Ida Herion tanzt auf der Stuttgarter Weissenburghöhe, 1926

Tanzavantgarde in Stuttgart

Das Teehaus auf dem Bopser als Bühne für Ida Herions Tanzschülerinnen
Fotos: Paul Isenfels aus dem Band „Getanzte Harmonien“

Das Erwachen des freien Körpers 

Der Stuttgarter Bopser als Monte Verità: Anfang des 20. Jahrhunderts zählte Stuttgart mit Ida Herions Schule zu den Zentren des Avantgarde-Tanzes

VON JULIA LUTZEYER

Die Kulisse steht noch, hoch oben auf dem Bopser, wie der Stuttgarter Stadtteil nach seiner Anhöhe heißt. Nur wenige Ausflügler, die durch den Weissenburgpark zum Teehaus pilgern und dabei am schmucken Marmorsaal vorbeikommen, dürften wissen, dass dieses Areal im Sommer 1926 Schauplatz einer ganz besonderen Tanzinszenierung war: Junge Damen und einige Herren führen in luftig leichten Hemdchen, kurzen Pluderhosen oder gänzlich hüllenlos eigenwillige Bewegungen aus. Barfuß stehen sie auf halber Spitze, die Knie leicht gebeugt, die Arme in die Natur strebend, die Hände zu Fäusten geballt oder angewinkelt. Mit ihren Posen im Profil erinnern die Gestalten an Vasenfiguren. Andere bebildern als figürliche Ornamente die Reliefs und Steinbrunnen der sie umgebenden Architektur. Und dann gibt es noch sprunggewaltige Luftgeister, gelenkige Yoga-Nackedeis und geradezu priesterlich gewandete Bubikopf-Gestalten in feierlicher Haltung.

Paul Isenfels: „Getanzte Harmonien“, Dieck & Co-Verlag, Stuttgart 1926

  Dieser eigenwillige Reigen wurde von Mitgliedern der Tanzschule Herion vollführt. Das dokumentiert der antiquarisch erhältlichen Bildband „Getanze Harmonien“ von Paul Isenfels. Der Fotograf schreibt in seinem Vorwort: „Naturhafte Anmut, knospende Entwicklung, junges starkes Menschentum, durch Kultur zur Kunst entzündet. Diese Kunst gab die Schule Herion: Schöpferische Kräfte aus dem Einfach-Menschlichen heraus entfacht und durch die ordnende Gewalt der Formen-Rhythmen emporgetragen zur Höhe künstlerischer Selbstgestaltung.“
Dass man solche Zeilen heute kaum noch lesen kann, ohne an die folgenschwere Verzerrung dieses junge Körperideals im nationalsozialistischen Welt- und Menschenbild zu denken, ist wohl der Hauptgrund, warum dieses Kapitel aus Stuttgarts Geschichte als Tanzstadt weitgehend in Vergessenheit geraten ist und mit damit eine ihrer eigenwilligsten Vertreterinnen: Ida Herion.

 Lange hat die Wiederentdeckung gedauert. Zunächst beschäftigte sich das vom Stuttgarter Produktionszentrum Tanz und Performance in Kooperation mit der TanzSzene Baden-Württemberg veranstaltete Festival „Tanzlokal“ 2013 mit dem tänzerischen Erwachen des freien Körpers im deutschen Südwesten. In ihrem Vortrag „Stuttgart und das Tanzerbe der Moderne“ attestierte die Tanzhistorikerin Claudia Fleischle-Braun der Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts ein „kulturfreundliches Umfeld“. Kunstsinnige Unternehmer wie Robert Bosch und Ernst von Sieglin hätten dazu genauso beigetragen wie Künstler, die wie Oskar Schlemmer weit über ihre eigenen Sparte Malerei hinausdachten, Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner, das Verlagswesen und ein neugieriges, offenes und kaufkräftiges Publikum.

Auch wenn es nahe liegt, im modernen Tanz einen Gegenentwurf zum klassischen Ballett mit seinem streng geregelten Bewegungskanon zu sehen, war er weit mehr als eine Bühnenkunst, gerade in Stuttgart. Er war Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, das nach dem von Industrialisierung geprägten 19. Jahrhundert die Natur als wohltuenden Ort der Regeneration feierte und den Menschen als Teil dieser Natur verstand. Luft, Licht und Bewegung: Das war die neue Therapieform für Körper, Geist und Seele, der man sich unter freiem Himmel hingab, in der rhythmischen Gymnastik, in der Freikörperkultur und im Tanz.

Ida Herion und ihre 1912 gegründete Tanzschule stehen für diese Philosophie. Die Tochter eines Tuch- und Garnhändlers genoss eine gute Ausbildung. Sie besuchte das

Mädchengymnasium Königin-Katharina-Stift, anschließend das königliche Konservatorium für Musik und kam durch einen Kuraufenthalt in der Schweiz mit der Lebensreformbewegung in Berührung. Einen weiteren Impuls für ihre spätere Arbeit erhielt Herion in der Berliner Gymnastikschule von Hade Kallmeyer mit Wurzeln zur Lehre des französischen Gesangs- und Schauspiellehrers Francois Delsarte. „Diese neue Richtung erfasst mich unwiderstehlich, ohne dass ich sie bewusst gesucht habe“, bekannte Herion, auch wenn sie sich bald daran machte, diese Körperschule tänzerisch zu erweitern.  

Im Oktober 2015 hat die freie Choreografin Nina Kurzeja der 1876 in Stuttgart geborenen Musiklehrerin und Tanzpionierin ein berührendes, wenn auch flüchtiges Denkmal gesetzt. „Ida Herion – Trace Back Session“ taufte Kurzeja ihre bewegende Hommage, in dem sie das Publikum in einem Parcours rund um das Teehaus mit anschließender Aufführung im Marmorsaal – und damit am historischen Schauplatz – auf Zeitreise schickte.
Und so zeigte sich der Stuttgarter Bopser für ein paar Abende erneut als Monte Verità, knapp 90 Jahr nachdem Paul Isenfels Schwarzweiß-Aufnahmen auf dem Anwesen des Fabrikanten, Antikenforschers und Kunstförderers Ernst von Sieglin entstanden sind. Mit diesem Vergleich rückt Rudolf von Laban in den Blick. Der zeitweise auch in Stuttgart und Mannheim tätige Choreograf und Tanzerneuerer machte den Tessiner Hügel Monte Verità zum Inbegriff einer neuen Körperlichkeit, die als Ausdruck der Seele in Dialog mit der Umgebung tritt. Ob in der Schweiz oder im Schwäbischen: Die Natur selbst wurde zur Bühne für Protagonisten, die sich nicht einschnürten, sondern ablegten, was der freien Entfaltung ihrer Körper entgegenstand.

Tanzavantgarde in Stuttgart

Die Tanzschule Herion existierte, mehrfach unterbrochen, von 1912 bis 1956. Ausgehend von der Rhythmischen Gymnastik des Franzosen Francois Delsarte und seinen Anhängern entwickelte die Gründerin Ida Herion in Zusammenarbeit mit dem Musiker Oskar Schroeter und zeitweise auch mit dem am Okkulten interessierten Pionier der Freikörperkultur Ernst Schertel ihre eigene Tanzsprache und tanzpädagogische Methodik. Zeitungsberichte belegen, dass ihre Schüler nicht nur vor Ort, sondern auch in Berlin, Köln, München, Leipzig und andernorts auftraten und Beachtung fanden. Zu Herions Schülerinnen zählte die spätere Gründerin des Telos-Studios Ursula Bischoff-Musshake. Mit Tanzangeboten für Gehörlose und ihrem der Tanzschule angeschlossenen professionellen Ensemble prägte sie Stuttgarts freie Tanzszene viele Jahrzehnte lang entscheidend mit.

Gemeinsam mit den Stuttgarter Tänzern Albert Burger und Elsa Hötzel beginnt der Künstler Oscar Schlemmer 1912 an den Entwürfen zu „Das Triadische Ballett“ zu arbeiten. Im Kriegsjahr 1916 werden drei Tänze im Stadtgarten aufgeführt. Die eigentliche Uraufführung erfolgte am 30. September 1922 im Kleinen Haus des Württembergischen Landestheaters in Stuttgart. An der tänzerischen Darbietung in drei Teilen wirkten zwölf Tänzer in 18 raumplastischen Kostümen mit. Schlemmer verfolgte damit die Idee, einen Dreiklang von Musik, Tanz und Kostümen zu erzeugen.

Der ungarisch-österreichische Choreograf, Tänzer und Tanztheoretiker Rudolf von Laban veröffentlicht 1920 im Stuttgarter Verlag von Walter Siefert sein erstes Buch „Die Welt des Tänzers“. Auch wenn von Laban nur kurzzeitig in Stuttgart lebte, eröffnete er hier ein Tanzstudio, in dem er unter anderem Kurt Joos unterrichtetet. Der aus dem Raum Aalen stammende Joos schrieb als Mitbegründer des Folkwang Tanzstudio in Essen Tanzgeschichte. In Stuttgart trug unter anderem die aus Berlin stammende Grete Breitkreuz die Ideen von Rudolf von Laban weiter.

Mit dem 1924 erbauten Eurythmeum auf der Uhlandshöhe, spielt Stuttgart auch für die Verbreitung des von dem Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner entwickelten Bewegungssystems eine wichtige Rolle. 1945 gründete Else Klink ein eigenes Eurythmie-Tanz-Ensemble, das sie bis 1991 leitete. (JUL)

Erschienen im „Wochenende – Das Magazin von Sonntag Aktuell“ der StZ und StN am 27./28. August 2016