Der Prophet im Hotel
Gusto Gräser in Freiburg
Am 22. Dezember 1919 meldet die Freiburger ‚Volkswacht, Tageszeitung für das werktätige Volk Oberbadens‘, dass „G u s t o G r ä s e r , der sich seit längerer Zeit in unserer Stadt aufhält und jedem Freiburger durch sein eigenartiges Äußeres auffällt“, als “lästiger Ausländer“ ausgewiesen werden soll. Acht Tage später, am 30. Dezember, bringt das selbe Blatt eine Anzeige: „Gespräch zur Lichtung der brennenden Frage: ‚Wie tragen wir unsere Schuldenlast ohne Verknechtung ab? - Wie werden wir frei?‘“ (Die ‚Volkswacht‘ war eine sozialdemokratische Zeitung; 1933 wurde sie verboten und ihr Gebäude von SS und SA gestürmt.) Auch im „Tageskalender“ der ‚Freiburger Zeitung‘ vom selben Tag wird die Veranstaltung im ‚Freiburger Hof‘ für den Abend um 8 Uhr angekündigt – in beiden Fällen ohne Nennung des Redners.
Es besteht kein Zweifel, dass es sich um einen Vortrag von Gusto Gräser handelte. Warum nennt er in den Anzeigen seinen Namen nicht? War ihm die Namensnennung oder das öffentliche Auftreten an sich von den Behörden verboten worden? Oder könnte es sein, dass er in Freiburg schon so bekannt war, dass er eine Namensnennung gar nicht mehr nötig hatte?
Zweite Merkwürdigkeit: das Lokal. Man hätte vermutet, dass es sich beim ‚Freiburger Hof‘ um irgendeine Kneipe mit Hinterzimmer halten würde, ein Arbeiterlokal, denn von der Arbeiterzeitung ‚Volkswacht‘ wurde er ja sichtlich unterstützt. Großer Irrtum! Beim ‚Freiburger Hof‘ handelte es sich um eines der ersten Hotels am Platze, eine renommierte Institution, einen vornehmen Prunkbau.
Wie kam der Sandalenträger, der „Barfußprophet“, in ein solches Haus? Wie konnte er sich die Anmietung eines Saales in diesem Luxusetablissement leisten? Er konnte sich eine solche Anmietung sicher nicht leisten. Es ist nicht einmal denkbar, dass er, allein kommend in seiner Urmenschentracht, überhaupt ins Haus hineingelassen worden wäre. Es ist auch nicht vorstellbar, dass er in einem solchen, luxuriös-vornehmen Etablissement hätte auftreten wollen. Dieses Haus präsentierte genau das, was er verabscheute und bekämpfte. Wie also kam der Prophet ins Luxushotel?
Die Frage ist deshalb interessant, weil sich aus ihrer Beantwortung Schlüsse ziehen lassen über seinen Status in der Stadt. Er muss Förderer, er muss wohlhabende Anhänger gehabt haben, bürgerliche Personen, die gewohnt waren, in solchen Hotels zu logieren oder zu sprechen. Dafür kamen in der Universitätsstadt Freiburg vor allem Professoren in Frage oder etwa erfolgreiche Schriftsteller oder Ärzte. Und tatsächlich haben ein Arzt und ein Schriftsteller sich in Zeitungsartikeln für ihn eingesetzt. Mit anderen Worten: Gräser war schon im Dezember 1919 in den bürgerlichen Kreisen Freiburgs bekannt – in jenen Kreisen, in denen der aufstrebende Privatdozent Heidegger sich bewegte - und wurde von manchen ihrer „Prominenten“ unterstützt und bewundert.
Zum zweiten: Gräser muss sich schon längere Zeit in der Stadt aufgehalten haben, um solche angesehene Sympathisanten zu gewinnen. Darauf weist auch die Androhung seiner Ausweisung hin. Bevor ein behördliches Eingreifen in Gang kommt, muss sich Einiges abgespielt haben: Provozierendes, Aufsehen und Ärgernis Erregendes. Sicher wird Gräser schon öfter – also wohl schon im November oder Oktober oder noch früher - Vorträge oder vielmehr „Öffentliche Gespräche“ in der Stadt abgehalten haben, auch wenn uns dafür keine Dokumente vorliegen. Und sie müssen erfolgreich gewesen sein.
Das Hotel ’Freiburger Hof‘ beim Martinstor
Gräser kann sich in diesem Milieu nicht wohlgefühlt haben. Die Gestalt des Armutspredigers zwischen Kronleuchter und Klubsessel – eine fast schon absurde Situation. Darum war sein Auftreten dort wohl nur eine vorübergehende, einmalige Sache. Im Februar finden seine “Gespräche“ – nach seiner zwischenzeitlichen Verhaftung – in einem anderen Lokal, im Harmoniesaal, statt. Es dürfte sich um das Gebäude des heutigen Harmonie-Kinos gehandelt haben. Auch hier war einmal ein repräsentativer Raum mit einigen hundert Sitzplätzen gegeben, aus dem inzwischen ein Kinosaal geworden ist. Wie die Abbildung unten vermuten lässt, sind offenbar die oberen Stockwerke im Bombenkrieg zerstört worden
Beide Lokalitäten sprechen ebenso wie die Zeitungsberichte dafür, dass Gräsers Ansehen und Anhängerschaft in Freiburg recht bedeutend war. Die Universitätsstadt an der Pforte zum Schwarzwald bezeichnet einen später nie wieder erreichten Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit.
Der Harmoniesaal heute als Kinosaal
Ab Februar 1920 erschienen Beiträge über Gräser nicht nur in der ‚Volkswacht‘ sondern erstaunlicherweise auch in der ‚Freiburger Zeitung‘, dem offiziellen Organ der Staatsregierung. Auch das spricht für seinen hohen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit. Eben diese Regierung vertrieb aber Gräser aus der Stadt und dem Land. Nachdem er für Mittwoch, den 18. Februar, ein Gespräch über das Thema „Was kann uns heilen? Christentum?“ angekündigt und vermutlich auch abgehalten hatte, finden sich über ihn keine Zeitungsberichte mehr. Da klar ist, dass er die gestellte Frage negativ beantworten musste, könnte dieser Angriff auf das Christentum der letzte Auslöser für seine Abschiebung gewesen sein.
Gräser war für die Behörden zu mächtig geworden. Gerade sein Erfolg führte seine Ausweisung herbei. Die Bischofsstadt konnte den Ketzer, die Universitätsstadt den neuen Sokrates nicht ertragen. Einzelne Menschen aber, so dürfen wir vermuten, junge vor allem, hatten mit ihm eine Erfahrung gemacht, die unvergesslich blieb. Eine solche, die in ihrem Denken und Schreiben tiefe Spuren hinterliess. Dass im Titel seines Vortrags von Ende Dezember das Wort „Lichtung“ aufscheint, muss uns ein Licht aufstecken. | ||