Vom Monte Verità zum Meißner

Walter Hammer (1888-1966)
Leiden und Lügen einer Generation

  

„Die Tragik meiner Generation (Meißner, Verdun, von Niederlage zu Niederlage) darzustellen – eine Aufgabe, die einen großen Dichter verlangt. … große Leidenschaft, dies zu gestalten – und auch selber den Becher des Leids zu leeren bis zum Grund!“

Walter Hammer, Kassiber aus dem Untersuchungsgefängnis, 1941 (Kolk 96)


Im Oktober 1913 verließen Hans Paasche und Walter Hammer die Beratungen auf Burg Hanstein und wanderten hinüber zum Ludwigstein.

„Komm,“ könnte Walter Hammer gesagt haben, als er seinen Freund Hans Paasche beiseite zog, „mit diesem oberlehrerhaften Geschwätz haben wir nichts zu tun.“ (Kolk 3)

„Hinüber zum Ludwigstein“, so lautet die Fortsetzung bei Kolk, „wo die jugend-lichen Wandervögel sich versammelt hatten, um ihren Willen zu gesellschaft-lichen Veränderungen kund zu tun“ (3).

Eine klare Entgegensetzung: Hanstein gegen Ludwigstein (einen Ludwigstein im Paasche-Sinn!) - Beharrung gegen Veränderungswillen, eine deutsch-nationale Mehrheit gegen die Minderheit der Reformer. Es waren die Lebens-reformer, die das Andere wollten, deshalb hatten sie zum Treffen auf dem Meißner eingeladen. Fast dreißig Jahre später, jetzt Gefangener des Hitler-Regimes, zieht Hammer eine bittere Bilanz: von Niederlage zu Niederlage sei der Weg seiner Generation, der Meißnergeneration, gegangen. Will sagen: der Weg der Jugendbewegung.

Er spricht von Niederlagen – und hätte von Versagen sprechen müssen. Auch von seinem eigenen Versagen. Damals, 1914, als er dem Kriegsbe-geisterungstaumel erlag. Er, dem doch als Vegetarier das Nicht-Töten Lebens-richtschnur sein musste. Er unterstreicht Verdun, er hätte auch Langemarck nennen und unterstreichen können. Ein Kämpfer war er gewesen für die Ehrfurcht vor allem Lebendigen: „Es lebe das Leben!“ (zit.in Kolk 18). Und dann: Langemarck, Verdun. Tod und millionenfaches Leiden für den Fetisch Nation.

Dabei hatte er doch anderes gepredigt in seinem Buch ‚Nietzsche als Erzieher’ von 1913:

Wer an der Kultur arbeiten will, muß die Meinung umschaffen, muß sich ent-deutschen, den modernen Deutschen in sich überwinden, muß, ein Beispiel zu wählen, über Schiller, den Dichter des deutschen Philisters, hinauswachsen.

Aber Goethe? Der hatte seine eigene Kultur und wußte sich im Gegensatz zum deutschen Wesen: Goethe verehrte Napoleon. Und Nietzsche, der große deutsche Kulturprophet? Ob er ein Deutscher war?  So zu fragen! Gleich Goethe war er ein europäisches Ereignis. In Deutschland fehlte der Boden, auf dem das Genie gedeihen könnte, eben eine alte einheitliche Kultur. Der synthetische Mensch, der wirklich Gebildete im Gegensatz zum Bildungsphilister kann in Deutschland nicht gedeihen. (NE 43 f.)

Und dann, auf der selben Seite, in unmittelbarem Anschluss, in einem Atemzug, stellt er uns einen „wirklich Gebildeten“, einen „synthetischen Menschen“ vor:

Es sind heute Männer an der Arbeit, eine einheitliche deutsche Kultur zu schaffen. Ich will Dir einen Namen nennen, dem Du als Wandervogel schon begegnet bist: Gusto Gräser. Ein ganzer Kerl! Ein Dichtersmann, der von den vom Geist der Generalanzeiger-Presse besessenen Deutschen zweifellos zum Naturmenschen gestempelt und nicht ernst genommen werden wird. … Johannes Schlaf hatte alle Ursache zu der Frage: „Was würde Nietzsche zu diesem Gusto Gräser und Dichter sagen?“ - Gräser ist einer der wenigen urwüchsig schaffenden Dichter unserer Zeit, ein Prachtmensch im Sinne Nietzsches.

(Walter Hammer: Nietzsche als Erzieher. Leipzig: Hugo Vollrath, 1914. S. 44.)

Hammers Aussage ist klar: Wir müssen uns entdeutschen, im Sinne von: aus der nationalen und nationalistischen Enge befreien. Wie Goethe, wie Nietzsche – und wie Gräser. Er ist der synthetische Mensch, der wirklich Gebildete, der die Kraft hat, eine deutsche Kultur im Geiste Goethes und Nietzsches zu schaffen.

Phantasiert Hammer oder hat er recht? Hatte dieser Gräser nicht gerade in den Kreisen der Völkischen seine Anhänger? Wie kommt Hammer zu seinem für manche überraschenden Urteil?  

Hatte Gräser sich etwa „entdeutscht“? – Ja, im goetheschen Sinne, im Sinne von Weltliteratur, von universaler Weisheitsdichtung. Er hatte Emerson, Whitman, Thoreau in sich aufgenommen, er kannte Fourier und Laotse und die Bhagavad Gita. Zu seiner Zeit eine Seltenheit. Man könnte aus Hammers Andeutungen schließen, dass Gräser schon damals aus seiner TAO-Dichtung vorgetragen hat. Hammer könnte einer seiner ersten Hörer gewesen sein.

Er kannte sicher Gräsers Flugschrift ‚Ein Freund ist da – mach auf!’, wohl auch seinen Aufruf ‚Heimat’, beide von 1912. Er kannte seine Gedichte, hatte Proben davon in seinen ‚Dokumenten des Vegetarismus’ abgedruckt. Und da ist bei Gräser – man staune! – in Schriften, die sich im Jahre 1912 vor allem an die Jugend richten, weder von „Volk“ und „Vaterland“ noch von „deutsch“ und „Deutschtum die Rede. Sondern vom „Selbst“ und vom „Freund“ und vom „aufrechten Wandel“. Heimat (in einem geistigen Sinn: Heimat ist ihm Aufrichtigkeit!) wird gegen Vaterland gesetzt (Vaterland ist ihm imperialistischer Machtwille und pseudoheroischer Schwindel): Wir haben uns zu entscheiden für die Heimat und gegen das Vaterland: gegen die Welt und die Macht der Väter.

1914 folgte Hammer – und mit ihm die gesamte Jugendbewegung - dem Ruf des Vaterlands. Gräser folgte dem Ruf seines Gewissens.

Hans Paasche war von seinen Freunden bitter enttäuscht. Das Wort „frei-deutsch“ sei durch „feldgrau“ ersetzt worden. „Es ist zum Speien! Wenn deutsche Jugend erwacht, wird sie hakenkreuzlerisch, alldeutsch, antisemitisch! Die deutsche Bourgeoisie ist der Auswurf der Menschheit!“ So im Jahre 1917! (Ä.e.S. 182). „Ich will nichts von einer Jugend, die die Freiheit verrät. Ich hoffe nichts mehr von ihr; sie hat versagt“ (ebd., 184). Paasche, Feldner, Bittel, Kurella und andere – sie schlugen sich auf die Seite des Proletariats, weil sie in der Jugendbewegung keinerlei Rückhalt fanden. 

Es geht hier nicht um Vorwurf oder Kritik. Hammer hat sich sein Versagen selbst eingestanden, freilich als „Tragik“ bemäntelt. Er hat versucht, den Becher des Leids zu leeren bis zum Grund. Er wollte das Buch der moralischen Niederlage der Meißnergeneration selber schreiben. Es ist bis heute nicht geschrieben worden, der Becher des Leids ist nicht bis zum Grund geleert worden. Bis heute wird als „Tragik“ und „Mißbrauch“ bemäntelt, was Versagen war, was ein Irrweg war.

Hammers Weg zu Gräser begann früh, schon 1906. Den Achtzehnjährigen, im Aufruhr gegen den Vater und die Väterwelt, zog es zum Monte Verità. Auf einer Wanderung nach Süden kommt er bis Locarno, wagt dann aber doch nicht den Sprung zum „Berg der Wahrheit“ sondern begnügt sich mit Informationen aus zweiter Hand, die er zu einem Artikel verarbeitet, der 1907 in Nr. 5 der Berliner Halbmonatsschrift ‚Mensch’ erschien.  Ein Aufsatz, der nicht ohne Folgen blieb, nicht für den Monte Verità, nicht für Hammer selbst.                                                   

Die Insel der Seligen

   Hösterey wirbt für den Wahrheitsberg   

Wie war es möglich, dass ein 18jähriger Beamtenanwärter aus Solingen den Monte Verità europaweit bekannt machte? Das ging so:

Der Sohn eines Bäckermeisters in Elberfeld hatte sich gegen den Willen seines Elternhauses zum Vegetarier gewandelt. Walter Hösterey hieß er, nannte sich aber, weil er mit dem Hammer philosophieren wollte wie sein großes Vorbild Nietzsche (in dem er vor allem einen Lebensreformer sah): Walter Hammer. Tuberkulös geworden, machte er eine Kur in Davos, reiste dann, im März 1906, nach Italien. Locarno war eine Station auf seinem Weg, und dort hörte er von den Siedlern auf dem nahegelegenen Monte Verità. Zu einem Besuch reichte die Zeit oder der Mut nicht. Also schrieb er einen Artikel nach dem, was er gehört und in der Berliner Zeitschrift ‚Die Woche’ gelesen hatte. Die Halbmonatsschrift ‚Der Mensch’ des Berliner Verlags der Lebensreform druckte seinen Aufsatz ab.

Henri Oedenkoven, der Besitzer der Naturheilanstalt auf dem Berg, war entsetzt über diesen Artikel. Er fürchtete einen weiteren Rückgang seiner ohnehin abzählbaren Kundschaft aus Deutschland. Denn Hammer hatte von „Natur-menschen“ erzählt, die angeblich nackt durch Ascona zum Badestrand liefen. Männner in phantastischen Gewändern würden dort gesehen, „ähnlich wie die Hirten am Jordan; Frauen ohne Strumpf und Schuh. So stand es in der ‚Woche’. Sonn- und Feiertage seien abgeschafft, die Woche habe zehn Tage. Sonnenschein und nasser Lehm gälten als Allheilmittel, und nicht selten sei von „schwarzer Magie“ die Rede. Auch gebe es da sogenannte „Balla-bjutt“, zu deutsch: Nackttänzer.

Oedenkovens Sekretär musste ein Protestschreiben aufsetzen. Die ‚Woche’, auf deren Bericht Hammer sich stützte, wurde verklagt. Sie sah sich gezwungen, einen Spezialberichterstatter nach Ascona zu entsenden, der eine Gegen-darstellung verfassen musste. Er tat dies mit überschäumendem Eifer – oder mit heimlicher Ironie. Den Kläger Oedenkoven schildert er als Beinahe-Heiland, sein „Antlitz“ sei von einem „Christusbart“ umrahmt, „eine hoheitsvolle Milde ruht auf der ganzen Persönlichkeit, deren Äußeres an den berühmten Christus-Mayer von Oberammergau gemahnt“ (in Landmann 94). Seine Gefährtin Ida Hofmann habe in Ascona “Ruhe und Frieden“ gefunden (in L 95). Oedenkoven ging es vor allem darum, sich von den sogenannten „Naturmenschen“ abzusetzen. „Er haßt“, schreibt sein  Sekretär, „jene Naturmenschen und Primitiven“, die seine bürgerliche Kundschaft abschrecken könnten (92). Gemeint waren die Gebrüder Gräser.

Alfred Holzbock, der Schreiber der ‚Woche’, tut ihm den Gefallen, rühmt ausführlich den „kulturellen Komfort“ der Naturheilanstalt: eiserne Normal-betten, Sessel und Schüttholzofen stünden zur Verfügung, Wände aus geöltem Holz und elektrisches Licht. „Selbst ein Tennisplatz fehlt nicht“ (in Landmann 94).

Dann aber, vielleicht weil Mobiliarbeschreibungen kein so spannendes Thema sind, kommt Holzbock doch noch auf die gehassten „Naturmenschen“ zu sprechen, und er tut es ausführlich und nicht ohne Sympathie. Ihm verdanken wir seither vielzitierte Informationen über jene „Ausnahmsdeutschen“ oder „Sezessionisten“ (wie Erich Mühsam sie nannte), die sich von Oedenkoven getrennt hatten, weil sie seine Kommerzialisierung der ursprünglichen Genossenschaft nicht mitmachen wollten. Er beobachtet:

„Rings herum entstehen die Holzhäuser, deren Insassen unabhängig sind von der Heilanstalt auf Monte Verità und abseits stehen von der Welt da draußen“.

Und diese Unabhängigen sind nicht allein, ihre Verbindungen reichen bis zum Kaiserhof in Wien. Ein Großneffe von Kaiser Franz Josef hatte nämlich für einen Skandal gesorgt: er hatte seinen Standesprivilegien entsagt und sich den Gräserbrüdern angeschlossen. Ein Erzherzog, der samt Gattin in den Hütten der „Naturmenschen“ schlief, von rohen Früchten sich ernährte, nackt durch die Wälder lief – diese Geschichte beflügelte schon seit zwei Jahren die illustrierten Gazetten. Holzbock schreibt:

„Das Schicksal der Ehe des Erzherzogs [des ehemaligen Erzherzogs von Toskana, jetzigen Bürgers!] Leopold Wölfling und seiner Gattin, der geborenen Adamovicz, hat man fälschlich mit dem Sanatorium in Verbindung gebracht. Tatsächlich gehört ein Freund dieses Fürsten, der Leutnant [Karl] Gräser, ebenfalls zu jenen, die aus der Welt geflüchtet sind und sich hier in der Gegend ein Holzhaus errichtet haben. Erzherzog Lepold und Gräser hatten sich in Galizien, wo beide in Garison standen, gefunden in ihrem Haß gegen alles Konventionelle und gegen alle Etikette, in ihrer Liebe zur Unabhängigkeit und Ungezwungenheit, und sie gründeten auf galizischem Boden eine Gemeinschaft, die sich ‚Ohne Zwang’ nannte, deren Präsident der Erzherzog war und deren Mitglieder sich mit ’du’ ansprachen.

Gräser hatte, da er den Abschied als Offizier nahm, um ‚Naturmensch’ zu werden, lebhaft gegen den Widerstand seiner Familie zu kämpfen – heute lebt seine Mutter bei ihm, und sein Bruder [Gustav Arthur] hat sich ebenfalls ein Häuschen gebaut.“ (in Landmann 95)

Vilma Adamovicz, die Frau des Ex-Erzherzogs, schließt sich dem „Naturmenschen“ Karl Gräser an.

 Die Sensationsgeschichte war den Illustrierten eine Phantasiezeichnung wert.

Holzbock berichtet noch weiter von dem abgefallenen Habsburger, der „allen fürstlichen Würden lächelnd entsagt hatte, auch er lebte von Obst und Früchten, auch er bewegte sich in Reformkleidern, auch er wurde Naturmensch“ (in L 96). Dass er diese Lebensweise nach einiger Zeit beendete, seine Gattin aber „dieses einsame Stück Erde“ nicht verlassen wollte, habe zu jenem in den Zeitungen vielbeschrieenen Ehezwist geführt, zur Scheidung des Paares. 

Man sieht: Oedenkoven wurde die „Naturmenschen“ nicht los. Es sind immer wieder die sagenhaften „Balla-bjutt“, die „Nackttänzer“, die die Aufmerk-samkeit auf sich ziehen: die Gräserbrüder und ihre Gesellen. Aber wie auch immer: der lange Artikel von Holzbock erschien im ‚Berliner Lokalanzeiger’ und in der Berliner Zeitung ‚Der Tag’; die Reformzeitschrift ’Der Mensch’ brachte die ausführliche Entgegnung von Oedenkovens Sekretär. Der Monte Verità sprach sich herum. Sprach sich herum bis nach London und Paris. Eine Pariser Zeitschrift sah sich veranlasst, den Dramatiker Jules Chancel (1877-1944) nach Ascona zu entsenden, um das Mirakel zu begutachten.

Sein Artikel beginnt so:

„Französische und deutsche Zeitungen haben vom Bestehen einer Kolonie von Naturmenschen berichtet, in der Umgebung von Locarno, am Ufer des Lago Maggiore, eine Art religiöse Sekte, deren Mitglieder völlig nackt durch die Berge streifen, in bizarren Aufmachungen auf die Märkte der Gegend kommen“,  undsofort.

(Jules Chancel: LES NATURISTES DU MONTE-VERITA. In : L’Illustration, Nr. 3361, Paris, 27. Juli 1907, S. 58-59.)

Wiederum ist es die „bizarre Aufmachung“ der „Naturmenschen“, die die Neugier auf sich zieht. Der im übrigen sehr sachliche (auch reich illustrierte) Artikel von Chancel bleibt nicht der einzige.

Ohnehin fällt auf, dass in diesem Frühjahr und Sommer 1907 die prominenten Besucher sich häufen. Der Schriftsteller Hermann Hesse erscheint, der Arzt und Sozialdemokrat Fritz Brupbacher aus Zürich, der ehemalige Pastor und Anarchist Ferdinand von Nieuwenhuis aus Holland, der Maler Fidus aus Berlin, der anarchistische Schriftsteller Gustav Landauer, ebenfalls aus Berlin, die Gewerkschaftssekretärin Margarete Hardegger aus Bern, der Pfarrer und Lebensreformer Theodor Stern aus Zürich, der Theologieprofessor Eberhard Dennert aus Düsseldorf.

Zufall oder nicht – der unschuldige Beamtenanwärter, der den Berg nicht einmal mit eigenen Augen gesehen hatte, war nicht ganz unbeteiligt an dieser gesteigerten Ausstrahlung des Wahrheitsbergs. Er kann die Wellenringe nicht übersehen haben, die sein Steinchenwurf ausgelöst hatte. Hammer wird sich eingehender mit dem Berg und dem Geist des Berges beschäftigt haben. Wie waren jene seltsamen „Nackttänzer“ und höhlenbewohnenden „Naturmenschen“ zu verstehen? Wie passten diese Ekstatiker in die nüchterne Szenerie der Lebensreform? Sein Nachdenken führte ihn zurück zu Nietzsche, den er als Lebensreformer verstand, und von diesem zu immer stärker anschwellenden Aufsätzen, die schließlich in zwei Nietzsche-Bücher mündeten: ‚Friedrich Nietzsche. Der Lebensreformer und seine Zukunftskultur’ (1910) und ‚Nietzsche als Erzieher’ (1913). In Gusto Gräser, dem scharfen Kritiker des „Tristentums“, glaubt er den Geist des Berges verkörpert zu sehen. Ihm ging es, wie Nietzsche, um mehr als ein neues Körpergefühl, ihm ging es um den Neubau einer Kultur, einer dionysischen Kultur. Hammer setzt jetzt Gräser als Turm auf den bescheidenen Unterbau, den er 1906 in Locarno wie schlafwandelnd – aber ahnungsvoll – begonnen hatte.

Mit dem Nietzschebuch von 1913 war seine Werbung für Gräser noch nicht zu Ende. Es folgte 1914 sein Werk ‚Dokumente des Vegetarismus’, in dem er Gräser eine volle Seite einräumt.

Hammer bestätigt auch hier seine hohe Einschätzung Gräsers aus dem Nietzsche-Buch. Er ist gut unterrichtet, kennt sowohl Schlafs Artikel in der Frankfurter Zeitung von 1909 wie den in den Hamburger Nachrichten von 1911.

Dann aber, als Muck-Lamberty den Freundesbund für Gräser gründet, kommt es zur Entfremdung. Muck stellt in einem „Offenen Brief“ an Hammer von 1921 die Sache so dar:

„Ich kenne Dich seit 1913 vom Hohen Meißner. … Als wir den Gräser-Bund ins Leben rufen wollten, schriebst Du mir, Du könntest den Gräser nicht mehr in die „Dokumente des Vegetarismus“ aufnehmen, da Du gehört habest, Gräser hätte einmal irgendwann ein Würstel gegessen. In Wirklichkeit war es aber so, daß Dir Gräser als ein Freier zu lebendig erschien … „
(In: Der Zwiespruch, 3. Jg., Nr. 32, 5. August 1921, S. 1)

Die Wege trennten sich. Gräser flog aus den ‚Dokumenten des Vegetarismus’, Hammer folgte dem Ruf von Kaiser und Vaterland. Als Muck-Lamberty gegen Ende des Krieges wieder aktiv wurde, war es nicht Hammer, der ihn öffentlich und mit Begeisterung begrüßte, sondern Alfred Kurella. Er druckt auch nicht die Flugblätter ab, die Muck ihm zuschickt, worauf dieser ihn im ‚Zwiespruch’ mit derben Worten angreift.

Im Winter 1921 sprach sich herum, dass Muck mit mehr als einer Frau Kinder gezeugt habe. Auch die Exzesse des entlaufenen Gräserschülers Louis Häusser machten von sich reden. Damit war für Hammer Anlass und Handhabe gegeben, nicht nur mit Muck und Häusser, auch mit Gräser gründlich aufzuräumen. Er tut das in einem mehrseitigen Artikel in ‚Junge Menschen’ mit der Überschrift „Irrsinn oder Gaunertum?“ (JM, Mai 1922, Heft 9/10, S.138-142). Er lässt dem Leser wenig Wahl, wirft die wilden Schwarmgeister um Häusser mit Gräser in einen Topf.

„Vorm Kriege tauchten von Zeit zu Zeit Naturmenschen und Wildlinge auf, primitive Menschen, die sich in der Heilandsrolle gefielen oder aus lauter Eitelkeit von sich reden machen wollten. Manchen war es sogar herzlich ernst, mancher wäre auch ernst zu nehmen gewesen, wenn er Schein und Sein in Einklang hätte bringen können, statt sich in eitler Pose des Erlösers zu gefallen. Da war der Naturapostel Johannes Guttzeit …  da war Buttenstedt … da war Gustav Nagel … Kurz vorm Kriege spielten Gusto Gräser und der Architekt Karl Buschhüter vom Niederrhein die Hauptrollen im Psychopathen-Zirkus. Gusto Gräser – irrtümlich auch in die „Dokumente des Vegetarismus“ mit hineingeraten – wurde auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 als Kuriosität belacht, aber nicht gerade tragisch genommen, wiewohl manch Feinfühliger ihn schon damals als einen Parasiten ablehnte, dessen Durchfütterung allerdings vor dem Kriege keine schwere volkswirtschaftliche Belastung bedeutete.“ (S.138)

Gusto Gräser kommt noch relativ glimpflich davon, aber die Brandmarkung als „Psychopath“ und „Parasit“ genügte. Die Wirkung war katastrophal; Gräsers Ruf in der Jugendbewegung, ohnehin prekär, war zerstört. Als der Dichter, nach zweijährigem Exil nach Deutschland zurückgekehrt, aus Dresden ein Werbeblatt versandte, in dem er um Einladungen bat, erhielt er keine einzige.


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