Aus einem Flugblatt Gusto Gräsers, Freiburg, Winter 1919/20
Vorrede
Im Winter 1919/20 trat Gräser in Freiburg auf, sprach monatelang vor vollbesetzten Sälen, war umkämpft und umstritten bis hin zu Verhaftung und Ausweisung. Diese Verfolgung und Verurteilung eines Straßenphilosophen konnte den jungen Privatdozenten Heidegger nicht unberührt lassen. Wurde Gräser zum Anstossgeber für den in einer Lebenskrise befindlichen Denker? Ein breites Spektrum von gemeinsamen Grundworten und Themen verbindet sein Werk mit dem Gusto Gräsers: Eigentlichkeit – Selbstsein und Man – Entschlossenheit – Dasein – Offenheit - Bin – Hören – Reichtum der Hütten – Tracht - Schwere –Mitsein – Schonen – Mache - Lichtung – Wohnen – Nähe – Handwerk – Ringen - Raum – Die Zukünftigen – Der Wanderer – Heim und Heimat – Laut und Läuten – Blitz – Winke und andere. Zusammen mit den biographischen Fakten, namentlich Heideggers artverwandter Lebensweise, ergeben sie ein Bild, das nachdenklich stimmt.
Hier soll nicht behauptet werden, dass es derzeit bekannte schriftliche Belege gebe für eine Begegnung der beiden Denker. Ob sie nun stattgefunden hat oder nicht – allein schon eine Gegenüberstellung der beiden ist aufregend genug. Keine Frage: Heideggers Philosophie liest sich auf weite Strecken wie eine Umsetzung von Gräsers Denken ins Akademische. Sie kann helfen, Gräser besser zu verstehen. Wie auch umgekehrt die Dichtung des Siebenbürgers das Denkgebäude des Schwarzwälders blitzlichtartig erhellt.
Wer an eine direkte Einflussnahme trotz aller Indizien nicht glauben will, dem stellt sich immer noch die Frage: Wie ist es möglich, dass eine so weitgehende Übereinstimmung in Lebensweise, Sprache und Weltbild zwischen Zeitgenossen entstehen konnte? Woher dieser Parallelismus?
Und wer dann weiß, dass Gräser schon seit spätestens 1904 in Südbaden aufgetreten ist, dass er routinemäßig bei Professoren anklopfte und ihnen aus seinen Schriften vortrug, so bei Alois Riehl, einem Vorgänger Heideggers in Freiburg, so bei seinen Kollegen in Heidelberg und anderswo, der wird weiter rätseln und sich die Frage stellen: Gab es da einen Besucher in Freiburg oder Marburg, über den Heidegger nicht reden konnte, weil er sonst seine Karriere, ja seine bürgerliche Existenz ruiniert hätte? An wen dachte er, als er sagte und schrieb: „Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag“? Von wem konnte gelten, dass bei seinem Auftreten oder Eintreten „dem heutigen Normalmenschen und Biedermann bange wird und zuweilen vielleicht schwarz vor den Augen“?
Am ehesten doch von Gusto Gräser. Er erschreckt den Biedermann und Normalmenschen noch heute. War der Bürgerschreck aus Siebenbürgen für den Freiburger Philosophen das „Geheimnis seines Daseins“?
Es hat sich ein Flugblatt Gräsers erhalten, gedruckt im Winter 1919/20 in Freiburg, das mit seiner direkten persönlichen Ansprache aus dem Rahmen seiner sonstigen Veröffentlichungen abrupt herausfällt. Dort heißt es, ohne jede Einleitung oder Erklärung, in Riesenbuchstaben: „Du! … Zeig dich!“
Wer sollte sich zeigen, jetzt, in der Stunde der Gefahr, da seine Ausweisung aus Baden drohend bevorstand? Wen könnte er gemeint haben?
Es gibt deutliche Hinweise, dass es im Nachlass Heideggers Spuren seiner Gräser-Beziehung gibt oder gegeben hat. Der Anruf richtet sich also heute an seine Erben und Nachlassverwalter: „Du! … Zeig dich!“