Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt
Nr. 7651, Hermannstadt,
Mittwoch 15. Februar 1899, S. 165
Mitte
Februar 1899 brachte die
Hermannstädter Zeitung folgende anonyme Besprechung:
(Der
Liebe
Macht) Unter
diesem Titel stellt der junge
Kronstädter Maler Gustav Graeser im Sprechzimmer unseres
Gewerbevereines
eines seiner ersten Werke aus. Die Grundidee des eigenartigen Bildes
ist, wie
schon der Titel sagt, die Liebe, hier als díejenige Kraft gedacht, die
jedes
Wesen beherrscht und das ganze Weltall zusammenhält. Als Hauptgruppe
erscheinen
in der Mitte des Bildes zwei Gestalten; ein Mann, der ein Kind führt
und ein
Kreuz in der Hand hält, deutet die Erziehung im Sinne Christi an. Von
den
verschiedenen sinnbildlichen Gestalten nennen wir noch einen Mann und
ein Weib,
von einem Kind aus der Finsternis zum Lichte geführt, als Symbol der
Menschheit, die vom reinen Geist geführt wird; dann die in Schwarz
gehüllte
Gestalt als Ursache des Bösen, „die Lüge“ und den Leichnam mit bösem
Gesichtsausdruck: „Der Untergang des Bösen“
Gusto Gräser: Der Liebe Macht, 1899
Kommentar: Wenn wir die obige Beschreibung
mit dem heutigen Aussehen des Gemäldes vergleichen, fallen bedeutende
Unterschiede auf. Wo ist der Mann mit dem Kreuz in der Hand, der ein
Kind
führt? Er ist nicht vorhanden. Wo ist die in Schwarz gehüllte Gestalt,
die
Ursache des Bösen? Sie ist nicht zu finden. Wo ist der Leichnam mit
dem
bösen
Gesichtsausdruck? Ein Leichnam ist zwar da – aber „böser
Gesichtsausdruck“? Von einer „Erziehung
im Geiste Christi“ kann schwerlich die Rede sein. Das Böse, die Lüge,
der
Untergang des Bösen, die Finsternis und das Licht, das das Weltall
beherrscht –
nichts von alledem ist aus dem Bilde ersichtlich. Viel eher das
Gegenteil: Der
„schwarze Mann“ ist mit einem Totenkopf und als Mönch gezeichnet, der
einen
Geldsack hütet: Symbol einer toten, in Geldgier erstarrten Kirche. Der
angebliche Leichnam mit dem angeblich bösen Gesicht erweist sich als
ein leidender
Mensch, der über dem Abgrund hängt und dem ein Dämon das Gedärm aus
dem
Leibe
reißt. Warum sollte dieser Mensch der Böse sein? Der Böse ist doch
viel
eher
jenes Monster der Gier (vermutlich des Kapitalismus), das ihm wie ein
Alp auf
der Brust sitzt und ihn zerfleischt. Und jenes Kreuz, das ein frommer
Erzieher
angeblich in der Hand hält – es liegt in Großausführung zerbrochen am
Boden,
hängt teils ebenfalls über dem Abgrund – und der leidende Mensch liegt
gemartert auf seinem Balken.
Die ganze Szenerie der rechten
Bildhälfte, aus der ein nacktes Paar sich flüchtet, mit dem Gehenkten
am Baum,
mit dem sich prügelnden Paar, mit der in Flammen stehenden Stadt, mit den
qualmenden Fabrikschloten, mit den sich zerfleischenden Raubvögeln,
ist
als
eine Welt der Zerstörung, des Verfalls und des Untergangs
gekennzeichnet. Kein
Grün, keine Blume, der nackte, unfruchtbare Fels. Über dem Ganzen, in
Abbildungen kaum erkennbar, schwingt der Tod seine Sense.
Die
Aussage ist eindeutig: sowohl
die christliche wie die modern-materialistische Weltdeutung führen in
den
Untergang. Die Rettung ist in Natur, Kunst und einer weltfrommen
Religion zu
finden: Inhalt der linken Bildhälfte.
Der
Widerspruch zwischen Bild und
Beschreibung liegt offen zutage. Die Frage ist nur, ob der
Besprechende
tatsächlich derart verfälschend seine christliche Weltsicht in das
Bild
hineinprojiziert oder ob Gräser das Gemälde später, zumindest in der
rechten
unteren Hälfte, wesentlich verändert hat. Dass die ursprüngliche
Fassung
hinsichtlich des Christentums eine andere Position vertreten hat als
die
spätere, legt sich vom Titel her nahe ('Der Liebe Macht') – und
von der
Beschreibung durch den Kritiker ebenfalls. Das Bild in seiner jetzigen
Fassung
erweist sich in mancher Hinsicht als ein Widerruf und eine Umkehrung
der
ursprünglichen Intention. Gräser hatte die Erfahrung machen müssen,
dass seine
reformerische Botschaft gerade von orthodoxen Christen am
entschiedensten
abgelehnt wurde. Er sieht das Kreuz jetzt zerschmettert am Boden
liegen
und die
Kirche ebenso wie die übrige Menschheit in den Klauen der Gier.