Gustav Landauer (1870 -1919) und der Monte Verità
Anhänger von
Landauer aus dem Umkreis von Friedrichshagen
zogen ab 1904 nach
Ascona, wo sie die Vorstellungen ihres Lehrers
besser verwirklicht fanden als in der Berliner
'Neuen Gemeinschaft':
Erich Mühsam, Johannes Nohl,
Raphael Friedeberg, später auch Else Lasker-Schüler.
Auf Erich Mühsams
begeisterte Briefe reagierte Landauer gereizt und abwehrend,
die Berichte seiner Schüler setzten ihn in
Zugzwang.
Er antwortete mit der
Gründung des 'Sozialistischen Bundes', der die Siedlungsidee
als zentralen
Programmpunkt aufnahm.
Sein neu
formulierter Kultursozialismus wirkte auf den Philosophiestudenten
Ernst Bloch, wurde zu einem tragenden Element
in dessen Konstruktion der Utopie.
Als der Weltkrieg jedes
libertäre Denken in Deutschland erstickte,
flüchtete sich Bloch auf
die pazifistische Insel in der Schweiz,
die Landauer ebenso
inspiriert hatte, wie sie von ihm mit
inspiriert worden war.
Von Ascona nach Ascona
Im
Frühjahr 1904 hat Erich Mühsam mit seinem Freund Nohl zusammen den Monte Verità
für sich entdeckt. Er schickt einen begeisterten Brief an seinen väterlichen
Freund und Mentor Gustav Landauer nach Berlin, in dem er sich vor allem über
Karl Gräser geäußert haben muss. Landauer zögert monatelang mit seiner Antwort.
Erst gegen Ende September (am 26.9.), als Mühsam längst Ascona wieder verlassen
hat, kann er sich zu einer Erwiderung aufraffen. Er schreibt:
"Deinen
Brief aus Ascona habe ich seiner Zeit mit großer Teilnahme gelesen, habe auch
einige Bedenken dabei, indem ich für möglich und fast wahrscheinlich halte, daß derlei Absonderlichkeiten solcher Naturen nicht aus
wahrer Produktivität, sondern aus gesteigert großer Rezeptivität kommen. Die
Produktiven haben nämlich meist so viel mit der Gestaltung ihrer Innerlichkeiten zu tun, daß ihnen
für die Details des Außenlebens und derlei Reibungen und Befreiungen von Conventionen gar keine Zeit bleibt; ja sie werden sich
sogar oft der Convention als einer Maske und natürlichen Schutzvorrichtung
bedienen. Damit sage ich übrigens nichts gegen jene Menschen: es ist gut, daß die, die den Traum nicht gestalten können, zu ihrem
bescheidenen Teil Wirkliches formen".
(In Szeemann: Monte
Verità, S.32)
Der
Brief strotzt geradezu von überheblicher Herablassung. Landauer fühlt sich
offensichtlich angegriffen, gekränkt und bedrängt. Da ist nun ein Schüler, der
bisher ihn als Vorbild verehrte, übergelaufen zu einer unvermuteten Konkurrenz.
Zu solchen nämlich, die das verwirklichten, was er vor Jahren gepredigt,
propagiert und vergeblich in eine lebensfähige Realität umzusetzen versucht
hatte. 'Durch Absonderung zur
Gemeinschaft', so lautete der programmatische Titel seines Vortrags, den er
am 18. 6. 1900 in der von den Gebrüdern Hart gegründeten 'Neuen Gemeinschaft'
gehalten hatte. Er endete in dem Aufruf:
Fort vom Staat, soweit er uns gehen läßt oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der
Waren- und Handelsgesellschaft, fort vom Philistertum! Schaffen wir, wir
Wenigen, ... eine kleine Gemeinschaft in Freude und Tätigkeit, schaffen wir uns
um als vorbildlich lebende Menschen. (In Cepl-Kauffeld:
Berlin-Friedrichshagen, S. 236)
Erich
Mühsam, Martin Buber, Else Lasker-Schüler und andere hatten in der 'Neuen
Gemeinschaft' den Versuch einer solchen Vorbild-Kommune mitgetragen. Nach einem
Jahr schon war er in großen Phrasen, theatralischen Weihestunden und kleinen
Trivialitäten versandet.
Nun
stellte ihm Mühsam ein anderes Experiment vor Augen, das immerhin schon fast
vier Jahre überlebt hatte, das sich als lebensfähig und attraktiv erwies, eben
weil die Initiatoren sich wirklich abgesondert, wirklich die Maske der
bürgerlichen Anpassung abgeworfen und die Reibung mit den Konventionen nicht
gescheut hatten. In besonderem Maße galt das für die Brüder Gräser, auf deren
"Absonderlichkeit" Landauer ausdrücklich Bezug nimmt. Gegen dieses
Überholt- und Widerlegtwerden durch Andere, Mutigere,
Konsequentere, muss er sich in eine näselnde Arroganz retten, die jene Anderen
als die angeblich Unproduktiven herabsetzt. In seinem Selbstgefühl verletzt,
zieht er sich auf seine "Innerlichkeit" zurück.
Ja,
sagen die Herren: die Einfachheit -
dagegen
ist nichts zu haben.
Ja - aber - Sandalen und so ein Kleid -
pah, Äusserlichkeit - darüber sind wir
erhaben!
Wir
pflegen das Innre, wir pflegen den Geist!
So
tönen die Herrn, die das Bangen beisst,
die
täglich hupfen und hüpfen
am
Schlips den Mann aufzuknüpfen,
die
täglich, stündlich sich retten
die
Freiheit mit den Mannsketten.
So hätte Gusto
Gräser ihm geantwortet, und so hat er möglicherweise tatsächlich auf Landauer
reagiert. Es ist sicher kein Zufall, dass dessen Name unter den Sympathisanten
Gräsers niemals auftaucht, obwohl sie doch in ihren "politischen"
Anschauungen sehr nahe beieinander standen. Gräser muss den Herold und
Philosophen der Siedlung in Berlin aufgesucht haben, daran kann es keinen
Zweifel geben, das war seine Art und Weise. Und das Ergebnis einer solchen
Begegnung kann kein anderes gewesen sein als im oben zitierten Brief zum
Ausdruck kommt.
Zum
Zeitpunkt jenes Briefes hatte sich Landauer aus der aktiven Politik resigniert
zurückgezogen. Die Botschaft aus Ascona trifft einen Menschen, der, sonst so
aktiv in werbendem Reden und Schreiben, seit mehreren Jahren verstummt ist. Der
einstige Propagandist eines antiautoritären Sozialismus und einer mystischen
Menschengemeinschaft hat sich ins Privatleben zurückgezogen, ist Mitarbeiter
einer Buchhandlung geworden. Der Jubelruf vom Monte Verità, der seine eigensten
Ideale berührte, musste ihn im Innersten treffen, musste ihm als scharfer
Stachel im Fleisch sitzen. In dem kaum verdeckten Hohn seiner Antwort wird die
eigene Verletztheit spürbar.
Landauer befindet sich in der Defensive. Nachdem er sich zunächst nur zurückgezogen hatte, wird er jetzt von den eigenen Jüngern ins Abseits gestellt. Nicht nur Erich Mühsam, auch Johannes Nohl, Else Lasker-Schüler, Raphael Friedeberg, Otto Buek, Johannes Holzmann, Werner Karfunkelstein - alles Menschen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis - ziehen nach und nach asconawärts. Er, der diesen Menschen einst so etwas wie der Führer ins Gelobte Land gewesen war, steht verwaist da. Er muss seine Führerschaft wieder geltend machen, er muss die Initiative zurückgewinnen.
Seine
Antwort auf die Herausforderung kommt, nach gründlichem Nachdenken, drei Jahre
später: in der Schrift 'Revolution'
(1907), in den dreißig Thesen zu 'Volk
und Land' (1907) und im 'Aufruf zum
Sozialismus' (1908). Während seines Aufenthalts in Ascona im
Sommer 1908 scheint ihn die Begegnung mit den Siedlern des Monte Verità
motiviert zu haben, den Gedanken einer anarchistisch-reformistischen
Siedlung wieder aufzugreifen und voranzutreiben. Landauer gründet den 'Sozialistischen Bund' (1908). Ab
1909 lässt er auch seine eingegangene Zeitschrift, den 'Sozialist', wieder erscheinen.
Der
Kernpunkt ist, nicht überraschend: Landauer ruft jetzt zur ländlichen Siedlung
auf. Damit nimmt er scheinbar sein altes Thema - "Durch Absonderung zur
Gemeinschaft" - wieder auf, darin war aber der Gedanke der Siedlung noch
nicht oder bestenfalls latent enthalten gewesen[1]. Jetzt greift er
ihn auf, allerdings in einer Form, die jene Verletzung durch das Vorbild Ascona
umsetzt in ein bürgerlich gemildertes Programm. Ein solches nämlich, das ihm
erlaubt, jene Mühseligkeiten des Außenlebens, jene
Reibungen und Befreiungen von den Conventionen, die
er fürchtet, die er nicht leisten kann oder will, zu vermeiden. Landauer ist
kein Lebensreformer, er ist Kettenraucher. Zwar übernimmt er das Ideal der
ländlichen Siedlung, erhöht es aber durch einen mehrstöckigen Überbau, der die
angebliche "Absonderung", d. h. den Bruch mit dem Bestehenden, seinen
Zwängen und Konventionen, praktisch zum Verschwinden bringt. Landauers neuer
Sozialismus ist nämlich "Kultursozialismus", ist völkischer
Sozialismus, ist religiöser Sozialismus. Der überrundete Avantgardist klammert
sich nun an die konservativen Mächte von Kultur, Volk und Religion.
Kultur.
Dies ist seine neue Definition von Sozialismus: "Der Sozialist will, daß alle nützlich arbeitenden Menschen ... die Möglichkeit
zur vollen Teilnahme am Kulturleben haben." (Beginnen 4)
Volk.
"Der Sozialismus kann ... als Wirklichkeit leben nur ... in dem neu
werdenden Organismus des Volkes." (Beginnen 11)
Religion.
"Die Weisheit, die Kunst und das Dichten ... ist eine Lebensbetätigung
dritter Ordnung, deren Namen wir gleich nennen wollen: Religion."
(Beginnen 5)
Die
Folge dieser Neuformulierung seines Programms ist, um das Ende gleich
vorwegzunehmen, dass es nie zu der verbal propagierten Siedlung kommt.
Stattdessen wird sie ideologisch überhöht, geradezu mythisiert. "Um die
Worte 'Land', 'Boden', 'Siedlung' rankt sich sein 'Boden'-Mythos ... Der
Siedlung kommt eine religiöse Bedeutung zu; sie ist der Exodus und das Werden
eines neuen Geist-Volkes", resümiert Ulrich Linse (Org. An. 279). Zwar
verkündet Landauer:
Wir wollen Siedlungen gründen; ... wir wollen
recht viele, nach Möglichkeit alle unsere Bedürfnisse selbst herstellen (in
Linse 280). - Der Sozialismus ist die Rückkehr zur natürlichen Arbeit, zur
natürlichen, abwechslungsvollen Verbindung aller Tätigkeiten, zur Gemeinschaft
von geistiger und körperlicher, von handwerklicher und landwirtschaftlicher
Arbeit, zur Vereinigung auch von Unterricht und Arbeit, von Spiel und Arbeit.
(Beginnen 71)
Landauer
verkündet also ziemlich genau das, was die Pioniere von Ascona schon
verwirklicht hatten. Die eben deshalb jenen Gefühlsdunst nicht nötig haben, den
Landauer produziert:
Die Stadtproletarier werden ihr Blut wieder in
sich rauschen fühlen und werden spüren, daß es
Bauernblut ist, und viele, viele werden wieder mit Sack und Pack in die Dörfer
und Städte ziehen. (Ebd.)
Diese
"Blut-und-Boden-Romantik" (Linse, Org. An. 279) fabuliert eine
Idylle, bleibt aber folgenlose Wunschphantasie eines großstädtischen
Intellektuellen. Der geforderte Kultursozialismus macht es andererseits
möglich, dass Landauer weiterhin über Shakespeare, Goethe und Hölderlin
Vorträge halten kann, zum Dramaturgen eines Theaters wird und dem Theater
allgemein eine hohe volksbildende, fast schon erlösende Funktion zuspricht.
Nicht Gräser, Tolstoi oder Kropotkin sondern der expressionistische Dramatiker
Georg Kaiser wird ihm zur idealisierten Leitfigur. Im Grunde verfolgt Landauer
ein altgewohntes Programm des Besitz- und Bildungsbürgers: der Arbeiter muss
durch Theateraufführungen und Volkshochschulkurse zu unserer eigenen Kulturhöhe
erhoben werden.
Die
andere konservative Größe, die er als progressive beschwört, ist das Volk.
"Nationalität, Rasse, Stammesqualitäten sind wundervoll tiefgewurzelte und
verbindende Individualeigenschaften." - "Deutschtum ist Geist, ist
verbindende Eigenschaft, ist Sprache" (Beginnen7 und 15). Dass er das Volk
als Gegenmacht gegen den Staat beruft, ist zwar aller Ehren wert, trägt aber in
sich die Gefahr der Volkstümelei und der nationalistischen Selbstüberhebung.
Schließlich
die Religion. "Sozialismus (ist) der Versuch, das Mitleben
der Menschen zur Bindung in Freiheit aus gemeinsamem Geiste, das heißt zur
Religion zu bringen ... in den Formen der Erforschung der Natur, die
Wissenschaft heißt, und des heiligen Spieles, das Kunst heißt" (Beginnen
30). Mit Religion meint er also nichts anderes und nicht mehr als Kunst und
Wissenschaft, sanft überwölbt durch die blassblaue Hoffnung, dass "der
göttliche Überwältiger kommt, der über unserer Kultur
die Fahne des Geistes spannt und den Sturm des Wahnes wehen lässt"
(Beginnen 8). "Über allen Zwecken des Lebens soll ein Sinn, eine
Heiligung, ein Wahn, ein Etwas wohnen, um dessentwillen gelebt und mitgelebt
wird." (Beginnen 19)
Ein
bloßes Postulat, ein farbloses Etwas ohne Grund und Boden. Landauer spricht von
"Religion"; es ist aber nicht viel mehr als bürgerlich-idealistische
Kulturrhetorik, was er zu bieten hat. Nicht nur in seinem Außenleben, auch im
Innenleben steht er, trotz aller vehementen Staatskritik, näher beim
zeitgenössischen Wilhelminismus als ihm selber bewusst werden darf. Landauer
ist seit 1907 der unbedingte Revisionist unter den sogenannten Anarchisten; er
scheut nicht nur die Revolution, er scheut auch jeden ernsthaften Bruch mit
seiner bürgerlichen Lebensform. Er ist der Kanzelprediger eines
"Exodus", den er selbst nicht vollzieht.
Doch
nicht Landauer interessiert hier sondern seine Wirkung auf Bloch. Es zeigt sich
nämlich - und Arno Münster und andere haben das in ihren Untersuchungen
nachgewiesen -, dass die Vorgaben des Kultursozialisten grundlegend gewesen
sind für den Denker der Utopie. Selbst der Begriff der Utopie, wie ihn Bloch
dann verwendet und weiterentwickelt, ist von Landauer neu geprägt worden. Er
hat ihn dynamisiert, soziologisiert, historisiert. In
seinem Buch 'Revolution'
unterscheidet er zwischen Topie und Utopie. Topie meine die bestehende Realität, Utopie das erwünschte
Ideal. Der Geschichtsprozess nun vollziehe sich als ein Wechselspiel zwischen Topie und Utopie, zwischen Erstarrung und Idealbildung, die
aber immer wieder in neuer Erstarrung endet. Mit Utopie ist also nicht mehr die
Vorstellung eines Idealstaates verstanden, sondern allgemeiner das die
Geschichte vorwärtstreibende Moment der Hoffnung, des Wunsches, der Phantasie,
das Bestehendes auflöst, verändert, Erneuerung herbeiführt, ohne je zu seiner
vollen Verwirklichung zu gelangen. Dies aber ist der Begriff, den Bloch zum
Ausgangspunkt seines Denkens gemacht hat.
Diese
Übernahme steht keineswegs für sich allein. Auch Landauers Zielbegriff der
"brüderlichen Menschengemeinschaft" findet sich wieder bei Bloch als
"mystische Menschengemeinschaft", als "ethische" oder
"mystische Demokratie" oder "Genossenschaftsdemokratie".
Der Staat als solcher ist ein "Nichts", heißt es gleichlautend bei
Bloch (U 410) wie vorher schon bei Landauer (Beginnen 10 und 20). "Zur
Errichtung des Sozialismus ist eine neue Grundhaltung notwendig, die des
äußeren Zwanges nicht mehr bedarf und an dessen Stelle brüderliches Verhalten
setzt", analysiert Christen (in Münster 124). Eine Auffassung, die für
Bloch wie für Landauer verbindlich ist.
Die
bereits 1907 erschienen Schrift 'Die
Revolution' von Gustav Landauer enthält nach Münster "eine Reihe von Denkmotiven
und Themenkomlpexen ... die zum bestimmenden Grundzug
der Philosophie von Ernst Bloch werden sollten, wie z. B. den Rekurs auf die
großen Utopien und Staatsromane des Thomas Morus und des Campanella;
die Kritik an der obrigkeitsstaatlichen Ideologie des lutherischen
Protestantismus, die hohe Bewertung der sozialrevolutionären Rolle Thomas
Münzers und der Versuche der Wiederbelebung eines urchristlich-kommunistischen
brüderlichen Gemeindechristentums durch die 'böhmischen und mährischen Brüder',
Herrnhuter, Hussiten und sonstige Ketzerbewegungen des 15. und 16.
Jahrhunderts, die Kritik der Staatsgläubigkeit und der Glaube an die
Erneuerungsfähigkeit der Menschheit durch das historische Gestaltwerden der
Utopie." (Münster 125)
Die
Entsprechungen und Entlehnungen gehen so weit, dass von anarchistischer Seite
der Vorwurf erhoben werden konnte, Bloch habe in seinen frühen Schriften
"bedenkenlos von Landauer abgeschrieben" (Eisenbarth in Münster 126).
Dem steht gegenüber, dass der jüngere Philosoph den Namen seines inspirierenden
Vorgängers durchgehend verschweigt. Landauer, das mochte dabei mitspielen,
hatte ihn, seines zusammenraffenden Eklektizismus wegen, einen
"bezaubernden Konkurrenten Rudolf Steiners" genannt (in Susmann: Das Nah- und Fernsein,
S. 76).
Aber
auch das ist nicht unser Thema sondern die unübersehbare Tatsache, dass
Landauers Denken sowohl für die Monteveritaner
einschließlich Gusto Gräsers - wenn auch selbstverständlich mit Variationen -
bestimmend geworden ist wie andererseits für Ernst Bloch. So dass Bloch, als er
nach Ascona kam, nicht fremdes Neuland betrat, sondern, zu guten Teilen
wenigstens, seine Herkunft und geistige Heimat.
1908
war er nach Berlin übersiedelt und hatte dort im Seminar von Simmels Margarete Susmann kennen gelernt. Diese Kollegin, die er bald als
"liebe Schwester" ansprach und als "vornehmste Fürstin"
verehrte (in Nah- und Fernsein, S.78), war mit
Landauer befreundet, dessen Gesinnung ihr zum Vorbild geworden war. "Auch
sein praktischer Gedanke an Siedlungen einander nahestehender Menschen"
leuchtete ihr ein (Susmann: Leben 75). Durch sie also
dürfte Bloch zu Landauer geführt worden sein, von dem er vielleicht schon in
München gehört hatte. Dort hatte er im November 1906 einen Vortrag von Raphael
Friedeberg besucht und dabei möglicherweise die ersten Hinweise sowohl auf
Monte Verità wie auf Landauer erhalten. 1908 nun in Berlin lag des Letzteren 'Revolution'-Buch vor und auch die
dreißig sozialistischen Thesen 'Volk und
Land', jene beiden Schriften also, aus denen Bloch teils sogar wörtlich
geschöpft hat und die in mancher Hinsicht als Vorstufen zu 'Geist der Utopie' zu betrachten sind.
In
den Jahren 1910 bis 1911 beschäftigte er sich dann eingehend mit den Lehren der
Kabbala und der Theosophie des Alten Testaments, möglicherweise auch hier unter
dem Einfluss der verehrten jüdischen Freundin. Er äußert sich in einem Brief an
Frau Susmann-Bendemann glücklich darüber, "wie
sehr in uns das verwandte Blut ein gleiches Lied singt", einig mit ihr
auch im Wissen, "wie das Judentum die wartende Religion ist, mit dem
unerlösten Gefühl gegen jeden bisher gekommenen Messias und der großartigen
Unzufriedenheit und Sehnsucht, daß es noch ganz
anders und daß eigentlich noch Alles kommen müsse. So
ging der jüdische Geist in seinem besten und echtesten Zug durch Moses und die
Propheten und die Chassidim hindurch und ist jetzt in meinem Manuskript
inkarniert". Die Juden seien auserwählt, "um den jeweils geltenden
Namen Gottes zu ernennen: sie besitzen den Geist des Vertrags. Ich werde ihn
wieder neu aufstellen und zur Rechten von Moses, Jesus und Spinoza sitzen ...
" (In: Nah- und Fernsein, S. 79).
Damit,
zusammen noch mit Studien über Böhme und die weitere esoterische Tradition, die
ebenfalls in diesem Zeitraum geschehen sein müssen, waren die Grundlagen gelegt
und die Quellen erschlossen, die dann in 'Geist
der Utopie' gebündelt und verwandelt wieder zum Vorschein kamen. Es sind
aber solche Quellen, die zugleich in Ascona, namentlich von Johannes Nohl, aber
auch von anderen benutzt und in ein Arsenal des geistigen Widerstandes gegen
die herrschende Autoritätskultur eingefügt wurden.
Wenn
daher Bloch 1917 nach Ascona ging, dann lag darin, jenseits der aktuellen
Anlässe und Vermittlungen, eine tiefe innere Konsequenz: Er suchte und fand den
Ort, an dem sein eigenes Denken und Hoffen eine äußere Erfüllung gefunden
hatte, den Ort seiner konkret gewordenen Utopie.
Was
konnte er noch lernen an diesem Platz, was konnte ihm Ascona noch geben, das er
nicht längst schon selbst gefunden hatte? Eben dies: die Konkretion, d. h. die
Verwirklichung in Wesen und Tat. Es würde sich zeigen müssen, ob er der
Konsequenz seiner Entwürfe gewachsen war.
Der Neue Bund
Nur
die Schwächen Landauers zu sehen, wäre freilich ungerecht. Was positiv über
sein Wesen und seine Leistung zu sagen ist, das hat Rolf Kauffeldt in einem
ausgezeichneten Aufsatz dargetan und soll hier nicht wiederholt werden. Wenn er
behauptet, dass Landauer "neben Nietzsche, Stirner und Wagner der vierte
große geistige Anreger der literarischen Moderne in Deutschland war", so
soll dem nicht widersprochen werden.
Sein Einfluss ist
bezeugt von so unterschiedlichen Schriftstellern und Künstlern wie Alfred Döblin,
Arnold Zweig, Hermann Hesse, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Georg Kaiser,
Franz Jung, Leonhard Frank, Hugo von Hofmannsthal, Theodor Heuß, Louise Dumont,
Gottfried Benn, Manès Sperber, Franz Werfel und
vielen anderen. Ernst Blochs Frühwerk lehnt sich in seinem ganzen Zuschnitt
deutlich an von Landauer vorgeprägte Begriffe, Definitionen und Auffassungen
an. (Kauffeldt in Frank 135)
Kauffeldt
hätte auch andere Name nennen können: Erich Mühsam, Johannes Nohl, Raphael
Friedeberg, Otto Groß - und auch Gusto Gräser. Es wurde schon angedeutet, dass
vor allem die politischen Anschauungen Gräsers durchgehend von Landauer geprägt
erscheinen. Was selbstverständlich ebenso für die zuvor genannten "Asconesen" und ihre Gesellen gilt. So auch für
Margarete Faas-Hardegger, die zu den engsten Mitarbeiterinnen Landauers gehörte
und sich 1917 ebenfalls in Locarno niederließ. Der Monte Verità von Ascona war
in politischer Hinsicht eine Landauersche Kolonie.
Kauffeldt behandelt Landauer unter dem zentralen Aspekt des Bundes, des "neuen Bundes" oder "neuen Volkes", einer brüderlichen Menschengemeinschaft, die dieser Zukunftsdichter schaffen wollte. Er weist auf die geistige Ahnschaft hin, die diese Idee bei den französischen Frühsozialisten hatte, bei Fourier vor allem, in der Frühromantik und dann bei Richard Wagner. Beide, Fourier wie Wagner, sind als Ideengeber auch für die Gebrüder Gräser leitend gewesen.
Was
ungesagt bleibt: Fourier, Wagner und auch Landauer selbst waren Männer des
Worts, Schriftsteller, Künstler. Sie haben eine neue, zwangsfreie
Menschengemeinschaft entworfen und verkündet - gegründet haben sie sie nicht.
Die Menschen des Worts hinterlassen schriftliche Spuren, sie werden beachtet.
Wenig bemerkt oder ganz übersehen werden, solange ihr Werk nicht zur Sprache
findet, die Menschen der Tat. Geschaffen haben solche Gemeinschaften im Geiste
Fouriers, Wagners, Rousseaus und der Lebensreform der Maler und Kulturreformer
Karl Wilhelm Diefenbach und die Gebrüder Gräser.
In
Diefenbachs Wiener Kommune 'Humanitas'
lebten etwa zwanzig junge Menschen zusammen, teilten Besitz, Wohnung, Essen und
Arbeit, lebten auf dem Lande, gingen in eigener Tracht, ernährten sich
vegetarisch, schufen gemeinsam künstlerische Werke, verehrten und feierten die
Natur, lasen gemeinsam die Schriften von Wagner, Nietzsche, Tolstoi und
Rousseau.
Aus
der Werkstatt von Diefenbach gingen die Maler Fidus,
Kupka und Gräser hervor, von denen Franz Kupka weltbekannt wurde als einer der
Pioniere der abstrakten Malerei. Diefenbach war aber auch ein Vorbild für die
Friedrichshagener. Von Wilhelm Bölsche wurde er schon
1891 als "ein bleibendes Moment unserer Kulturentwicklung"
angekündigt (Freie Bühne, 1891, S.958). "Im Neuen, im Besseren Kinder
erziehen, das sei das Ganze. Und so sei seine eigenste Absicht ... ein
freies Asyl zu gründen für Kinder, uneheliche in erster Linie, Kinder von
Prostituierten, echte Märtyrerkinder unserer Zeit, die zuerst verdienten, die
neue Welt kennen und lieben zu lernen" (ebd. 956).
In
jener neuen Welt nämlich, in der "die Erde nicht mehr wie seither in ungerechter
Weise als Privat-Eigentum verteilt sein wird ... während dadurch tausende von
Menschen nicht ein Fleckchen Erde besitzen und in himmelschreiendem Elend ihr
Dasein hinschleppen müssen" (Diefenbach in ebd. 955). Diefenbach wartete
allerdings nicht auf den Tag X einer Revolution, die er ohnehin als Gewalttat
verabscheute, sondern gründete, als "Verwirklichungssozialist", der
er war, seine Gemeinschaft schließlich mit jungen Erwachsenen, nachdem ihm die
Kinder von der Polizei wieder weggenommen worden waren. Zu seinen Schülern
gehörte auch der Maler Hugo Höppener, den er "Fidus" nannte. Fidus zog
später nach Friedrichshagen und wurde der führende Illustrator der damals
aufstrebenden Reformbewegungen, von der Jugendbewegung bis zur Theosophie. Nach
der Auflösung der 'Neuen Gemeinschaft' zog er vorübergehend, wie so viele
andere aus diesem Kreis - und schließlich auch Bloch - nach Ascona. Die
Verwirklichung des freien, des antiautoritären Sozialismus lief an Landauer
vorbei.
Man
hat ihn von Ascona her bestürmt und umworben. Erst Mühsam, dann Nohl, dann Otto
Groß, und sicher auch Gusto Gräser haben sich an ihn gewandt. Landauer hat
seinem Freund Mühsam erst die kalte Schulter gezeigt, dann aber doch den
'Sozialistischen Bund' gegründet und damit seinen asconesischen
Freunden die Chance eröffnet, ihr zum Teil gräserisch
inspiriertes Programm in einem organisatorischen Rahmen umzusetzen. Indirekt
gab es eine praktische Zusammenarbeit mit den Gräsers und Ascona, wo eine
eigene Ortsgruppe des Sozialistischen Bundes entstand; ideologisch rannten
seine dortigen Freunde bei ihrem einstigen Meister gegen Mauern an. An zwei
Grenzsteinen schieden sich ihre Wege: Religion und Psychoanalyse.
Als
Johannes Nohl 1911 Landauers 'Aufruf zum
Sozialismus' besprach und dabei den hohen Wert der Religion hervorhob,
stieß er bei Landauer auf entschiedene Ablehnung. Erst recht wurde die sexuelle
Utopie, wie Otto Groß sie propagierte, von ihm mit Abscheu bekämpft.
Landauer
hat den 'Sozialistischen Bund' gegründet, eine lose Vereinigung seiner wenigen
Anhänger, die sich in winzigen Ortsgruppen über das ganze deutschsprachige
Gebiet verteilten. Eine Lebensgemeinschaft, die seiner Programmatik entsprochen
hätte, ist daraus nirgends entstanden, es sei denn teilweise und in
kurzfristigen Ansätzen und dann, bezeichnenderweise, wiederum im Umkreis von
Ascona (Minusio, Fontana Martina, Herrliberg). Dagegen hielt sich die Gründung
der Gebrüder Gräser immerhin rund zwanzig Jahre lang, wurde ein Zentrum mit
starker Strahlkraft und ein Vorbild für andere Gründungen.
Gemeint
ist allerdings weniger die Heilanstalt von Oedenkoven
als das eigenständige Areal der Brüder und das von ihnen ausgehende
Beziehungsgeflecht. Bund, brüderliche und schwesterliche Menschengemeinschaft,
eine Gemeinschaft der Freien, ohne Zwang,
war auch das große Wunschziel von Gusto Gräser. Ihn zu stiften zog er durch die
Lande, klopfte an bei Menschen, die ihm tauglich schienen:
Ein Freund ist da - mach auf! Berlin 1912
Er
ruft nach Freunden und sammelt sie zum
Trostbund der Aufrechten, der nun werden will. - Heran zu Unserem freien Bund! - Durch Bund
nur wird lebendig unsre Welt! - Letztlich helfe nicht das Aufgeklär im Grund - Bewirten hilft, Aufnähren hilft, bezeugen lebgen
Bund! Der aber entstehe nicht durch Organisation sondern durch Bande der
Freundschaft, durch den Entschluss vor allem urbändig notwillig (zu) leben. Einen
Stromerbund,
einen Weltbummelbund will er gründen,
und dazu ruft er alle, die mit sich selbst und mit Urselbst im Bunde sind, heraus aus
dem Gewohnten, zu Aufbruch, Wanderschaft und Zusammengang.
Ihr
paar Entschlossnen - ! -
Freunde
- Vertrauten der Erde- :
Heimat
im Vaterland!
Aus
allem Verfremdungsgraus - aus allem
Ruin
heraus - die Rettung seid Ihr -
wenn
Ihr zusammendringt,
zusammenringt
- das Volkherz,
den Ringhort erbaun!
Ringhort und Volkherz sind ihm
andere Namen für diese ersehnte Menschengemeinschaft, auch Urbund oder Bund der Lebendigsten. Man spürt in diesen Formulierungen noch die
geistige Nähe zu Landauer - zugleich aber die Überschreitung von dessen
bürgerlichen Grenzen. Von Banditen des
Weltbummelbunds, auf sich selbst bezogen, hätte Landauer mit Sicherheit nie
gesprochen. Eben diese „Banditen“ galt es abzuwehren. Der Stromer dagegen kann einen Stromerbund fordern, kann von sich und seinen Freunden als
einer Bande urbändiger
Burschen sprechen, und er wird, als Whitman-, Laotse- und Indienverehrer
das zunächst noch landauerisch gestimmte Volkreich gar bald erweitern zum Menschenhort, Menschenreich, Erdsternreich.
Das Wort "Gemeinschaft" allerdings verwendet er nicht, oder
jedenfalls höchst selten. Warum wohl? Wenn er es denn verwendet, dann in einem
kritischen Sinn:
"Gemeinschaft - Gemeinheit" - spürst du
den Geist ... ?
In
allen Vergemeinschaftungen organisatorischer Art fürchtet er - und darin geht
er einig mit Otto Groß - die Gefahr der Unterdrückung, Verbiegung,
Vergewaltigung der Individualität. Darum:
Von
den zahmlahmen Vereinchen,
Bündchen, Partein -
zu urlebendigen Banden der Freundschaft -
donnerdrein!
Dieses
Misstrauen gegen alles nur äußerliche Sichverbinden
spricht auch aus Hesses Demian, der ein dichterisches
Nachbild von Gräser ist:
"Was jetzt an Gemeinsamkeit da ist, ist
nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst
haben - ... Und warum haben Sie Angst? ... Sie haben Angst, weil sie sich nie
zu sich selber bekannt haben. (GW V, 134) - Überall Gemeinsamkeit, überall
Zusammenhocken, überall Abladen des Schicksals und Flucht in warme Herdennähe!
(V, 131)
Gräser-Demian
hat dafür nur Hohn und Verachtung übrig. Mit unfreien, angstgejagten Menschen
lässt sich keine echte Gemeinsamkeit leben. Ihm geht die Entfaltung des Eigenen
allem andern voran. So heißt es in der Flugschrift 'Ein Freund ist da - mach auf', die er 1911/12 in Berlin verteilt:
Und Gemeinschaft wollt Ihr und ihren Genuss?! Nun dann
entschließt Euch zur Gemeinschaft mit Euch Selber ... Trottet also nicht mehr
nach der sittsamen Lüge, öffentliche Meinung genannt, sonst verdient Ihr
Trottel, nicht aber Menschen zu heißen. - Heraus! gerade so wie Ihr geraten
seid, dann werdet Ihr lebendige Menschengemeinschaft fördern und nicht mehr
bloß den blöden Haufen vermehren!
Und
in der Flugschrift 'Heimat' aus dem
selben Zeitraum:
Uns ist deutlich geworden, dass lebendige
Gesellschaft nur echte, also unverzagt eigene Gesellen bilden, und nur echte,
also ungezwungen eigene Schritte zu ihr führen können. - Wollen wir sie also
herbeiführen, muss jeder Einzelne von uns Wollenden "einfach selbst"
ein ursprünglich tapferes und kein künstlich feiges Leben führen - das wird
entscheiden und verbinden, trennen und vereinen, frische Bewegung und damit
Freude und Freundschaft schaffen.
Erst Selbstwerdung
macht Freundsein und Gemeinschaft möglich: '
mein' ist das Herz der Ge-mein-schaft!
So,
einzig so beginnt, mehrmehr im Reinen
mit
unsrem Selbst, mit unsrer Minne Meinen,
Gemeinschaft, jah!
Er
ist überzeugt, dass Menschengemeinschaft
... nur aus Eigenschaft blüht, aus solchen Menschen, die zur
Selbstbestimmung fähig sind. Und weil er keine Nachahmer, keine Anhänger, keine
Mitläufer will, nimmt es nicht wunder, dass er nur Wenige findet, die zeitweise
bei ihm bleiben, dass er letztlich allein bleibt. Zwar ist er in jüngeren
Jahren zuweilen mit einer "Bande" von drei oder vier Burschen durch die
Lande gezogen - so trat er auch bei Hesse in Gaienhofen auf - , doch haben
solche Verbindungen nie lange gedauert. Umso tiefer und intensiver war der
Austausch, umso reicher das Strömen der Energie, wenn er einmal den Einzelnen
gefunden hatte, der des Empfangens fähig war. So etwa im Falle Hermann Hesses, der sein Zusammensein mit Gräser als Aufnahme in
einen heiligen Bund empfand, als Eintreten in einen Orden. Im "Bund der
Morgenlandfahrer" und im "Orden der Glasperlenspieler" hat Hesse
seine Erfahrung dichterisch verbildlicht.
Nicht in die Kirche war ich nun bereit
aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des
Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwo auf Erden existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund
empfand (GW V, 65). - Das war nun meine Glückszeit gewesen, die erste Erfüllung
meines Lebens und meine Aufnahme in den Bund (GW V, 155).
Es
ist, in 'Demian', der Bund derer
"mit dem Zeichen", mit dem Kainszeichen auf der Stirn. Denn so wurden
sie gesehen von der Umwelt, die Monteveritaner um
Gräser: als Empörer, als die Mörder des Hergebrachten, als die Zerstörer der
Konventionen, und so sahen sie auch sich selbst. Hesse deutet in der 'Morgenlandfahrt' den Zug der Monteveritaner als Teil einer Bewegung, die es zu allen
Zeiten gegeben habe, als den universellen Strom der Menschheit zur Heimat, zum
utopisch-mythischen Licht des Ostens hin.
Unsre Fahrt nach Morgenland und die ihr
zugrundeliegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig
Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen
nichtig erschien. (GW VIII, 349)
Wie
sagt doch Bloch in 'Geist der Utopie'?
- "Das Andere [des Staates], der Geiststaat oder Vernunftstaat ... ist dem
Problem nach Kirche" (U 404). Gemeint ist die
"Liebesgemeinschaft" (U 397), "die ersehnte Brüdergemeinde"
(KK 566), der Sprung "zum gänzlich unkapitalistischen,
brüderlich entbrannten Liebes- und Gemeinschaftsethos". (KK 564)
In
anderen Worten: Mit Gräser sehen Hesse und Bloch die neue Gemeinschaft
unorganisiert, überpersönlich, religiös: als eine unsichtbare
"Kirche" jenseits gewohnter Religionen und Konfessionen.
"Gemeinsamkeit", sagte Demian,
"ist eine schöne Sache. Aber was wir da überall blühen sehen, ist gar
keine. Sie wird neu entstehen, aus dem Voneinanderwissen
der Einzelnen, und sie wird für eine Weile die Welt umformen." (GW V,
133f.)
Es
ist ein Voneinanderwissen von Einzelnen, die sich
zeitweise berühren, aber nicht sich zusammen- schließen, eine Sternenfreundschaft
mit dem Pathos einer feierlichen Distanz. Oder, wie Bloch sagt, einer
"beseelte(n) Distanz" (U 382), die auf institutionelle und
dogmatische Fixierungen verzichtet.
Er zerbricht und geht auf, Gott, als das Um
uns, der Dritte, die beseelte Distanz, als Mütterlichkeit und die warme Luft
des objektiven Herzens. (U 382)
Anders
und doch sinnverwandt sagt es Gusto Gräser:
Weltenei, das ringeschwingt durch den Springepunkt:
Dadrein -
trillionenfach da binnen bandelt voll geheimem Minnen
der Gemeinschaft Binnelein
- muss das nit ihr Urpunkt
sein?
Will
sagen: die Gemeinschaft beginnt und entspringt ganz und gar aus dem Innen, ist
eine Leistung des Einzelnen und bedarf einer Bestätigung durch ein Außen, durch
den Anderen nicht - jedenfalls nicht unbedingt, so sehr sie auch erwünscht sein
mag. Es kommt darauf an, ein Freund zu sein,
nicht Freunde zu haben, sagt Gräser. Es ist eine Bruderschaft unter Pilgern,
die auf einen fernen Stern zugehen, so sieht es auch Bloch:
Nur unter gütigen, begeisterten, der Tiefe des
Menschenbunds hingegebenen, chiliastischer Pilgerschaft vertrauten Völkern ist
die Magie der Brüderlichkeit möglich. (KK 569)
Das
Wort "Menschenbund" ist festzuhalten. Auch von
"Menschenreich" oder "Selbstreich" spricht Bloch (U 381 und
öfter). Und befindet sich damit wieder in wörtlichem Einklang mit Gusto Gräser:
Das
Menschenreich!
"Dass der Mensch zum Menschen werde, stift er einen heilgen Bund ...
"
Wenden
zum Reich, dem rauhtraut Redlichen,
vom Kratenteich des Allweltkrampus Staat ...
Er - der Entschlossene zum reinen Reich ...
Die
Gemeinschaftssehnsucht Gräsers, die sich nicht in der Herdenangst verlieren
will, geht auf und ein in das Menschenreich,
Ringruhreich, Erdsternreich. Sie bindet sich an keine zeitliche, irdische,
begrenzte Verwirklichung. Freundsein ist die Bestimmung des Menschen, und ein
solches Sein verlangt keine Erwiderung.
O
Tugend du des Ehrenden der Erden, der in dem Freundsein
sieht sein einzig Heil ...
Wenn
es auch des Menschen Urberuf
ist, in diesem Sinne ein Freund zu sein, so schließt dies nicht aus sondern
ganz entschieden ein, zu werben und zu ringen um Freundschaft und Gemeinschaft.
Eben dies ist es, was Gräser zeit seines Lebens als seine Aufgabe gesehen hat.
Auf
seiner Wanderung durch Deutschland kommt er am 13. April 1909 auch nach Weimar
in das Haus von Johannes Schlaf, damals einer der bekanntesten Schriftsteller
und Literaturkritiker. Die Begegnung mit dem jungen Mann ist für Schlaf so
eindrucksvoll, dass er einen drei Seiten langen Bericht darüber verfasst, den
die 'Frankfurter Zeitung' am 25. April veröffentlicht. Darin lässt er Gräser
sagen:
"Ja, Kameraden, Kameraden! Die
Freunde!" Er streicht sich über die Stirn. "Wo sind sie? Wo, wann,
werde ich sie finden? ... Ich will da
leben und seßhaft sein und in solcher Gemeinschaft,
die am natürlichsten meiner Art
entspricht. Unter Kameraden und Gleichgesinnten. Aber wo und wann werde ich die
heute finden?"
Schon
1904 hatte ein Aufsatz in der 'Jugend' dieses
sein zentrales Wollen herausgehoben:
Sein Denken und Wollen wird aus der Sehnsucht
seines Herzens fließen, Geister zu finden, die gleich ihm der Natur nachspüren;
aus der Sehnsucht seines Herzens, solche Geister aus der Masse herauszuheben
und ihre Fleischwerdung zu ermöglichen. (Die Jugend, 1904, Nr. 2, S. 24)
Gräser
ist der um Gemeinschaft Werbende und Ringende, aber um eine solche, die aus dem
Selbstsein des Einzelnen kommt, die keine Herren und keine Knechte, keine
Herrschaft und keinen Zwang und keine Gewalt mehr kennt, die den Vatergöttern
den Gehorsam verweigert aber der Mütterlichkeit weiten Raum gibt und damit der
Wärme, der Vielfalt und der Toleranz. Es ist ein Programm - wenn man dies als
"Programm" bezeichnen kann -, das mit dem Wollen des jungen Bloch,
auch Landauers, weithin einig geht, es ist im Grunde das Programm der ganzen
als "expressionistisch" bezeichneten Generation. Romantische Ideen
kommen darin zum Tragen, anarchistische, lebensreformerische, utopistische, auch sozialistische; solche von Nietzsche,
von Ibsen und Tolstoi, den Wortführern der Epoche; alle zusammen aber
einmündend in eine uralte esoterische Tradition, die Bloch ausdrücklich als
"Freundschafts- und Liebesmystik" bezeichnet und auch für sich selbst
in Anspruch nimmt (U 382).
Worauf
kommt es an, in unserem Zusammenhang? Dass es im Anfang des 20. Jahrhunderts
eine Bewegung gegeben hat, inzwischen vielfach schon konstatiert und
interpretiert, die auf den "neuen Menschen" zielte, auf einen
"neuen Mythos", ja eine "neue Religion". Es gab sogar, in
vielfachen Stimmen, so etwas wie eine Messiaserwartung.
Dass dies eine Zeit des Aufbruchs und Umbruchs war, in den Künsten wie im
Sozialen und Politischen, liegt heute offen zutage. Aber Aufbruch wohin? Und
welches waren die treibenden Kräfte der Veränderung? Waren es die Marxisten und
Nationalisten allein, oder gab es auch andere Ansätze, die ihre Spuren
hinterlassen haben?
Es
war eine Zeit der Revolutionen: Sturz der Monarchien, Aufbruch der modernen
Kunst, Frauenbefreiung, allgemeines Wahlrecht und so fort. Der Weltkrieg als
Menetekel und Signatur der Zeit. Auch der Beginn der Diktaturen von rechts und
links.
Das
Jahr 1917, die Entstehungszeit von Blochs 'Geist
der Utopie', von Hesses 'Demian', zugleich Ausgang der russischen Revolution und Eintritt
Amerikas in den Krieg, bezeichnet eine Wegscheide, insbesondere auch für Bloch.
Würde er das weiße Banner der Gewaltlosigkeit, der Herrschaftslosigkeit, der
Brüderlichkeit, das schon Diefenbach entfaltet hatte, das Landauer gehisst, das
er selbst verherrlicht hatte, würde er dieses Banner aufrecht halten auch im
ausbrechenden Sturm der Gewalt? Würde er, würde die expressionistische
Generation ihren pazifistischen, allverbrüdernden, menschheitsumarmenden Traum
bewahren, gar verwirklichen können?
Es
ist zu konstatieren, dass die allermeisten der "O Mensch"-Generation
im Augenblick der Bewährung mit fliegenden Fahnen übergelaufen sind zu den
großen Massenströmungen, die neue Herrschaft versprachen, kommunistische oder
nationalistische, dass sie ihre Ideale über Bord geworfen haben, um jenen
Herdentaumel der Macht zu genießen, vor dem Gräser und Hesse gewarnt hatten.
Nicht nur Ernst Bloch, auch Otto Groß, Franz Jung, Oskar Maria Graf, Johannes
R. Becher und so viele andere haben sich der Suggestion des Massentriebs unterworfen,
haben eine Gemeinschaft gesucht, die Wärme versprach und Sicherheit, und haben
jene verlacht und verspottet, die glaubten, auf die Macht der Kanonen
verzichten zu können. Ernst Bloch ist einer der hartnäckigsten Stalinisten
geworden, der offenkundige Verbrechen jahrzehntelang geleugnet oder verteidigt
hat. Er hat Christus in Moskau auferstehen stehen und in Stalin die neue
"Lichtgestalt". Er hat in der realsozialistischen DDR nach Panzern
gerufen, um den "Prager Frühling" niederzuschlagen. Er hat so lange
an das "neue Jerusalem" geglaubt, bis er selbst, um seines Überlebens
willen, in den verfluchten Westen flüchten musste.
Wozu
daran erinnern? Um an den besseren Ernst Bloch zu erinnern, der einstmals einen
neuen geistigen Bund, das "Menschenreich" beschwor, die
"Brüdergemeinde", die "mystische Demokratie". Um daran zu
erinnern, dass er einmal die "Bibel der Expressionisten" verfasst hat
wie Hesse die "Bibel der Jugendbewegung". Es ging ihm einmal um die
Stiftung einer neuen Religion, um ein "drittes Reich", als dessen
"Paraklet" - Geist, Tröster und Verkünder - er sich selber sah. Warum
ist er es nicht geworden? Woran ist er gescheitert?
Quellen:
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Geist der Utopie. Erste Fassung. In: Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1977. Band 16. ( = U) |
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Bloch, Ernst |
Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917-1919. Frankfurt/M. 1985. ( = KK) |
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Wilhelm |
Wallfahrt zu Meister
Diefenbach. In: Freie Bühne, 2.Jg., 1891, S. 553-558. |
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Braun, Bernhard |
Die Utopie des Geistes. Zur Funktion der Utopie in der politischen Theorie Gustav Landauers. Idstein 1991. |
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Cepl-Kaufmann, G. und Kauffeldt, Rolf |
Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. München 1994. |
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Blochs Antwort auf Nietzsches Gedanken von der Souveränität des Werdens. In: Bloch-Almanach 16/1997, S.45-70. |
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Gräser, Gustav A. |
Heimat. Flugschrift. Berlin 1911/12. |
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Gräser, Gustav A. |
Ein Freund ist da - mach auf! Flugschrift. Berlin 1911/12. |
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Gräser, Gustav A. |
Erdsternzeit. Eine Auswahl aus dem Spätwerk. Freudenstein 1999. Vierte Auflage Recklinghausen 2017. |
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Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Frankfurt/M. 1980. |
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Demian. In: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1970. Band 5. |
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Gustav Landauer. Kultursozialist und Anarchist. Meisenheim1967. |
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Die Idee eines "Neuen Bundes". In: Manfred Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/M. 1988. S. 131-179. |
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Die Krise des wissenschaftlichen Weltbildes und die Wiederkehr der spekulativen Phantasie. In. Bloch-Almanach 8/1988, 116-135. |
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Linse, Ulrich |
Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871. Berlin 1969. |
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Löwy, Michael |
Rédemption et utopie. Le judaïsme libertaire en Europe centrale. Paris 1988. |
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Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch. Fankfurt/M. 1982. |
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Fichtes Reden an die deutsche Nation und Landauers Aufruf zum Sozialismus. In: Der Sozialist, 3. Jg., 1911, Nr.11. |
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Szeemann, Harald (Hg.) |
Monte Verità. Berg der Wahrheit. Mailand 1978. |
|
[1] "Seine Sozialordnung war ... von
vornherein restaurativ", schreibt Wolf Kalz in seiner Monographie über
Landauer, "zumal er ... in spätmittelalterlichen Sozialgebilden die
Vorbilder seiner neu zu bildenden Organismen sah" (Kalz 17). Landauer
lehne sich "unverkennbar an idealisierte, autonome, mittelalterliche
Stadtgemeinden an" (ebd. 18). Die Idealisierung und Romantisierung von
altdeutschen "spitzgiebeligen Städten" (U 303) und ihrer heimeligen
Gotik findet sich bekanntlich auch bei Bloch und mag von Landauer übernommen
sein. Einmal mehr zeigt sich hier der Abstand zu den Vorstellungen der Gräsers,
denen eine solche Anbindung an unwiderruflich Vergangenes völlig fern lag.