Das Berggespräch
 
Als ich vom grauen Dorf dort unten schied,
da fühlt ich gleich: Hali, heut gibt's ein Lied!
Und sieh, mein Fühlen, wie es sich erfüllt:
"Ein Sang voll Sonne liegt's vor mir enthüllt,
Du ruhereiches, wildes Tal im milden Morgensonnenstrahl!"
Und meine Lippen bleiben nimmer zu,
das halleschallt, o Wonne, Du - Du - Du!
Von Fels zu Felsen zieht's mich, schaun und schaun,
wie magst Du doch, Natur, so Hehres baun!
Bin ich nicht Du? - Bist Du nicht ich? -
Du rauhes Land, wie lieb ich Dich!

Berg:
 
Ja, zieh nicht weiter, bist ja mehr kein Knab,
und leg zur Ruhe Deinen Wanderstab.
In meinem duftgen, urgeweihten Schosz,
da weile lange, weilend wirst Du grohs.
Komm, lass die Flachheit, weit und breit,
sei mit mir Berg voll Heiterkeit! -
So'n Berg, mein Bester, hat es gut, hör zu,
wie das da herzescherzt in meiner Ruh -
spott's Torheit Du, spott's grüne Jugendlust:
Blühende Weisheit springt aus Unbewusst!
Das hat so rein, so gar nichts vor,
komm, sei kein Narr, sei mit mir Thor!


Komm, gleich dem Baume, der ins Blaue wallt - -
sein Trieb urjung, sein Stamm urahnenalt - - -
ein stiller Held - so ragt er in das Licht -
ein sturmgeboren, erdenfroh Gedicht.
Entsprossen uraltewgem Grund
tut er des Lebens Tiefen kund.
Schau hin und her, die Brüder, voll belaubt -
wie würdig tragen sie ihr grünes Haupt -
der rauhen Äste trautes Blätterdach,
das spendet Kühle Dir, brennt heiss der Tag.
Komm her ins Freihe, grün auch Du -
komm in der rauhen Recken Ruh!
Ich:
 
Ha, könnt ich nur - - - lock mich nicht gar zu sehr,
sonst wird verderblich mein zu heiss Begehr! -
Glimmt dort im Dorfe noch die heilge Glut,
dann schür ich sie, dann Berg, mein Berg, ist's gut:
Dann werd ich Walter Deinem Tal,
in ihn zög nimmer ein die Qual!
- - - - - - - -
Die "Glut" im Dorfe hab ich wohl entbrannt -
drei Monde schaff ich wacker in dem Land -
was säumt nun müde meine Schafferhand?

Berg:
 
Bist Du's, Gesell? -
Du bist es, ja, fürwahr, und dennoch bist Du's nicht,
o sonderbar!
Bald sah ich Dich beherzt voll Jubelmut,
dann wieder schleichst Du wie ein Tunichtgut.
Bedauren? - Nein, das mag ein Kummerwicht,
betrübt's doch mehr uns nur das Innenlicht.
Doch hör mein Wort, ich sag's Dir aus dem Grund,
so glaub's, Gesell, verfrüht ist unser Bund -
wie: war umsonst? - O Du, umsonst ist bloss,
was nicht um Sonst geschieht, liebfreudelos!
Hast Du Dich nicht in meinen Grund versenkt?
Hab ich Dir nicht manch Schöpferglück geschenkt? -
Geh, manche Wonne, still und unbewusst,
trägst Du, ein Keim von mir, in Deiner Brust.
War nicht umsonst, wuchs doch manch trutzger Trieb -
doch jetzt genug, geh, such Dir bessre Lieb!
Du brauchst denn doch was andres für Dein Mühn
als einen Berg, und mag er noch so blühn!
Brauchst Menschliches zu heimlichem Gebleib -
ja, Mann, zum Wurzeln brauchst ein Webeweib!
Ich hört Dich rufen jüngst: Für wen? Für wen?!
Ja, Freundchen, geh, geh miteinandergehn!
Jawohl, nur Tausch, nur innigliches Teil,
nur mitzuleben ist des Menschen Heil!
Fahr wohl, Gesell, und schaffst aus Zwei Du Drei,
heidie, komm wieder, bin da mit dabei!



Kommentar:
 
Das Gedicht ist offensichtlich im Wald von Arcegno entstanden, in den Felsen um seine Grotte hoch über Ascona, und zwar in der Zeit um 1903.
Gräser kommt ermüdet und enttäuscht vom Dorf (Ascona) in die Felsen zurück. Drei Monate lang hat er versucht, im Dorf die Glut seines Geistes zu entzünden, aber nur Wut geerntet; man hat ihn wohl hinausgejagt. Nun findet er Trost und Ermutigung in seinem Felsenhorst. Er spricht mit dem Berg, und der Berg spricht mit ihm. Allem Zielen nach Wirkung sagt er (durch den Mund des Berges) ab, erkennt, dass er nur zu sein hat wie Baum und Blume und Berg: ohne Warum und Wozu, ein Spieler und ein Tor. Der Berg, der zugleich ein Baum ist, lehrt ihn das große UmSonst, das absichtslose Werden, die Weisheit des Unbewussten.
Eben dieses Unbewusste aber sagt ihm, dass nun die Zeit seines Einsseins und Sichgenügens mit Berg, Baum und Fels zu Ende geht, dass es Zeit ist, sich ein Weib zu suchen und sich damit den Menschen auf eine neue Weise zu verbinden.
Einen Keim vom Berg, vom Bergbaum, trägt der Dichter fortan in seiner Brust und wird ihn im Lauf der Jahre kraftvoll entfalten zum Baum-bin-im-Baun und zum Wonnewunderkugel-Weltenbaum.