Deutscher Sonnwendsang

 

Heute singt's nicht, mein Lied, es schreit: Deutsche Jugend, es ist Zeit!

Lasst die Schachteln voll Geschichten den verpappten Bücherwichten!

Rüstet Euch, es naht ein Streit um des Menschen

Blütezeit.

Ha, wir wolln den Garaus machen dem altkalten Pappendrachen,

dessen Giftgekeuch die Welt dumpf und bang umfangen hält.

Sein Geheuchel pflanzt sich fort, heuchelkreucht von Ort zu Ort.

Froh zu hauchen, frei zu schauen, das verlernt man voller Grauen.

Man wird höflich, scheu, gescheut, wird ein blutlos zahmer

Leut.

Deutsche Jungen, nein und nein, das kann Lebens Sinn nicht sein!

Darum zeitig auf die Sohlen, eh uns die Vermittler holen,

eh der Ekel uns erkriecht, der so gerne Tinte riecht.

Zu das Pult, wohlauf zum Streit, unsre Losung:

Blütezeit!

Ha, das regt und rührt sich rum im verpappten Publikum:

Sätzefresser, Satzungsdrucker, Sittenschnüffler, Vorschriftschlucker

zittern um die Existenz, denn der Lenz kommt, huh, der Lenz!

Ja, er kommt und hetzet Hitz manchem in den Doktorsitz.

Theologen, andre Logen, kriegen's dick, dass sie betrogen,

schmeissen hin den Doktorhut, treten her mit frohem Mut:

So kommt uns noch Mensch heraus aus dem Civilisterhaus.

Kommt ein männlich Sprühn und Spriessen, kommt ein kräftiglich Geniessen,

Feigheit stirbt und uns gedeiht:

Gusto Gräser in Kronstädter Zeitung, November 1915


Und mehr:

Gusto Gräsers Blütezeit

Zug der Neuen Schar

Leuchtzeichen der Utopie

Das Wort „Blühtezeit“ taucht in Gräsers Werk, zeitlich datierbar, erstmals in seinem Deutschen Sonnwendsang auf, der am 29. Dezember 1915 in der ’Kronstadter Zeitung’ abgedruckt wurde. Sein Spruch „Aus der Blutzeit keimet uns Blühtezeit“ könnte besagen, dass die Wortwahl aus Gegenwehr zur „Blutzeit“ des Krieges getroffen wurde. Der oben gezeigte Siebdruck, leider undatiert, konnte aber auf eine frühere Verwendung schlieBen lassen. Dennoch ist klar erkennbar, dass das Wort erst seit 1915 für ihn in den Mittelpunkt rückt und zu einem Leit- und Zielwort seines Denkens und Dichtens wird. Mit der „kommenwollenden Blühtezeit“ hat er ein Bild für seine Utopie gefunden, das ihn bis zu seinem Lebensende begleiten und stützen wird - allen Enttäuschungen zu Trotz dann als „Dochblühtezeit“.

  

Im Jahre 1920 scheint Gräsers Hoffnung Wirklichkeit zu werden - im Zug der Neuen Schar, die von ihm inspiriert ist und von seinem Freund und Schüler Friedrich Muck-Lamberty geführt wird. Gräser selbst spricht an den Lagerfeuern der Schar, seine Gedichte flattern ihren Auftritten auf Flugblattern voran.

Einzug der Neuen Schar mit Muck-Lamberty (Mitte) in Eisenach, September 1920




Ihr Herrschaften alle in blutloser Macht, vorbei ist die Zeit eurer protzenden Pracht, vorbei die Zeit eurem rachigen Recht, womit unser Wohl ihr zerbracht, hah, noch brecht!
Doch nun kommt die andre, weit hinter dem Neid, die Glühenden, Frommen, die Herzhaften kommen und bringen mit Singen die
Blühtezeit!

*


Fegfieber, brenn!
Flamm los von unsrem Volkerwald
todfrostgen Habwahns Ketten,
bis geistdurchschauert,
geistgeballt


W i r


voll heimheitrer Stillgewalt,
dem Erdenstern,
dem Menschenkern
die Blühtezeit erretten!
*


Meine stille Hoffnung richtet sich auf die Jugend.
DaG sich einmal aus ihrer Mitte heraus die heilige Schar bilden wird, die mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes
ringt; die Schar, die uns erlost,
Ware diese Schar, dann ware ein Feuer in der Menschheit angezündet.
                                                                                          Georg Stammler: Worte an eine Schar, 1913


Gleich wie durch Adern stromt das frohrote Leben
walln unsre Wandrer auf der Pfade Gewirk,
als unser Blut, unser flüssig fleissiges Blut.
Sprengen herbei, wo Mensch in Gefahren ringet,
springen ihm bei, zur Blüh zu wenden die Müh.
Bringen und tragen der Freundschaft kostliche Früchte -
Boten der Freude, rennen sie durch das Land.
Wandern in Wonnen, wohnen im Wandern,
rühren das Eine in allem Andern,
wirken das Werk, das heilige Werk
nimmer erklart, immer bewahrt,
wirken das Herzwerk:

Die

REINIGUNG.
                                                                                                   Gusto Gräser, Mai 1919

Boten der Freude

Ganz Thüringen tanzt, als gabe es keine Sorge um die Zukunft.
Nicht einzelne Personen, sondern Tausende auf einem Platz.

                                                                                                  Eugen Diederichs, 1920

Thüringen tanzt! Lachle nicht darüber. Das Herz wird mutiger,
wenn es diesen jungen Willen spürt, aus der Natur heraus,
aus dem Schlichten, Reinen, Feinen heraus
...
Neues will werden.
                                                                                         Emil Fuchs, 1920

Mir begegnete Muck Lamberty mit seiner Schar in Thüringen ...
Mir schien es wie ein Kreuzzug der Frohlichkeit.
Jünglinge und Madchen machten aus tragen Kleinstadtern
im Handumdrehen lebendige heitere Menschengemeinden.
                                                                                 Werner Helwig

Es muss jetzt eine Zeit kommen, in der die Herrschaft der Dinge über das Leben der Menschheit aufhort,
und das Besitzrecht des einen über die Person des andern.
... Das Heldentum der Manner hat eine
Hochflut gehabt und ist abgeebbt. Jetzt muB ein Heldentum der Frauen kommen.
                                                                                                       Friedrich Muck-Lamberty, 1920

Das tanzerische Ritual war die von der Neuen Schar entwickelte Alternative
zum Klassenkampf und sollte die „Gemeinde“ als Form eines
nichtpolitischen Sozialismus prafigurieren.
...
Klassenhass und Bruderkampf der Revolution wurden durch
Predigt, Tanz und Volksspiel überwunden.

                                                                               Ulrich Linse, 1983

Wo immer die barfüBige oder in Sandalen einhergehende „Neue Schar“ auftrat,
strömten Tausende zu ihren Versammlungen und Tanzen, formierten sich Triumphzüge,
mussten Geistliche für Mucks Predigten und Gemeinschaftsgesange die Kirchen aufschliessen.
Seit den Tagen der Wiedertaufer hatte man in Deutschland derartiges nicht mehr erlebt.
Es schien, als dammere bereits das tausendjahrige Reich Christi herauf,
als sei das Neue Jerusalem greifbar nahe.

                                                                                     Walter Z. Laqueur, 1962

Da es mir beschieden war, etwas Grosses mitzuerleben, da ich das Glück gehabt habe, dem „Bunde“ anzugehoren und einer der Teilnehmer jener einzigartigen Reise sein zu dürfen, deren Wunder damals wie ein Meteor aufstrahlte ...
Zu jener Zeit, da ich dem Bunde beitreten zu dürfen das Glück hatte, namlich unmittelbar nach dem Ende des groBen Krieges, war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften . es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertauferische Kampfgruppen, es gab dieses und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder
hinzuweisen schien.
Den Vorschriften getreu lebten wir als Pilger und machten von keiner jener Einrichtungen Gebrauch, welche einer von Geld, Zahl und Zeit betorten Welt entstammen und das Leben seines Inhalts entleeren; vor allem gehorten dazu die Maschinen, wie Eisenbahnen, Uhren und dergleichen.
... Alle frommen Orte und Denkmaler, Kirchen, ehrwürdige Grabstatten, welche irgend am Wege lagen, wurden besucht und gefeiert, die Kapellen und Altare mit Blumen geschmückt, die Ruinen mit Liedern oder stiller Betrachtung geehrt, der Toten mit Musik und Gebeten gedacht.
Jeder von uns Brüdern, jede unserer Gruppen, ja unser ganzes Heer und seine grosse Heerfahrt war nur eine Welle im ewigen Strom der Seelen, im ewigen Heimwartsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat.
Unsere Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrundeliegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen nichtig erschien.
                                              
                                                                  Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt, 1930



Ha, wir wolln den Garaus machen dem altkalten Pappendrachen,
dessen Giftgekeuch die Welt dumpf und bang umfangen hält.
Zu das Pult, wohlauf zum Streit, unsre Losung:
Blütezeit!
Zu dem Tintenfass den Rachen, unsern Mund mal aufzumachen!
So kommt uns noch Mensch heraus aus dem Civilisterhaus.
Kommt ein mannlich Sprühn und Spriessen,
kommt ein kraftiglich Geniessen,
Feigheit stirbt und uns gedeiht:


                                                                 
                                                 Gusto Gräser in Kronstadter Zeitung, 29. Dezember 1915