Der Neue Bund

Gustav Landauer (1870 -1919) und der Monte Verità

 

 

Anhänger von Landauer aus dem Umkreis von Friedrichshagen

zogen ab 1904 nach Ascona, wo sie die Vorstellungen ihres Lehrers

 besser verwirklicht fanden als in der Berliner 'Neuen Gemeinschaft':

Erich Mühsam, Johannes Nohl, Raphael Friedeberg, später auch Else Lasker-Schüler.

 Auf Erich Mühsams begeisterte Briefe reagierte Landauer gereizt und abwehrend,

 die Berichte seiner Schüler setzten ihn in Zugzwang.

Er antwortete mit der Gründung des 'Sozialistischen Bundes', der die Siedlungsidee

als zentralen Programmpunkt aufnahm.

Sein neu formulierter Kultursozialismus wirkte auf den Philosophiestudenten

 Ernst Bloch, wurde zu einem tragenden Element in dessen Konstruktion der Utopie.

Als der Weltkrieg jedes libertäre Denken in Deutschland erstickte,

flüchtete sich Bloch auf die pazifistische Insel in der Schweiz,

die Landauer ebenso inspiriert hatte, wie sie von ihm mit

 inspiriert worden war.

 

Von Ascona nach Ascona

Im Frühjahr 1904 hat Erich Mühsam mit seinem Freund Nohl zusammen den Monte Verità für sich entdeckt. Er schickt einen begeisterten Brief an seinen väterlichen Freund und Mentor Gustav Landauer nach Berlin, in dem er sich vor allem über Karl Gräser geäußert haben muss. Landauer zögert monatelang mit seiner Antwort. Erst gegen Ende September (am 26.9.), als Mühsam längst Ascona wieder verlassen hat, kann er sich zu einer Erwiderung aufraffen. Er schreibt:

"Deinen Brief aus Ascona habe ich seiner Zeit mit großer Teilnahme gelesen, habe auch einige Bedenken dabei, indem ich für möglich und fast wahrscheinlich halte, daß derlei Absonderlichkeiten solcher Naturen nicht aus wahrer Produktivität, sondern aus gesteigert großer Rezeptivität kommen. Die Produktiven haben nämlich meist so viel mit der Gestaltung ihrer Innerlichkeiten zu tun, daß ihnen für die Details des Außenlebens und derlei Reibungen und Befreiungen von Conventionen gar keine Zeit bleibt; ja sie werden sich sogar oft der Convention als einer Maske und natürlichen Schutzvorrichtung bedienen. Damit sage ich übrigens nichts gegen jene Menschen: es ist gut, daß die, die den Traum nicht gestalten können, zu ihrem bescheidenen Teil Wirkliches formen".

(In Szeemann: Monte Verità, S.32)

Der Brief strotzt geradezu von überheblicher Herablassung. Landauer fühlt sich offensichtlich angegriffen, gekränkt und bedrängt. Da ist nun ein Schüler, der bisher ihn als Vorbild verehrte, übergelaufen zu einer unvermuteten Konkurrenz. Zu solchen nämlich, die das verwirklichten, was er vor Jahren gepredigt, propagiert und vergeblich in eine lebensfähige Realität umzusetzen versucht hatte. 'Durch Absonderung zur Gemeinschaft', so lautete der programmatische Titel seines Vortrags, den er am 18. 6. 1900 in der von den Gebrüdern Hart gegründeten 'Neuen Gemeinschaft' gehalten hatte. Er endete in dem Aufruf:

Fort vom Staat, soweit er uns gehen läßt oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der Waren- und Handelsgesellschaft, fort vom Philistertum! Schaffen wir, wir Wenigen, ... eine kleine Gemeinschaft in Freude und Tätigkeit, schaffen wir uns um als vorbildlich lebende Menschen. (In Cepl-Kauffeld: Berlin-Friedrichshagen, S. 236)

Erich Mühsam, Martin Buber, Else Lasker-Schüler und andere hatten in der 'Neuen Gemeinschaft' den Versuch einer solchen Vorbild-Kommune mitgetragen. Nach einem Jahr schon war er in großen Phrasen, theatralischen Weihestunden und kleinen Trivialitäten versandet.

Nun stellte ihm Mühsam ein anderes Experiment vor Augen, das immerhin schon fast vier Jahre überlebt hatte, das sich als lebensfähig und attraktiv erwies, eben weil die Initiatoren sich wirklich abgesondert, wirklich die Maske der bürgerlichen Anpassung abgeworfen und die Reibung mit den Konventionen nicht gescheut hatten. In besonderem Maße galt das für die Brüder Gräser, auf deren "Absonderlichkeit" Landauer ausdrücklich Bezug nimmt. Gegen dieses Überholt- und Widerlegtwerden durch Andere, Mutigere, Konsequentere, muss er sich in eine näselnde Arroganz retten, die jene Anderen als die angeblich Unproduktiven herabsetzt. In seinem Selbstgefühl verletzt, zieht er sich auf seine "Innerlichkeit" zurück.

Ja, sagen die Herren: die Einfachheit -

dagegen ist nichts zu haben.

Ja  - aber - Sandalen und so ein Kleid -

pah, Äusserlichkeit - darüber sind wir

erhaben!

Wir pflegen das Innre, wir pflegen den Geist!

So tönen die Herrn, die das Bangen beisst,

die täglich hupfen und hüpfen

am Schlips den Mann aufzuknüpfen,

die täglich, stündlich sich retten

die Freiheit mit den Mannsketten.

So hätte Gusto Gräser ihm geantwortet, und so hat er möglicherweise tatsächlich auf Landauer reagiert. Es ist sicher kein Zufall, dass dessen Name unter den Sympathisanten Gräsers niemals auftaucht, obwohl sie doch in ihren "politischen" Anschauungen sehr nahe beieinander standen. Gräser muss den Herold und Philosophen der Siedlung in Berlin aufgesucht haben, daran kann es keinen Zweifel geben, das war seine Art und Weise. Und das Ergebnis einer solchen Begegnung kann kein anderes gewesen sein als im oben zitierten Brief zum Ausdruck kommt.

Zum Zeitpunkt jenes Briefes hatte sich Landauer aus der aktiven Politik resigniert zurückgezogen. Die Botschaft aus Ascona trifft einen Menschen, der, sonst so aktiv in werbendem Reden und Schreiben, seit mehreren Jahren verstummt ist. Der einstige Propagandist eines antiautoritären Sozialismus und einer mystischen Menschengemeinschaft hat sich ins Privatleben zurückgezogen, ist Mitarbeiter einer Buchhandlung geworden. Der Jubelruf vom Monte Verità, der seine eigensten Ideale berührte, musste ihn im Innersten treffen, musste ihm als scharfer Stachel im Fleisch sitzen. In dem kaum verdeckten Hohn seiner Antwort wird die eigene Verletztheit spürbar.

Landauer befindet sich in der Defensive. Nachdem er sich zunächst nur zurückgezogen hatte, wird er jetzt von den eigenen Jüngern ins Abseits gestellt. Nicht nur Erich Mühsam, auch Johannes Nohl, Else Lasker-Schüler, Raphael Friedeberg, Otto Buek, Johannes Holzmann, Werner Karfunkelstein - alles Menschen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis - ziehen nach und nach asconawärts. Er, der diesen Menschen einst so etwas wie der Führer ins Gelobte Land gewesen war, steht verwaist da. Er muss seine Führerschaft wieder geltend machen, er muss die Initiative zurückgewinnen.

Seine Antwort auf die Herausforderung kommt, nach gründlichem Nachdenken, drei Jahre später: in der Schrift 'Revolution' (1907), in den dreißig Thesen zu 'Volk und Land' (1907) und im 'Aufruf zum Sozialismus' (1908). Während seines Aufenthalts in Ascona im Sommer 1908 scheint ihn die Begegnung mit den Siedlern des Monte Verità motiviert zu haben, den Gedanken einer anarchistisch-reformistischen Siedlung wieder aufzugreifen und voranzutreiben. Landauer gründet den 'Sozialistischen Bund' (1908). Ab 1909 lässt er auch seine eingegangene Zeitschrift, den 'Sozialist', wieder erscheinen.

Der Kernpunkt ist, nicht überraschend: Landauer ruft jetzt zur ländlichen Siedlung auf. Damit nimmt er scheinbar sein altes Thema - "Durch Absonderung zur Gemeinschaft" - wieder auf, darin war aber der Gedanke der Siedlung noch nicht oder bestenfalls latent enthalten gewesen[1]. Jetzt greift er ihn auf, allerdings in einer Form, die jene Verletzung durch das Vorbild Ascona umsetzt in ein bürgerlich gemildertes Programm. Ein solches nämlich, das ihm erlaubt, jene Mühseligkeiten des Außenlebens, jene Reibungen und Befreiungen von den Conventionen, die er fürchtet, die er nicht leisten kann oder will, zu vermeiden. Landauer ist kein Lebensreformer, er ist Kettenraucher. Zwar übernimmt er das Ideal der ländlichen Siedlung, erhöht es aber durch einen mehrstöckigen Überbau, der die angebliche "Absonderung", d. h. den Bruch mit dem Bestehenden, seinen Zwängen und Konventionen, praktisch zum Verschwinden bringt. Landauers neuer Sozialismus ist nämlich "Kultursozialismus", ist völkischer Sozialismus, ist religiöser Sozialismus. Der überrundete Avantgardist klammert sich nun an die konservativen Mächte von Kultur, Volk und Religion.

Kultur. Dies ist seine neue Definition von Sozialismus: "Der Sozialist will, daß alle nützlich arbeitenden Menschen ... die Möglichkeit zur vollen Teilnahme am Kulturleben haben." (Beginnen 4)

Volk. "Der Sozialismus kann ... als Wirklichkeit leben nur ... in dem neu werdenden Organismus des Volkes." (Beginnen 11)

Religion. "Die Weisheit, die Kunst und das Dichten ... ist eine Lebensbetätigung dritter Ordnung, deren Namen wir gleich nennen wollen: Religion." (Beginnen 5)

Die Folge dieser Neuformulierung seines Programms ist, um das Ende gleich vorwegzunehmen, dass es nie zu der verbal propagierten Siedlung kommt. Stattdessen wird sie ideologisch überhöht, geradezu mythisiert. "Um die Worte 'Land', 'Boden', 'Siedlung' rankt sich sein 'Boden'-Mythos ... Der Siedlung kommt eine religiöse Bedeutung zu; sie ist der Exodus und das Werden eines neuen Geist-Volkes", resümiert Ulrich Linse (Org. An. 279). Zwar verkündet Landauer:

Wir wollen Siedlungen gründen; ... wir wollen recht viele, nach Möglichkeit alle unsere Bedürfnisse selbst herstellen (in Linse 280). - Der Sozialismus ist die Rückkehr zur natürlichen Arbeit, zur natürlichen, abwechslungsvollen Verbindung aller Tätigkeiten, zur Gemeinschaft von geistiger und körperlicher, von handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit, zur Vereinigung auch von Unterricht und Arbeit, von Spiel und Arbeit. (Beginnen 71)

Landauer verkündet also ziemlich genau das, was die Pioniere von Ascona schon verwirklicht hatten. Die eben deshalb jenen Gefühlsdunst nicht nötig haben, den Landauer produziert: 

Die Stadtproletarier werden ihr Blut wieder in sich rauschen fühlen und werden spüren, daß es Bauernblut ist, und viele, viele werden wieder mit Sack und Pack in die Dörfer und Städte ziehen. (Ebd.)

Diese "Blut-und-Boden-Romantik" (Linse, Org. An. 279) fabuliert eine Idylle, bleibt aber folgenlose Wunschphantasie eines großstädtischen Intellektuellen. Der geforderte Kultursozialismus macht es andererseits möglich, dass Landauer weiterhin über Shakespeare, Goethe und Hölderlin Vorträge halten kann, zum Dramaturgen eines Theaters wird und dem Theater allgemein eine hohe volksbildende, fast schon erlösende Funktion zuspricht. Nicht Gräser, Tolstoi oder Kropotkin sondern der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser wird ihm zur idealisierten Leitfigur. Im Grunde verfolgt Landauer ein altgewohntes Programm des Besitz- und Bildungsbürgers: der Arbeiter muss durch Theateraufführungen und Volkshochschulkurse zu unserer eigenen Kulturhöhe erhoben werden.

Die andere konservative Größe, die er als progressive beschwört, ist das Volk. "Nationalität, Rasse, Stammesqualitäten sind wundervoll tiefgewurzelte und verbindende Individualeigenschaften." - "Deutschtum ist Geist, ist verbindende Eigenschaft, ist Sprache" (Beginnen7 und 15). Dass er das Volk als Gegenmacht gegen den Staat beruft, ist zwar aller Ehren wert, trägt aber in sich die Gefahr der Volkstümelei und der nationalistischen Selbstüberhebung.

Schließlich die Religion. "Sozialismus (ist) der Versuch, das Mitleben der Menschen zur Bindung in Freiheit aus gemeinsamem Geiste, das heißt zur Religion zu bringen ... in den Formen der Erforschung der Natur, die Wissenschaft heißt, und des heiligen Spieles, das Kunst heißt" (Beginnen 30). Mit Religion meint er also nichts anderes und nicht mehr als Kunst und Wissenschaft, sanft überwölbt durch die blassblaue Hoffnung, dass "der göttliche Überwältiger kommt, der über unserer Kultur die Fahne des Geistes spannt und den Sturm des Wahnes wehen lässt" (Beginnen 8). "Über allen Zwecken des Lebens soll ein Sinn, eine Heiligung, ein Wahn, ein Etwas wohnen, um dessentwillen gelebt und mitgelebt wird." (Beginnen 19)

Ein bloßes Postulat, ein farbloses Etwas ohne Grund und Boden. Landauer spricht von "Religion"; es ist aber nicht viel mehr als bürgerlich-idealistische Kulturrhetorik, was er zu bieten hat. Nicht nur in seinem Außenleben, auch im Innenleben steht er, trotz aller vehementen Staatskritik, näher beim zeitgenössischen Wilhelminismus als ihm selber bewusst werden darf. Landauer ist seit 1907 der unbedingte Revisionist unter den sogenannten Anarchisten; er scheut nicht nur die Revolution, er scheut auch jeden ernsthaften Bruch mit seiner bürgerlichen Lebensform. Er ist der Kanzelprediger eines "Exodus", den er selbst nicht vollzieht.

Doch nicht Landauer interessiert hier sondern seine Wirkung auf Bloch. Es zeigt sich nämlich - und Arno Münster und andere haben das in ihren Untersuchungen nachgewiesen -, dass die Vorgaben des Kultursozialisten grundlegend gewesen sind für den Denker der Utopie. Selbst der Begriff der Utopie, wie ihn Bloch dann verwendet und weiterentwickelt, ist von Landauer neu geprägt worden. Er hat ihn dynamisiert, soziologisiert, historisiert. In seinem Buch 'Revolution' unterscheidet er zwischen Topie und Utopie. Topie meine die bestehende Realität, Utopie das erwünschte Ideal. Der Geschichtsprozess nun vollziehe sich als ein Wechselspiel zwischen Topie und Utopie, zwischen Erstarrung und Idealbildung, die aber immer wieder in neuer Erstarrung endet. Mit Utopie ist also nicht mehr die Vorstellung eines Idealstaates verstanden, sondern allgemeiner das die Geschichte vorwärtstreibende Moment der Hoffnung, des Wunsches, der Phantasie, das Bestehendes auflöst, verändert, Erneuerung herbeiführt, ohne je zu seiner vollen Verwirklichung zu gelangen. Dies aber ist der Begriff, den Bloch zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht hat.

Diese Übernahme steht keineswegs für sich allein. Auch Landauers Zielbegriff der "brüderlichen Menschengemeinschaft" findet sich wieder bei Bloch als "mystische Menschengemeinschaft", als "ethische" oder "mystische Demokratie" oder "Genossenschaftsdemokratie". Der Staat als solcher ist ein "Nichts", heißt es gleichlautend bei Bloch (U 410) wie vorher schon bei Landauer (Beginnen 10 und 20). "Zur Errichtung des Sozialismus ist eine neue Grundhaltung notwendig, die des äußeren Zwanges nicht mehr bedarf und an dessen Stelle brüderliches Verhalten setzt", analysiert Christen (in Münster 124). Eine Auffassung, die für Bloch wie für Landauer verbindlich ist.

Die bereits 1907 erschienen Schrift 'Die Revolution' von Gustav Landauer enthält nach Münster "eine Reihe von Denkmotiven und Themenkomlpexen ... die zum bestimmenden Grundzug der Philosophie von Ernst Bloch werden sollten, wie z. B. den Rekurs auf die großen Utopien und Staatsromane des Thomas Morus und des Campanella; die Kritik an der obrigkeitsstaatlichen Ideologie des lutherischen Protestantismus, die hohe Bewertung der sozialrevolutionären Rolle Thomas Münzers und der Versuche der Wiederbelebung eines urchristlich-kommunistischen brüderlichen Gemeindechristentums durch die 'böhmischen und mährischen Brüder', Herrnhuter, Hussiten und sonstige Ketzerbewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die Kritik der Staatsgläubigkeit und der Glaube an die Erneuerungsfähigkeit der Menschheit durch das historische Gestaltwerden der Utopie." (Münster 125)

Die Entsprechungen und Entlehnungen gehen so weit, dass von anarchistischer Seite der Vorwurf erhoben werden konnte, Bloch habe in seinen frühen Schriften "bedenkenlos von Landauer abgeschrieben" (Eisenbarth in Münster 126). Dem steht gegenüber, dass der jüngere Philosoph den Namen seines inspirierenden Vorgängers durchgehend verschweigt. Landauer, das mochte dabei mitspielen, hatte ihn, seines zusammenraffenden Eklektizismus wegen, einen "bezaubernden Konkurrenten Rudolf Steiners" genannt (in Susmann: Das Nah- und Fernsein, S. 76).

Aber auch das ist nicht unser Thema sondern die unübersehbare Tatsache, dass Landauers Denken sowohl für die Monteveritaner einschließlich Gusto Gräsers - wenn auch selbstverständlich mit Variationen - bestimmend geworden ist wie andererseits für Ernst Bloch. So dass Bloch, als er nach Ascona kam, nicht fremdes Neuland betrat, sondern, zu guten Teilen wenigstens, seine Herkunft und geistige Heimat.

1908 war er nach Berlin übersiedelt und hatte dort im Seminar von Simmels Margarete Susmann kennen gelernt. Diese Kollegin, die er bald als "liebe Schwester" ansprach und als "vornehmste Fürstin" verehrte (in Nah- und Fernsein, S.78), war mit Landauer befreundet, dessen Gesinnung ihr zum Vorbild geworden war. "Auch sein praktischer Gedanke an Siedlungen einander nahestehender Menschen" leuchtete ihr ein (Susmann: Leben 75). Durch sie also dürfte Bloch zu Landauer geführt worden sein, von dem er vielleicht schon in München gehört hatte. Dort hatte er im November 1906 einen Vortrag von Raphael Friedeberg besucht und dabei möglicherweise die ersten Hinweise sowohl auf Monte Verità wie auf Landauer erhalten. 1908 nun in Berlin lag des Letzteren 'Revolution'-Buch vor und auch die dreißig sozialistischen Thesen 'Volk und Land', jene beiden Schriften also, aus denen Bloch teils sogar wörtlich geschöpft hat und die in mancher Hinsicht als Vorstufen zu 'Geist der Utopie' zu betrachten sind.

In den Jahren 1910 bis 1911 beschäftigte er sich dann eingehend mit den Lehren der Kabbala und der Theosophie des Alten Testaments, möglicherweise auch hier unter dem Einfluss der verehrten jüdischen Freundin. Er äußert sich in einem Brief an Frau Susmann-Bendemann glücklich darüber, "wie sehr in uns das verwandte Blut ein gleiches Lied singt", einig mit ihr auch im Wissen, "wie das Judentum die wartende Religion ist, mit dem unerlösten Gefühl gegen jeden bisher gekommenen Messias und der großartigen Unzufriedenheit und Sehnsucht, daß es noch ganz anders und daß eigentlich noch Alles kommen müsse. So ging der jüdische Geist in seinem besten und echtesten Zug durch Moses und die Propheten und die Chassidim hindurch und ist jetzt in meinem Manuskript inkarniert". Die Juden seien auserwählt, "um den jeweils geltenden Namen Gottes zu ernennen: sie besitzen den Geist des Vertrags. Ich werde ihn wieder neu aufstellen und zur Rechten von Moses, Jesus und Spinoza sitzen ... " (In: Nah- und Fernsein, S. 79).

Damit, zusammen noch mit Studien über Böhme und die weitere esoterische Tradition, die ebenfalls in diesem Zeitraum geschehen sein müssen, waren die Grundlagen gelegt und die Quellen erschlossen, die dann in 'Geist der Utopie' gebündelt und verwandelt wieder zum Vorschein kamen. Es sind aber solche Quellen, die zugleich in Ascona, namentlich von Johannes Nohl, aber auch von anderen benutzt und in ein Arsenal des geistigen Widerstandes gegen die herrschende Autoritätskultur eingefügt wurden.

Wenn daher Bloch 1917 nach Ascona ging, dann lag darin, jenseits der aktuellen Anlässe und Vermittlungen, eine tiefe innere Konsequenz: Er suchte und fand den Ort, an dem sein eigenes Denken und Hoffen eine äußere Erfüllung gefunden hatte, den Ort seiner konkret gewordenen Utopie.

Was konnte er noch lernen an diesem Platz, was konnte ihm Ascona noch geben, das er nicht längst schon selbst gefunden hatte? Eben dies: die Konkretion, d. h. die Verwirklichung in Wesen und Tat. Es würde sich zeigen müssen, ob er der Konsequenz seiner Entwürfe gewachsen war.

 

Die Zeitschrift des Sozialistischen Bundes

Der Neue Bund

Nur die Schwächen Landauers zu sehen, wäre freilich ungerecht. Was positiv über sein Wesen und seine Leistung zu sagen ist, das hat Rolf Kauffeldt in einem ausgezeichneten Aufsatz dargetan und soll hier nicht wiederholt werden. Wenn er behauptet, dass Landauer "neben Nietzsche, Stirner und Wagner der vierte große geistige Anreger der literarischen Moderne in Deutschland war", so soll dem nicht widersprochen werden.

Sein Einfluss ist bezeugt von so unterschiedlichen Schriftstellern und Künstlern wie Alfred Döblin, Arnold Zweig, Hermann Hesse, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Georg Kaiser, Franz Jung, Leonhard Frank, Hugo von Hofmannsthal, Theodor Heuß, Louise Dumont, Gottfried Benn, Manès Sperber, Franz Werfel und vielen anderen. Ernst Blochs Frühwerk lehnt sich in seinem ganzen Zuschnitt deutlich an von Landauer vorgeprägte Begriffe, Definitionen und Auffassungen an. (Kauffeldt in Frank 135)

Kauffeldt hätte auch andere Name nennen können: Erich Mühsam, Johannes Nohl, Raphael Friedeberg, Otto Groß - und auch Gusto Gräser. Es wurde schon angedeutet, dass vor allem die politischen Anschauungen Gräsers durchgehend von Landauer geprägt erscheinen. Was selbstverständlich ebenso für die zuvor genannten "Asconesen" und ihre Gesellen gilt. So auch für Margarete Faas-Hardegger, die zu den engsten Mitarbeiterinnen Landauers gehörte und sich 1917 ebenfalls in Locarno niederließ. Der Monte Verità von Ascona war in politischer Hinsicht eine Landauersche Kolonie.

Kauffeldt behandelt Landauer unter dem zentralen Aspekt des Bundes, des "neuen Bundes" oder "neuen Volkes", einer brüderlichen Menschengemeinschaft, die dieser Zukunftsdichter schaffen wollte. Er weist auf die geistige Ahnschaft hin, die diese Idee bei den französischen Frühsozialisten hatte, bei Fourier vor allem, in der Frühromantik und dann bei Richard Wagner. Beide, Fourier wie Wagner, sind als Ideengeber auch für die Gebrüder Gräser leitend gewesen.


Titel von Gusto Gräser

Was ungesagt bleibt: Fourier, Wagner und auch Landauer selbst waren Männer des Worts, Schriftsteller, Künstler. Sie haben eine neue, zwangsfreie Menschengemeinschaft entworfen und verkündet - gegründet haben sie sie nicht. Die Menschen des Worts hinterlassen schriftliche Spuren, sie werden beachtet. Wenig bemerkt oder ganz übersehen werden, solange ihr Werk nicht zur Sprache findet, die Menschen der Tat. Geschaffen haben solche Gemeinschaften im Geiste Fouriers, Wagners, Rousseaus und der Lebensreform der Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm Diefenbach und die Gebrüder Gräser.

In Diefenbachs Wiener Kommune 'Humanitas' lebten etwa zwanzig junge Menschen zusammen, teilten Besitz, Wohnung, Essen und Arbeit, lebten auf dem Lande, gingen in eigener Tracht, ernährten sich vegetarisch, schufen gemeinsam künstlerische Werke, verehrten und feierten die Natur, lasen gemeinsam die Schriften von Wagner, Nietzsche, Tolstoi und Rousseau.

Aus der Werkstatt von Diefenbach gingen die Maler Fidus, Kupka und Gräser hervor, von denen Franz Kupka weltbekannt wurde als einer der Pioniere der abstrakten Malerei. Diefenbach war aber auch ein Vorbild für die Friedrichshagener. Von Wilhelm Bölsche wurde er schon 1891 als "ein bleibendes Moment unserer Kulturentwicklung" angekündigt (Freie Bühne, 1891, S.958). "Im Neuen, im Besseren Kinder erziehen, das sei das Ganze. Und so sei seine eigenste Absicht ... ein freies Asyl zu gründen für Kinder, uneheliche in erster Linie, Kinder von Prostituierten, echte Märtyrerkinder unserer Zeit, die zuerst verdienten, die neue Welt kennen und lieben zu lernen" (ebd. 956).

In jener neuen Welt nämlich, in der "die Erde nicht mehr wie seither in ungerechter Weise als Privat-Eigentum verteilt sein wird ... während dadurch tausende von Menschen nicht ein Fleckchen Erde besitzen und in himmelschreiendem Elend ihr Dasein hinschleppen müssen" (Diefenbach in ebd. 955). Diefenbach wartete allerdings nicht auf den Tag X einer Revolution, die er ohnehin als Gewalttat verabscheute, sondern gründete, als "Verwirklichungssozialist", der er war, seine Gemeinschaft schließlich mit jungen Erwachsenen, nachdem ihm die Kinder von der Polizei wieder weggenommen worden waren. Zu seinen Schülern gehörte auch der Maler Hugo Höppener, den er "Fidus" nannte. Fidus zog später nach Friedrichshagen und wurde der führende Illustrator der damals aufstrebenden Reformbewegungen, von der Jugendbewegung bis zur Theosophie. Nach der Auflösung der 'Neuen Gemeinschaft' zog er vorübergehend, wie so viele andere aus diesem Kreis - und schließlich auch Bloch - nach Ascona. Die Verwirklichung des freien, des antiautoritären Sozialismus lief an Landauer vorbei.

Man hat ihn von Ascona her bestürmt und umworben. Erst Mühsam, dann Nohl, dann Otto Groß, und sicher auch Gusto Gräser haben sich an ihn gewandt. Landauer hat seinem Freund Mühsam erst die kalte Schulter gezeigt, dann aber doch den 'Sozialistischen Bund' gegründet und damit seinen asconesischen Freunden die Chance eröffnet, ihr zum Teil gräserisch inspiriertes Programm in einem organisatorischen Rahmen umzusetzen. Indirekt gab es eine praktische Zusammenarbeit mit den Gräsers und Ascona, wo eine eigene Ortsgruppe des Sozialistischen Bundes entstand; ideologisch rannten seine dortigen Freunde bei ihrem einstigen Meister gegen Mauern an. An zwei Grenzsteinen schieden sich ihre Wege: Religion und Psychoanalyse.

Als Johannes Nohl 1911 Landauers 'Aufruf zum Sozialismus' besprach und dabei den hohen Wert der Religion hervorhob, stieß er bei Landauer auf entschiedene Ablehnung. Erst recht wurde die sexuelle Utopie, wie Otto Groß sie propagierte, von ihm mit Abscheu bekämpft.

Landauer hat den 'Sozialistischen Bund' gegründet, eine lose Vereinigung seiner wenigen Anhänger, die sich in winzigen Ortsgruppen über das ganze deutschsprachige Gebiet verteilten. Eine Lebensgemeinschaft, die seiner Programmatik entsprochen hätte, ist daraus nirgends entstanden, es sei denn teilweise und in kurzfristigen Ansätzen und dann, bezeichnenderweise, wiederum im Umkreis von Ascona (Minusio, Fontana Martina, Herrliberg). Dagegen hielt sich die Gründung der Gebrüder Gräser immerhin rund zwanzig Jahre lang, wurde ein Zentrum mit starker Strahlkraft und ein Vorbild für andere Gründungen.

Gemeint ist allerdings weniger die Heilanstalt von Oedenkoven als das eigenständige Areal der Brüder und das von ihnen ausgehende Beziehungsgeflecht. Bund, brüderliche und schwesterliche Menschengemeinschaft, eine Gemeinschaft der Freien, ohne Zwang, war auch das große Wunschziel von Gusto Gräser. Ihn zu stiften zog er durch die Lande, klopfte an bei Menschen, die ihm tauglich schienen:

Ein Freund ist da - mach auf! Berlin 1912

Er ruft nach Freunden und sammelt sie zum Trostbund der Aufrechten, der nun werden will. -  Heran zu Unserem freien Bund! - Durch Bund nur wird lebendig unsre Welt! - Letztlich helfe nicht das Aufgeklär im Grund - Bewirten hilft, Aufnähren hilft, bezeugen lebgen Bund! Der aber entstehe nicht durch Organisation sondern durch Bande der Freundschaft, durch den Entschluss vor allem urbändig notwillig (zu) leben.  Einen Stromerbund, einen Weltbummelbund will er gründen, und dazu ruft er alle, die mit sich selbst und mit Urselbst im Bunde sind, heraus aus dem Gewohnten, zu Aufbruch, Wanderschaft und Zusammengang.

Ihr paar Entschlossnen - ! -

Freunde - Vertrauten der Erde- :

Heimat im Vaterland!

Aus allem Verfremdungsgraus - aus allem

Ruin heraus - die Rettung seid Ihr -

wenn Ihr zusammendringt,

zusammenringt - das Volkherz,

den Ringhort erbaun!

Ringhort und Volkherz sind ihm andere Namen für diese ersehnte Menschengemeinschaft, auch Urbund oder Bund der Lebendigsten. Man spürt in diesen Formulierungen noch die geistige Nähe zu Landauer - zugleich aber die Überschreitung von dessen bürgerlichen Grenzen. Von Banditen des Weltbummelbunds, auf sich selbst bezogen, hätte Landauer mit Sicherheit nie gesprochen. Eben diese „Banditen“ galt es abzuwehren. Der Stromer dagegen kann einen Stromerbund fordern, kann von sich und seinen Freunden als einer Bande urbändiger Burschen sprechen, und er wird, als Whitman-, Laotse- und Indienverehrer das zunächst noch landauerisch gestimmte Volkreich gar bald erweitern zum Menschenhort, Menschenreich, Erdsternreich. Das Wort "Gemeinschaft" allerdings verwendet er nicht, oder jedenfalls höchst selten. Warum wohl? Wenn er es denn verwendet, dann in einem kritischen Sinn:

"Gemeinschaft - Gemeinheit" - spürst du den Geist ... ?

In allen Vergemeinschaftungen organisatorischer Art fürchtet er - und darin geht er einig mit Otto Groß - die Gefahr der Unterdrückung, Verbiegung, Vergewaltigung der Individualität. Darum:

Von den zahmlahmen Vereinchen, Bündchen, Partein -

zu urlebendigen Banden der Freundschaft - donnerdrein!

Dieses Misstrauen gegen alles nur äußerliche Sichverbinden spricht auch aus Hesses Demian, der ein dichterisches Nachbild von Gräser ist:

"Was jetzt an Gemeinsamkeit da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst haben - ... Und warum haben Sie Angst? ... Sie haben Angst, weil sie sich nie zu sich selber bekannt haben. (GW V, 134) - Überall Gemeinsamkeit, überall Zusammenhocken, überall Abladen des Schicksals und Flucht in warme Herdennähe! (V, 131)

Gräser-Demian hat dafür nur Hohn und Verachtung übrig. Mit unfreien, angstgejagten Menschen lässt sich keine echte Gemeinsamkeit leben. Ihm geht die Entfaltung des Eigenen allem andern voran. So heißt es in der Flugschrift 'Ein Freund ist da - mach auf', die er 1911/12 in Berlin verteilt:

Und Gemeinschaft wollt Ihr und ihren Genuss?! Nun dann entschließt Euch zur Gemeinschaft mit Euch Selber ... Trottet also nicht mehr nach der sittsamen Lüge, öffentliche Meinung genannt, sonst verdient Ihr Trottel, nicht aber Menschen zu heißen. - Heraus! gerade so wie Ihr geraten seid, dann werdet Ihr lebendige Menschengemeinschaft fördern und nicht mehr bloß den blöden Haufen vermehren!

Und in der Flugschrift 'Heimat' aus dem selben Zeitraum:

Uns ist deutlich geworden, dass lebendige Gesellschaft nur echte, also unverzagt eigene Gesellen bilden, und nur echte, also ungezwungen eigene Schritte zu ihr führen können. - Wollen wir sie also herbeiführen, muss jeder Einzelne von uns Wollenden "einfach selbst" ein ursprünglich tapferes und kein künstlich feiges Leben führen - das wird entscheiden und verbinden, trennen und vereinen, frische Bewegung und damit Freude und Freundschaft schaffen.

Erst Selbstwerdung macht Freundsein und Gemeinschaft möglich: ' mein' ist das Herz der Ge-mein-schaft!

So, einzig so beginnt, mehrmehr im Reinen

mit unsrem Selbst, mit unsrer Minne Meinen,

Gemeinschaft, jah!

Er ist überzeugt, dass Menschengemeinschaft ... nur aus Eigenschaft blüht, aus solchen Menschen, die zur Selbstbestimmung fähig sind. Und weil er keine Nachahmer, keine Anhänger, keine Mitläufer will, nimmt es nicht wunder, dass er nur Wenige findet, die zeitweise bei ihm bleiben, dass er letztlich allein bleibt. Zwar ist er in jüngeren Jahren zuweilen mit einer "Bande" von drei oder vier Burschen durch die Lande gezogen - so trat er auch bei Hesse in Gaienhofen auf - , doch haben solche Verbindungen nie lange gedauert. Umso tiefer und intensiver war der Austausch, umso reicher das Strömen der Energie, wenn er einmal den Einzelnen gefunden hatte, der des Empfangens fähig war. So etwa im Falle Hermann Hesses, der sein Zusammensein mit Gräser als Aufnahme in einen heiligen Bund empfand, als Eintreten in einen Orden. Im "Bund der Morgenlandfahrer" und im "Orden der Glasperlenspieler" hat Hesse seine Erfahrung dichterisch verbildlicht.

Nicht in die Kirche war ich nun bereit aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwo auf Erden existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund empfand (GW V, 65). - Das war nun meine Glückszeit gewesen, die erste Erfüllung meines Lebens und meine Aufnahme in den Bund (GW V, 155).

Es ist, in 'Demian', der Bund derer "mit dem Zeichen", mit dem Kainszeichen auf der Stirn. Denn so wurden sie gesehen von der Umwelt, die Monteveritaner um Gräser: als Empörer, als die Mörder des Hergebrachten, als die Zerstörer der Konventionen, und so sahen sie auch sich selbst. Hesse deutet in der 'Morgenlandfahrt' den Zug der Monteveritaner als Teil einer Bewegung, die es zu allen Zeiten gegeben habe, als den universellen Strom der Menschheit zur Heimat, zum utopisch-mythischen Licht des Ostens hin.

Unsre Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrundeliegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen nichtig erschien. (GW VIII, 349)

Wie sagt doch Bloch in 'Geist der Utopie'? - "Das Andere [des Staates], der Geiststaat oder Vernunftstaat ... ist dem Problem nach Kirche" (U 404). Gemeint ist die "Liebesgemeinschaft" (U 397), "die ersehnte Brüdergemeinde" (KK 566), der Sprung "zum gänzlich unkapitalistischen, brüderlich entbrannten Liebes- und Gemeinschaftsethos". (KK 564)

In anderen Worten: Mit Gräser sehen Hesse und Bloch die neue Gemeinschaft unorganisiert, überpersönlich, religiös: als eine unsichtbare "Kirche" jenseits gewohnter Religionen und Konfessionen.

"Gemeinsamkeit", sagte Demian, "ist eine schöne Sache. Aber was wir da überall blühen sehen, ist gar keine. Sie wird neu entstehen, aus dem Voneinanderwissen der Einzelnen, und sie wird für eine Weile die Welt umformen." (GW V, 133f.)

Es ist ein Voneinanderwissen von Einzelnen, die sich zeitweise berühren, aber nicht sich zusammen- schließen, eine Sternenfreundschaft mit dem Pathos einer feierlichen Distanz. Oder, wie Bloch sagt, einer "beseelte(n) Distanz" (U 382), die auf institutionelle und dogmatische Fixierungen verzichtet.

Er zerbricht und geht auf, Gott, als das Um uns, der Dritte, die beseelte Distanz, als Mütterlichkeit und die warme Luft des objektiven Herzens. (U 382)

Anders und doch sinnverwandt sagt es Gusto Gräser:

Weltenei, das ringeschwingt durch den Springepunkt:

Dadrein - trillionenfach da binnen bandelt voll geheimem Minnen

der Gemeinschaft Binnelein - muss das nit ihr Urpunkt sein?

Will sagen: die Gemeinschaft beginnt und entspringt ganz und gar aus dem Innen, ist eine Leistung des Einzelnen und bedarf einer Bestätigung durch ein Außen, durch den Anderen nicht - jedenfalls nicht unbedingt, so sehr sie auch erwünscht sein mag. Es kommt darauf an, ein Freund zu sein, nicht Freunde zu haben, sagt Gräser. Es ist eine Bruderschaft unter Pilgern, die auf einen fernen Stern zugehen, so sieht es auch Bloch:

Nur unter gütigen, begeisterten, der Tiefe des Menschenbunds hingegebenen, chiliastischer Pilgerschaft vertrauten Völkern ist die Magie der Brüderlichkeit möglich. (KK 569)

Das Wort "Menschenbund" ist festzuhalten. Auch von "Menschenreich" oder "Selbstreich" spricht Bloch (U 381 und öfter). Und befindet sich damit wieder in wörtlichem Einklang mit Gusto Gräser:

 

Das Menschenreich!

"Dass der Mensch zum Menschen werde, stift er einen heilgen Bund ... "

Wenden zum Reich, dem rauhtraut Redlichen,

vom Kratenteich des Allweltkrampus Staat ...

Er - der Entschlossene zum reinen Reich ...

Die Gemeinschaftssehnsucht Gräsers, die sich nicht in der Herdenangst verlieren will, geht auf und ein in das Menschenreich, Ringruhreich, Erdsternreich. Sie bindet sich an keine zeitliche, irdische, begrenzte Verwirklichung. Freundsein ist die Bestimmung des Menschen, und ein solches Sein verlangt keine Erwiderung.

O Tugend du des Ehrenden der Erden, der in dem Freundsein

sieht sein einzig Heil ...

Wenn es auch des Menschen Urberuf ist, in diesem Sinne ein Freund zu sein, so schließt dies nicht aus sondern ganz entschieden ein, zu werben und zu ringen um Freundschaft und Gemeinschaft. Eben dies ist es, was Gräser zeit seines Lebens als seine Aufgabe gesehen hat.

Auf seiner Wanderung durch Deutschland kommt er am 13. April 1909 auch nach Weimar in das Haus von Johannes Schlaf, damals einer der bekanntesten Schriftsteller und Literaturkritiker. Die Begegnung mit dem jungen Mann ist für Schlaf so eindrucksvoll, dass er einen drei Seiten langen Bericht darüber verfasst, den die 'Frankfurter Zeitung' am 25. April veröffentlicht. Darin lässt er Gräser sagen:

"Ja, Kameraden, Kameraden! Die Freunde!" Er streicht sich über die Stirn. "Wo sind sie? Wo, wann, werde ich sie finden? ... Ich will da leben und seßhaft sein und in solcher Gemeinschaft, die am natürlichsten meiner Art entspricht. Unter Kameraden und Gleichgesinnten. Aber wo und wann werde ich die heute finden?"

Schon 1904 hatte ein Aufsatz in der 'Jugend' dieses sein zentrales Wollen herausgehoben:

Sein Denken und Wollen wird aus der Sehnsucht seines Herzens fließen, Geister zu finden, die gleich ihm der Natur nachspüren; aus der Sehnsucht seines Herzens, solche Geister aus der Masse herauszuheben und ihre Fleischwerdung zu ermöglichen. (Die Jugend, 1904, Nr. 2, S. 24)

Gräser ist der um Gemeinschaft Werbende und Ringende, aber um eine solche, die aus dem Selbstsein des Einzelnen kommt, die keine Herren und keine Knechte, keine Herrschaft und keinen Zwang und keine Gewalt mehr kennt, die den Vatergöttern den Gehorsam verweigert aber der Mütterlichkeit weiten Raum gibt und damit der Wärme, der Vielfalt und der Toleranz. Es ist ein Programm - wenn man dies als "Programm" bezeichnen kann -, das mit dem Wollen des jungen Bloch, auch Landauers, weithin einig geht, es ist im Grunde das Programm der ganzen als "expressionistisch" bezeichneten Generation. Romantische Ideen kommen darin zum Tragen, anarchistische, lebensreformerische, utopistische, auch sozialistische; solche von Nietzsche, von Ibsen und Tolstoi, den Wortführern der Epoche; alle zusammen aber einmündend in eine uralte esoterische Tradition, die Bloch ausdrücklich als "Freundschafts- und Liebesmystik" bezeichnet und auch für sich selbst in Anspruch nimmt (U 382).

Worauf kommt es an, in unserem Zusammenhang? Dass es im Anfang des 20. Jahrhunderts eine Bewegung gegeben hat, inzwischen vielfach schon konstatiert und interpretiert, die auf den "neuen Menschen" zielte, auf einen "neuen Mythos", ja eine "neue Religion". Es gab sogar, in vielfachen Stimmen, so etwas wie eine Messiaserwartung. Dass dies eine Zeit des Aufbruchs und Umbruchs war, in den Künsten wie im Sozialen und Politischen, liegt heute offen zutage. Aber Aufbruch wohin? Und welches waren die treibenden Kräfte der Veränderung? Waren es die Marxisten und Nationalisten allein, oder gab es auch andere Ansätze, die ihre Spuren hinterlassen haben?

Es war eine Zeit der Revolutionen: Sturz der Monarchien, Aufbruch der modernen Kunst, Frauenbefreiung, allgemeines Wahlrecht und so fort. Der Weltkrieg als Menetekel und Signatur der Zeit. Auch der Beginn der Diktaturen von rechts und links.

Das Jahr 1917, die Entstehungszeit von Blochs 'Geist der Utopie', von Hesses 'Demian', zugleich Ausgang der russischen Revolution und Eintritt Amerikas in den Krieg, bezeichnet eine Wegscheide, insbesondere auch für Bloch. Würde er das weiße Banner der Gewaltlosigkeit, der Herrschaftslosigkeit, der Brüderlichkeit, das schon Diefenbach entfaltet hatte, das Landauer gehisst, das er selbst verherrlicht hatte, würde er dieses Banner aufrecht halten auch im ausbrechenden Sturm der Gewalt? Würde er, würde die expressionistische Generation ihren pazifistischen, allverbrüdernden, menschheitsumarmenden Traum bewahren, gar verwirklichen können?

Es ist zu konstatieren, dass die allermeisten der "O Mensch"-Generation im Augenblick der Bewährung mit fliegenden Fahnen übergelaufen sind zu den großen Massenströmungen, die neue Herrschaft versprachen, kommunistische oder nationalistische, dass sie ihre Ideale über Bord geworfen haben, um jenen Herdentaumel der Macht zu genießen, vor dem Gräser und Hesse gewarnt hatten. Nicht nur Ernst Bloch, auch Otto Groß, Franz Jung, Oskar Maria Graf, Johannes R. Becher und so viele andere haben sich der Suggestion des Massentriebs unterworfen, haben eine Gemeinschaft gesucht, die Wärme versprach und Sicherheit, und haben jene verlacht und verspottet, die glaubten, auf die Macht der Kanonen verzichten zu können. Ernst Bloch ist einer der hartnäckigsten Stalinisten geworden, der offenkundige Verbrechen jahrzehntelang geleugnet oder verteidigt hat. Er hat Christus in Moskau auferstehen stehen und in Stalin die neue "Lichtgestalt". Er hat in der realsozialistischen DDR nach Panzern gerufen, um den "Prager Frühling" niederzuschlagen. Er hat so lange an das "neue Jerusalem" geglaubt, bis er selbst, um seines Überlebens willen, in den verfluchten Westen flüchten musste.

Wozu daran erinnern? Um an den besseren Ernst Bloch zu erinnern, der einstmals einen neuen geistigen Bund, das "Menschenreich" beschwor, die "Brüdergemeinde", die "mystische Demokratie". Um daran zu erinnern, dass er einmal die "Bibel der Expressionisten" verfasst hat wie Hesse die "Bibel der Jugendbewegung". Es ging ihm einmal um die Stiftung einer neuen Religion, um ein "drittes Reich", als dessen "Paraklet" - Geist, Tröster und Verkünder - er sich selber sah. Warum ist er es nicht geworden? Woran ist er gescheitert?    

 

 

 

Quellen:

 

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[1]                "Seine Sozialordnung war ... von vornherein restaurativ", schreibt Wolf Kalz in seiner Monographie über Landauer, "zumal er ... in spätmittelalterlichen Sozialgebilden die Vorbilder seiner neu zu bildenden Organismen sah" (Kalz 17). Landauer lehne sich "unverkennbar an idealisierte, autonome, mittelalterliche Stadtgemeinden an" (ebd. 18). Die Idealisierung und Romantisierung von altdeutschen "spitzgiebeligen Städten" (U 303) und ihrer heimeligen Gotik findet sich bekanntlich auch bei Bloch und mag von Landauer übernommen sein. Einmal mehr zeigt sich hier der Abstand zu den Vorstellungen der Gräsers, denen eine solche Anbindung an unwiderruflich Vergangenes völlig fern lag.