Aus verschiedenen Gründen blieben wir in diesem Sommer 1914 in der
Nähe von Mailand. Carla Bossi erzählte von einer Gruppe von
Künstlern, die eine Kolonie auf dem Monte Veritä bei Ascona, einem
kleinen Dorf im Tessin, gegründet hatten. Wir erhielten
innerhalbdes «heiligen Bezirks» von Monte Veritä ein
Zweizimmerhäuschen für unsere Ferien. Schon am ersten Abend
mußte ich sehr staunen. Es gab bei Henri und Ida von Oedenkoven
ein Fest. Meine Mutter zog ein griechisch anmutendes Gewand an (mit
einem blauen stolaartigen Überwurf), was ich bisher noch nie an
ihr gesehen hatte. Ich selber erhielt ein kleines rotes Hemd
mit Fransen zum Anziehen. So, mit der Geige unter dem
Arm, kamen wir in einen großen Saal, überfüllt mit einer noch
nie gesehenen, bunten Gesellschaft. Heute würde es nicht mehr so
auffallend sein, aber damals! Da waren Herren mit langen Haaren
und sonderbaren Tuniken. Mary Wigman in einem roten, eng
anliegenden langen Kleid, Clothilde Sacharoff-von Derp in einem
durchsichtigen Chiffonkleid. Gertrud Leistikoff hatte ein aus
frischen Farnen bestehendes Kleid um sich drapiert! Und das
Ganze war nicht etwa ein Maskenball, sondern alles war sehr
ernst gemeint. Viele andere Tänzer waren da, alle
in phantastischen Kleidern. Es wurde musiziert und vorgeführt.
Leistikoff tanzte. Mary Wigman war noch Schülerin von Laban.
Sie machte jeden Morgen um acht Uhr mit allen Tänzern
gymnastische Übungen. Ich durfte mich auch dazugesellen und
versuchte mit Spannung alle Bewegungen mitzumachen. Am Samstag
nachmittag wurden alle auf der großen Wiese vor dem
Hauptgebäude versammelt, um «olympische Spiele» zu
veranstalten. Eine köstliche Gesellschaft! Zwei alte Engländerinnen
in weiten Hosen, Tunika und Blumen in den Haaren,
liefen Marathon. Laban formte mit uns Kindern Reigen. Er gab
auch Tanzstunden und hatte den Impuls, Tanz stumm zu gestalten. Ein
anderer Versuch von ihm bestand darin, die Sprache in Bewegung
umzusetzen. Enge oder weite Bewegungen an der Mundstellung
abgelesen: u - ganz eng, i - ganz gestreckte Bewegungen. Später
hat er diesen Versuch fallengelassen. Die Eurythmie war zwei Jahre
vor diesen Versuchen, im September 1912, mit dem sogenannten
Bottminger Kurs in der Nähe von Basel geboren!
Eines Tages ließ er mich zu sich kommen und erzählte mir eine
Geschichte. die ich tanzen sollte: «Ein Kind spielt und ist fröhlich
- es klopft an der Tür, beim dritten Mal kommt ein Drache herein.es
wird gekämpft, am Ende sinkt das Kind tot hin.» Ich versuchte
mein Bestes, fand aber die Geschichte etwas dumm. Aber Mary
Wigman faszinierte mich. Mit der Zeit durfte ich sie besuchen,
wann immer ich wollte. Wir gingen auch zusammen spazieren.
Ascona war noch unberührt! Das ganze Delta der Maggia war noch eine
mit Weide oder Wald bewachsene Wildnis. Eines Tages durfte
ich Mary Wigman zu diesem schönen Wildstrand begleiten. Ein
Photograph war mitgekommen und machte viele Photos von ihr,
tänzerische Momente wurden aufgenommen. Sieben Jahre später
habe ich diese Photos in ihren Programmheften wieder gesehen.
Das war in ihrer Glanzperiode.
Bald war die Herrlichkeit zu Ende: Auf dem Kirchturm von Ascona
wehte eines Tages die rote Fahne - Krieg!
In
der Schweiz wurde die Armee mobilisiert. Keiner hatte einen Begriff
davon, was Krieg bedeutet. Henri Oedenkoven sah ich mit einer
Handkarre den steilen Weg heraufkommen mit Salat; es sollte
Kriegsvorrat sein! Die bunte Gesellschaft verteilte sich in wenigen
Tagen in alle Richtungen Europas. Laban blieb in Ascona als
Kriegsdienstverweigerer und wurde von Henri Oedenkoven für diese Tat
geadelt! - Mary Wigman, die nun zwei Tanzausbildungen hinter sich
hatte, die erste bei Dalcroze und die zweite bei Laban, ging
zurück nach Deutschland und gründete ihre Schule. Sie wollte gerne,
daß ich mit ihr käme. Aber das verhinderte meine Mutter.
Wir zogen in Ascona in eine größere Villa um - in die Casa Pöck. Der
Besitzer mußte in den Krieg ziehen. Die Villa hatte einen
Garten mit herrlich mundendem Spalierobst, in einem Weiher
tummelten sich
Goldfische, auf eine bestimmte Melodie schwammen sie alle zusammen.
um Futter zu bekommen.
In
den Sommerferien mußte ich immer nachholen, was in den italienischen
Schulen nicht gelehrt wurde; zum Beispiel die deutsche Sprache,
Geographie von Skandinavien mit den tausend Namen von Seen.
Flüssen und den Fjorden Norwegens. Auch manche geschichtlichen
Episoden - in dem katholischen Italien gefälscht - mußte
ich neu lernen, zum Beispiel das Leben Luthers. - Das geschah
regelmäßig nach dem Mittagessen! Meine Mutter verhielt sich
darin eisern.
Im
Winter, der nun folgte,besuchte ich eine höhere Mädchenschule, dies
aber auch nur für bestimmte Fächer, alles übrige lernte ich
privat, zu Hause. Was ich aber in den paar Wochen in Ascona vom
Tanz gesehen hatte, spielte ich nun weiter. Mit einem Mädchen
zusammen, «Bebe», entwarfen wir Kostüme und gaben
Tanzvorstellungen. Natürlich fehlte nicht «Kleopatras Tod» mit der
Schlange. Bebe ist später Tänzerin geworden; sie verschwand in
die USA.
Italien war im Winter 1914/15 noch nicht in den Krieg eingetreten.
Aber es wurde viel geschürt; d’Annunzio propagierte den
Kriegseintritt und der Chauvinismus wuchs.
Mein Vater erhielt viele Aufträge für Bauten im Süden von Italien,
in der Umgebung von Rom und auch in der Stadt selber. So beschlossen
meine Eltern, nach Rom zu übersiedeln.
Ich stand zu dieser Zeit in meinem vierzehnten Lebensjahr.