frauen die größtenteils von den Verbänden „Deutscher Freundschaftsbund“ und dem „Bund für Menschenrechte“ in denen homosexuelle Männer und Frauen organisiert waren, herausgegeben wurden. Diese Zeitschriften waren am Kiosk und über den Versand erhältlich, wurden aber teilweise unter den Paragraphen §184 R Stg B (Verbreitung unzüchtiger Schriften) und dem 1926 erlassenen „Schund- und Schmutzgesetz“ verboten. So z.b. die Zeitschrift „Frauenliebe“ der dann als Ersatz die „Frauen, Liebe und Leben“ und später die „Garconne“ folgten, genauso wie „Die Freundin“ mit der Ersatzzeitschrift „Ledige Frauen“.
Schader Heike, 2003, „Virile, Vamps und wilde Veilchen“, Ulrike Helmer Verlag, Königsstein/Taunus
Die Reduktion der Sexualwissenschaft auf eine akademische
Disziplin
Die Lebensreformbewegung mit ihren sexuellen Emanzipationsbestrebungen blieb, im Rückblick betrachtet, bei einigen zaghaften Fortschritten in Fragen der sexuellen Aufklärung, der Geschlechterrolle und Partnerwahl und der Enttabuisierung des menschlichen Körpers stehen. Die von ihnen propagierte Nacktkultur diente ihnen als „Hauptmittel gegen die geschlechtliche Überreizung“. Sie waren entschieden gegen die Prüderie und falsche Scham, aber die Nacktheit wurde, kaum das sie möglich geworden war, schnell wieder ritualisiert und ideologisiert, entweder unter eine „natürliche Reinheitsmoral“ gestellt oder dem Leistungszwang zur körperlichen Gesundheit und Tüchtigkeit unterworfen. Die Struktur und Geschichte der modernen Industriegesellschaft haben die Revolutionierung des Sexualverhaltens, im Sinne der kapitalistischen Logik, sowohl ermöglicht als auch legitimiert. Gleichzeitig- und nicht minder nachhaltig- haben sie die Entfaltungschancen und die Legitimität jener Impulse eingeschränkt die historisch ihren Ausdruck in sozialrevolutionären Gedanken und Aktivitäten fanden.
Die heutige Sexualwissenschaft, deren Wurzeln in den sexualreformerischen Bestrebungen in der Zeit zwischen den Weltkriegen liegen, hat nicht mehr den Stellenwert in der Gesellschaft wie zu ihrer Entstehungszeit. Nach ihrer Zerstörung durch den Faschismus in Europa, verblieben viele wissenschaftliche Ressourcen in den USA. Neben dem Kinsey Institute, welches über umfangreiche Materialien über die Entwicklung und den Umfang der Sexualforschung vor 1933 in Deutschland verfügt, gibt es das Masters-and-Johnson-Institute in St. Louis, welches zum Sexualtherapeuten ausbildet und in San Francisco befindet sich das Institute for Advanced Study of Human Sexuality, eine private sexualwissenschaftliche Hochschule. Weitergehend bieten verschiedene Universitäten, z.b. in San Francisco, Philadelphia und New York Studienprogramme über menschliche Sexualität an.
Unter dem Einfluss der Kriminalpsychologie wurden Theorien entwickelt, die u.a. besagen, dass jeder Mensch in seiner Kindheit, schon in seiner frühen Sozialisation, eine sogenannte „lovemap“ entwickelt, die den Grundbaustein für die späteren individuellen Sexualstrategien liefert. Heterosexualität gilt weiterhin als Norm. Abweichendes Sexualverhalten wird in sogenannten „Paraphilias“ systematisiert und psychologisch, sexualwissenschaftlich analysiert und erklärt. Der in der Gesellschaft weitverbreitete Hang zum Voyerismus gehört ebenso dazu wie Homosexuellen und Lesben und die sexuellen Subkulturen der Transvestiten. Sadomasochisten und Fetischisten bis hin zu den extremen Formen wie Geschlechtsverkehr mit Leichen oder Tieren und mit Gewalt behafteten Akten in denen mindestens eine Person unfreiwillig beteiligt ist. Gemäß dieses wissenschaftlichen Erklärungsmodels suchen viele Sexualwissenschaftler, Soziologen und Psychologen in den Lebensläufen von Prostituierten , bzw. Menschen die in der Sex-Branche arbeiten, nach abweichenden „lovemaps“ und einschneidenden Kindheitstraumatas und stellen damit einen Blickwinkel fest, der dem Versuch einer Entstigmatisierung und Anerkennung der Sexarbeit als regulären Geschäftsbereich entgegenläuft. Andererseits ist es den grundlegenden Initiativen der Sexualwissenschaft zu verdanken, das in den westeuropäischen und nordamerikanischen Metropolregionen eine weitgehende Akzeptanz oder zumindestens Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensentwürfen und zu Fragen der Verhütung und Abtreibung besteht. Weitergehend haben die Gender- und Queer- Diskussionen, hervorgegangen aus einer Schnittmenge der Kultur- und Sexualwissenschaften, seit den 80er Jahren erheblich mit dazu beigetragen den Emanzipationsprozess verschiedener sexueller Subkulturen zu fördern und die Kritik an der androzentrischen Weltsicht zu fundieren Diese aktuellen Diskurse verbleiben aber oftmals im universitären Milieu und in dem Bereich der betreffenden Szenen. Die Sexualwissenschaft vor dem 2. Weltkrieg hingegen, hatte den Anspruch sich in ihren gesellschaftspolitischen Ansätzen weitgehend an die gesamte Bevölkerung zu richten, was über eine Vielzahl von Sexualberatungsstellen und einer politische Massenbewegung auch versucht wurde.