(erschienen in ensuite: Nr. 62 Februar, S.7-11)
Der Ausdruckstanz
Monte Verita, die Wiege des Ausdruckstanzes
Emil
Nolde betrachtete den bizarren Tanz Mary Wigmans (damals noch: Marie
Wiegmann) und meinte: “Es gibt noch jemanden, der tanzt wie Du: Rudolf
von Laban!” Die frisch diplomierte Rhythmische-Gymnastik-Lehrerin vom
Dalcroze-Institut in Hellerau, Mary Wigman, konnte bislang nur in der
stillen Kammer tanzen wie sie wollte. Dalcrozes Theorie war nämlich,
dass sich Dynamik, Taktart und Struktur der Musik durch tanzähnliche
Bewegungen besser nachempfunden und verstanden werden. Nicht aber, dass
Tanz etwas Unabhängiges sei. So folgte sie im Sommer 1913 dem
verheissungsvollen Mann Rudolf von Laban auf den Monte Verita bei
Ascona. Sie musste nur den Gongschlägen und Handtrommeln nachgehen und
oben erwartete sie die Freiheit: Improvisationen im Tanz frei von
Musik, Nacktkultur, sowie mystische Naturspiele. Der Tanz der Dämmerung
erfolgte bei Sonnenuntergang auf einem Bergabhang, der Tanz der Dämonen
um Mitternacht um ein Feuer herum, der abschliessende Tanz des
Sonnenaufgangs richtete sich gen Osten. Was steckte hinter den
kultischen Ritualfeiern?
Nietzsches
Werk Also sprach Zarathustra wirkte auf die Avantgarde-Künstler mit
seinem prophetischen und biblischen Duktus magisch: Jeder fühlte sich
berufen, dem Aufruf zu folgen, mit Überkommenem zu brechen und die
schöpferische Lebenskraft ganz aus sich zu entfalten. Dem Tanz fiel
dabei eine ganz urtümliche Rolle zu. Der dionysische Tanz sei die
ursprünglichste Bekundung der Freude, deren heilsam-ekstatische Kraft.
Laban verkündete diese die ganze Menschheit betreffende Verheissung mit
Vorliebe. Alle sollten von den Zivilisationsschäden erlöst werden. Für
Mary war Nietzsche zwar ein Wegweiser, doch nur ein “zweidimensionaler
Tänzer, […] dieser Vortänzer des Übermenschen jammert noch zu viel und
tanzt noch lange nicht genug”. Als im nächsten Sommer, im August 1914,
Deutschland die Generalmobilmachung ausruft, verwaist die schweizer
Sommer-Kolonie auf dem Monte Verita. Laban und die mittlerweile zur
Assistentin avancierte Mary Wigman bleiben sich und ihren Selbststudien
überlassen. Laban fürchtet, als ehemaliger k.u. k.-Reserveoffizier noch
eingezogen zu werden. Ihre ausgearbeiteten Pläne für ein Tanzzentrum in
Deutschland werden kurzerhand nach Zürich verlagert (Vera Skoronel und
Berthe Trümpy werden dort ausgebildet, zwei grosse künftige
Mary-Wigman-Tänzerinnen). Laban tritt einer Freimaurerloge bei. Seinen
Appetit auf rituelle Festlichkeiten kann er als Hauptzeremonienmeister
hier gewiss stillen. Bald schon gehört Rudolf von Laban zur
künstlerischen Szene Zürichs. Diese wird von den Dadaisten bevölkert.
Ihre Auffassung von radikaler Neuerung liegt ihm. In ihrem Kreis sind
die ersten Auftritte seiner Schule, so wie umgekehrt Labans
Tanz-Freundeskreis die treuen Bewunderer der Dada-Ausstellungen bilden.
Nur eine ist seltsam immun gegenüber dem ironisch-verspielten Dada:
Mary Wigman mit ihrem weihevollen Ernst. Sie bleibt dem Expressionismus
verhaftet. Ergriffen präsentiert sie dem Dada-Kreis eine
deklamatorische Vertanzung des Werks Also sprach Zarathustra. Ernst ist
es wohl auch der deutschen Regierung, wenn sie mit 150 000 Exemplaren
dieses Buch nebst Bibel den Soldaten auf den Weg an die Front mitgibt.
Im
Züricher Stadttheater, dem Pfauentheater, erntet Mary Wigman 1917 vom
bürgerlichen Publikum nur Hohn und Pfiffe. Die NZZ fragt: “Weshalb […]
melancholisches Spekulieren über nächtliche Abgründe, wenn rings umher
frische, grüne Weide liegt?”
Was bringt die grüne Weide?
Was
also treiben die Begründer des Ausdruckstanzes, Mary Wigman und Rudolf
von Laban auf den saftigen Wiesen von Ascona? Laban mißt mit dem
Meterband … die Beweglichkeit des Körpers aus, setzt das Winkelmass an
Mary an. Eine bahnbrechende Arbeit beginnt: Laban versucht eine
definierbare Struktur für ein Modell der menschlichen Bewegung
auszumachen.
Wie
Leonardo da Vinci in seiner Federzeichnung Der vitruvianische Mensch
zeigt, ist der Mensch den Proportionen der Körperglieder gemäss sowohl
in einen Kreis als auch in ein Quadrat zu spannen. Der Forscher Laban,
am plastischen Bewegungsradius interessiert, platziert ihn in eine
Kugel und einen Würfel. Doch es stellt sich heraus, dass die ideale
geometrische Figur, welche sowohl den Proportionen als auch den
meistgenutzten Richtungen gerecht wird, der Ikosaeder ist (ein
Zwölfeck). Von seinen Kanten aus hat der Ikosaeder durch seine Mitte
drei gleiche rechteckige Flächen gespannt, die jeweils senkrecht
zueinander sind. Diese drei Rechtecke entsprechen zum einen dem
aufrechten Mensch in seitlich leichtgespreizter Arm- und Beinposition
(in der vertikalen Fläche), zum zweiten demselben aufrechten Menschen
in vor-rück-gespreizter Position (in der sagittalen Fläche) und zum
dritten einer Ebene um den Nabel herum, die wie eine Tischplatte sowohl
die horizontale Richtungen, in die wir uns bewegen können als auch die
Beinrichtungen im 90 Grad Winkel erfasst (die horizontale Fläche).
Dies
ist erst der Anfang. Der Tänzer im Raum, mit seiner Orientierung,
Symetrie, Proportion, aber auch die Gestalt der Bewegungsabfolge gehört
zu seiner Theorie der Choreutik. Dann aber stürzt er sich in das
unglaubliche Unterfangen, eine Systematik menschlicher Dynamik, der
möglichen Dynamiken menschlicher Bewegung zu entwerfen. Diese nennt er
Eukinetik. Natürlich ist die Eukinetik im Zeitalter des Ausdruckstanzes
besonders aktuell und fordernd. Denn jede Dynamik ist dem Ausdruckstanz
willkommen, keine tradierte Ästhetik trifft eine Auslese. Systematisch
sucht Laban erst nach gemeinsamen Faktoren hinter den Antriebskräften,
wie er die Dynamik auch nennt: Allen ist Raum, Zeit und eine Kraft
gemein. Jede dieser Faktoren erstreckt sich auf einer Skala zwischen
zwei Polen (bei der Zeit wäre die Skala zwischen “plötzlich” und
“allmählich”). So unwahrscheinlich es klingt, Laban schafft es, jede
menschliche Dynamik in der Kombination dieser Faktoren zu beschreiben.
Es gelingt ihm nicht nur sie derart zu analysieren, sondern ihr auch
eine Notation zuzuweisen. Eine Notation, die des Namens würdig ist: sie
bleibt entzifferbar und anwendbar. Mehr noch, sie kann (angeblich)
durch Zusätze mit den Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz mithalten.
Was
für einen Nutzen bietet die Theorie für den Tänzer? Laban meinte, er
könne eine Art Tonleiter, A-Skalen und B-Skalen, sogenannte
“Laban-Schwünge” anhand des Ikosaeders anbieten, die wie Morgengebete
den Tänzer auf die Erfordernisse des Tages einstimmen. Doch als Mary
Wigman die verlangten Bewegungsskalen mit der ihr eigenen, ganzen
Hingabe tanzte, unterbrach sie Laban wütend, “sie würde mit ihrer
schrecklichen Ausdrucksintensität seine ganze Theorie tänzerischer
Harmonie ruinieren.” – Mary wird ihre künstlerische Entfaltung ohne
Labans Theorie zuwegebringen.
Mary Wigmans Stil
Auf
dem Monte Verita griffen mit dem Aufenthalt C.G. Jungs die Gedanken der
Psychoanalyse um sich. Marys Hexentanz, Dämonentänze und ekstatischen
Stücke befinden sich an der Schnittstelle zwischen Tiefenpsychologie
und einer eigentümlichen wigmanschen Metaphysik. Betrachten wir uns den
ekstatischen Tanz. Mit ihrer Drehmonotonie hat Mary Wigman eine
bemerkenswerte Trancetechnik entwickelt. Ihr Körper bildet unverrückbar
eine Achse, um die sie mit stets einwärts übertretendem Bein eine
Spinnkraft entwickelt, die sich in einer zunehmenden Geschwindigkeit
entlädt. Während ihre Arme seitlich wellenartige Akzente geben, wird
ihr Körper immer weiter nach oben gesogen, was sie als einen
Schwebezustand empfindet. Bis zu acht Minuten hält die Trance. Die
Gegenstände, von anbeginn nie anvisiert (im Gegensatz zum Fixieren
eines Punktes mit dem Blick beim klassischen Tanz), verschwimmen. Sie
fühlt sich einerseits enthoben, andererseits “als Mittelpunkt des
grossen Bewegungsgeschehens”. Dann aber wiederum – und das relativiert
den egozentrischen Blick – als eine Art Symbol “Teil aller unendlich
schwingenden Weltkörper”. So heisst’s im Tagebuch. Mary Wigmans
Ausdruckstanz war immer bedeutungsgeladen. Die gedruckten Begleitworte
waren aber selten hilfreich.
Als
die Schweiz Marys Aufenthalt nach dem Krieg nicht weiter genehmigt,
geht sie nach Dresden, der vorerst einzigen deutschen Stadt, die ihr
zujubelt. Als die ihr versprochene Ballettmeisterstelle an der
Semperoper weitervergeben wird, springt die Züricher
Industriellentochter Berthe Trümpy zu Hilfe und kauft in Dresden ein
Haus, die künftige Mary-Wigman-Schule. Mit ihrem neuen Stil wirkt Mary
wie ein Magnet. Innerhalb ein-zwei Jahren hat sie die besten Tänzer des
Landes um sich: Harald Kreutzberg, Hanya Holm, Gret Palucca, Max
Terpis, Yvonne Georgi (neben den alten Schülerinnen Vera Skoronel und
Berthe Trümpy). Wenn ein Winterthurer Mäzen 1923 die Bildung der ersten
modernen professionnellen Truppe sponsort, ist es keine
Fehlinvestition: ihr ist Erfolg beschieden. Sie erobert nach und nach
landesweit Publikum und Presse und scheint auf auf dem zweiten
Tänzerkongress gegenüber dem rivalisierenden Laban-Lager künstlerisch
den Sieg davonzutragen.
Ab
da hört man aber kritische Stimmen vom Fach: der Höhepunkt sei wohl
hinter ihr, der Pathos nicht immer erträglich. Ihre Truppe muss sie aus
finanziellen Gründen auflösen. Zwei Gastspiele in New York treffen noch
auf Euphorie, das dritte auf Sättigung und Ablehnung. Wigman scheint
nur noch beim konservativen Bildungsbürgertum gefragt, die
Aufgeschlosseneren richten ihren Blick auf Gesellschaftskritik. Valeska
Gert, Kurt Jooss und der rote Tänzer Jean Weidt sind die engagierteren
Tänzer. Bewegungstechnisch gehören sie (noch) zum Ausdruckstanz.
Ab
1933 ist es vorbei mit der Gesellschaftskritik. Mary Wigman ist für die
NSDAP hoffähig. Obwohl aus Goebbels Tagebuch hervorgeht, er wünsche
sich den Tanz “beschwingt und schöne Frauenkörper zeigend”, statt
“philosophisch [wie] Pallucca und Mary Wigman”. Doch ihre Philosophie
muss ihm schmeicheln: sie schreibt 1935 ein Buch zum deutschen Wesen:
“Die deutsche Tanzkunst”.
Mary
Wigman legt keinen vorauseilenden Gehorsam an den Tag. Sie fügt sich
aber ohne viel Erhebens. Und ohne Kommentar. In ihrem Tagebuch
beispielsweise vermerkt sie 1934 wortkarg: “Clärchen Goldschmidt nicht
mehr da, Selbstmord.”
Auch
Harald Kreutzberg, ein begnadeter und weltberühmter Ausdruckstänzer,
schafft es, sich ohne jegliche Stellungnahme durch das Dritte Reich zu
manövrieren: “Das Schicksal ersparte mir eine Stellungnahme, die
unweigerlich zum Bruch und für mich zur Katastrophe hätte führen
müssen.” Er blieb ein persönlicher Günstling Goebbels, und wurde als
“kultureller Propagandist” bis zum Krieg auf Auslandtourneen geschickt.
Rudolf von Laban war da schon dezidierter, vielleicht aus der
unsicheren Lage eines Nichtdeutschblütigen heraus. Er schmeichelte mit
seinen grossformatigen Bewegungschören, die in den Dienst der
Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes gestellt wurden. Er war
Direktor der Berliner Staatsoper bis 1934, Leiter der Deutschen
Tanzfestspiele 1934, Direktor der neugegründeten Tanzbühne,
anschliessend der Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz und geladen für
die Olympischen Festspiele 1936. Dann aber war sein Schicksal ihm nicht
mehr hold…
Als ein
Verantwortlicher für Erb- und Rassenlehre sich 1934 in die Schule Mary
Wigmans niederliess, wo sie übrigens auch lebte, vermochte er ihr keine
inhaltliche Auseinandersetzung entlocken. Nicht einmal im Tagebuch. Sie
konstatiert nur: “Keine Privatexistenz mehr. Gefängnisleben hier im
Haus. Nichts zu machen”.
Kurt
Jooss war Schüler und bald Assistent Labans nach dessen Schweizer Zeit.
Da Laban mehr noch als choreographieren, die Menschen aus ihren
Hemmungen zu lösen liebte, hatte Jooss genug Gelegenheit, sein
schöpferisches Talent anzubringen. 1924 fühlte er sich reif und just
bekam er eine Ballettmeisterstelle in Münster angeboten. Nur wenige
schafften es damals von der freien Szene ans Theater, denn nur
vereinzelte Theater hatten den Mut für radikal Neues (Mary Wigmans
Vertragsangebot an der Semperoper wurde wie erwähnt kurz vor
Spielzeitbeginn zurückgezogen). Als Kurt Jooss’ Partner, ein Tänzer,
Bühnenstauballergie bekam und die Stelle aufgeben musste, gründete er
mit ihm eine Schule. Mehr noch: Zusammen mit dem Operndirektor die
erste spartenübergreifende Kunstausbildung Deutschlands. Für den Tanz
schwebte ihm vor Augen, ihn “von jeglicher weltanschaulichen Vermummung
zu entkleiden”. Aus ihr wird die legendäre Folkwangschule entstehen,
noch heute die Adresse für modernen Tanz. Die Labanschen Methoden der
Choreutik und Eukinetik bildeten die Grundlagen.
Jooss integriert
Inzwischen
fand der erste Tänzerkongreß (1927) statt. Die zersplittertste aller
Kunstarten (von Gesellschaftstanz, klassischem Bühnentanz bis freiem
Tanz) sollte einheitlicher in der Öffentlichkeit (auch in Lohnfragen)
auftreten können, eine Gewerkschaft gründen und eine staatliche
Ausbildungsstätte fordern. Alle namhaften Tänzer und Pädagogen waren
zur Stelle – außer Mary Wigman. Rivalitäten, schon bei der
Organisation, führten zu ihrem Fernbleiben. Und zu ihrer Gründung eines
eigenen Interessenverbands. Kurt Jooss übernahm daraufhin die
Organisation des zweiten Kongresses und schlichtete zwischen zwei
Verbänden. Bei der Frage der Tanzakademie kristallisierte sich im
Plenum des zweiten Tanzkongresses der Zwiespalt in der Tanzwelt heraus:
Klassik oder Moderne? Soll das klassische Ballett noch in einer neu zu
schaffenden Ausbildung vertreten sein oder ist dem modernen Tanz à la
Mary Wigman als kultureller Neuerung voll und ausschließlich Rechnung
zu tragen? Kurt Jooss stand für eine Synthese ein. Er forderte die
Tänzer auf, sich so vielseitig wie möglich zu bilden. Ein noch heute
gültiger Rat.
Essen war im
kulturellen Aufwind. Das Ruhrgebiet, die Arbeiterregion Deutschlands,
wollte sich Kultur leisten, und zwar gute. Hatten die Münsteraner
Spiessbürger gerade gegen ihre Theaterleitung intrigiert? Um so besser!
Essen empfing nach und nach die gesamte Münsteraner Rige samt der
interdisziplinären Akademie von Kurt Jooss. Der gute Ruf der Akademie
machte an Landesgrenzen nicht halt. Essen ging auch auf Jooss’
Vorschlag ein, den erwähnten zweiten Tanzkongress zu beherbergen und
hielt hoffnungsvoll an Kurt Jooss fest, als er von der Berliner
Staatsoper ein Angebot erhielt. Jooss empfahl Rudolf von Laban für den
Posten. Dieser wirkte seit kurzem an der Folkwang-Schule (nachdem er -
wie des öfteren – gerade Konkurs gemacht hatte). Und Laban geht. In den
darauffolgenden Jahren der Depression privatisiert sich die Schule, um
der Stadt nicht zur Last zu fallen, und die Lehrer arbeiten für das
halbe Geld.
Auf
der Bühne präsentiert Jooss Choreographien, in denen er sich von seinen
expressionistischen Anfängen, “dem freien, in seiner Art ‘barbarischen’
Ausdruckstanz” abkehrt, wie er meint. Die Gefühlsinsbrunst war noch nie
seine Sache, und nun sieht er sich von der neuen Sachlichkeit
gefordert: von “sparsamer Oekonomie und kunstgemässer Beschränkung”. Er
stellt den Menschen in ein bestimmtes und ihn bestimmendes Milieu. Das
war unweigerlich Gesellschaftskritik. Er brandmarkt den Kontaktmangel
der Menschen, die rastlos hastende Gesellschaft. Als Abonnent der
Weltbühne liest er Tucholskys Aufrufe zum Aufrüstungsstop. 1932 schöpft
Jooss für einen Choreographenwettbewerb in Paris ein Stück über den
Krieg mit dem Titel “Der grüne Tisch”. Es wird ein ausserordentlicher
Erfolg und erhält den ersten Preis. Es gilt als sein gelungenstes Werk
mit seiner formalen Engführung. An einem langen Tisch, der sich bis in
den Bühnenhintergrund zieht, biegen und beugen sich zu beiden Seiten
wichtigtuerische Beamte in Frack. Sie steigern sich in einen Streit,
ein Schuss fällt und der Krieg ist lanciert. Der Tod, ein steifes
Uniformen-Skelett, sucht nach und nach alle Gesellschaftsschichten
heim. Der Tanz ist ein beklemmender Todesreigen, an dessem Ende das
Anfangsbild steht, der Tisch mit viel Frack. Welcher Kontrast zu
Wigmans heroischer Behandlung des Todes an den Olympischen Festspielen!
Als
1932 mit einem neuen Intendanten der Hitlergruss am Theater eingeführt
wird und die jüdischen Mitarbeiter gekündigt werden, nimmt Jooss seinen
Hut. Den gekündigten Mitarbeitern erwirkt er über bürokratische
Hindernisse hinweg noch Ausreisegenehmigungen als Mitgliedern seiner
(selbständigen) Tournee-Kompanie. Der lebenslange Freund und jüdische
Komponist Fritz Cohen darf nicht mehr das Theater betreten und Jooss
solle, wenn’s denn nun sein muss, dessen Stücke spielen, ohne den Namen
zu nennen. “Darauf antwortete ich: Wenn Sie glauben, daß jüdische Musik
für Deutsche schlecht ist, bleibt es jüdische Musik, ob Cohens Name nun
erwähnt wird oder nicht”. Auftrittsmöglichkeiten in Deutschland ergeben
sich keine mehr. Auch wenn Jooss es nicht wahrhaben will. Wenige Tage
vor der geplanten Niederlanden-Tournee erhält er aus Freimaurerkreisen
einen Wink, das Land schnellstmöglichst zu verlassen. Er gibt daraufhin
der Presse den offiziellen Abreisetermin in drei Tagen bekannt. Joss
packt über Nacht die Koffer, bringt seine Tochter unter und reist samt
Kompanie vor Tagesanbruch ab. Wenige Stunden vor dem offiziellen Termin
klingelt es an seiner Tür in Essen. Sein Partner Leeder öffnet die Tür:
eine “Kommission” wünscht Jooss, vergeblich, und konfisziert die
Wohnung.
Jooss’ Wirkung ausser Landes
Kurt
Jooss, seine Kompanie und Dutzende ihm nachfolgende Schüler finden in
der reformpädagogischen Akademie Dartington in England ein
gastfreundliches Zuhause. Von dort aus tourt Jooss weltweit. Die
Einladung, an den Olympischen Festspielen teilzunehmen, lehnt er ab und
verweist auf das solistische Kollektiv seines Ensembles, das den
erwünschten Massenformationen so gar nicht nahekommt. Bei einer
Durchreise durch Paris stösst Jooss 1937 auf einen heruntergekommenen
Rudolf von Laban. Er ist sehr krank, in Deutschland kürzlich in Ungnade
gefallen und unerwünscht. Als ihn Jooss auf der Rückreise in
unverändertem Zustand wiederfindet, nimmt er ihn nach Dartington mit.
Dort verfasst Jooss 1939 ein Stück über den Aufstieg eines Tyrannen.
Die negative Figur wandelt sich in eine positive, als sie durch ein
Selbstopfer eine eskalierende Katastrophe verhindert. Der
Kriegsausbruch wenige Wochen nach der Premiere strafft diese Hoffnung
Lügen. Kurt Jooss schickt seine Kompanie zum ersten mal allein auf
Tournee nach Übersee. Er selbst möchte der britischen Regierung
gegenüber dem verhassten NS-Regime in welcher Form auch immer zur
Verfügung stehen. Womit er nicht rechnen kann: sie kommen und stecken
ihn in Haft. Erst als sich renommierte Persönlichkeiten wie der
Volksökonom Lord John Maynard Keynes für ihn und ähnliche “feindliche
Ausländer” einsetzen, kommt Jooss nach einem halben Jahr frei.