Zwischen Utopie und Anarchie

Schau zu "Monte Verità"

Die Hippie- und Aussteiger-Bewegungen waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Novum. Bereits am Anfang des Jahrhunderts taten sich Menschen zusammen, um nach alternativen Lebens- und Wirtschaftsformen zu suchen. Und zwar in der Südschweiz, im Tessin. Unter dem Namen Monte Verità wurde dieser Ort der gelebten Utopie europaweit ein Begriff. Eine Ausstellung unter dem Titel "Monte Verità - Back to nature" im Florentiner Museo del Novecento erzählt die Geschichte dieses einzigartigen Projekts.

30. November 2021, 16:15    Ö1 Mittagsjournal     Radiothek 30.11.2021, 12.00 Uhr

Sie tanzten splitternackt. Mitten in der Natur. Sie streckten ihre Arme der Tessiner Sonne entgegen. Sie wälzten sich unter- und übereinander auf einer Wiese. Sie bewegten sich ausgelassen und ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Die Fotografien zeigen Tanzreformer Rudolf von Laban und auch die Tänzerin Isadora Duncan bei der Arbeit. Der Monte Verità wurde schließlich das Zentrum des europäischen Ausdruckstanzes.

Eines Tanzes, der Geist und Bauch miteinander verbinden sollte. Ganz im Sinn der Lebensreformer, die die Aussteiger-Kommune auf dem Berg oberhalb von Ascona gegründet hatten. Eine ganze Sektion der Florentiner Ausstellung zum Monte Verità ist der Kunstform Ausdruckstanz gewidmet, mit Fotografien und mit zeitgenössischen Filmaufnahmen.

Bakunin, Hesse oder Klee

Tanz, Freikörperkultur, geldloses Zusammenleben, Anarchie und freier Sex: die Florentiner Ausstellung präsentiert ein heute weitgehend vergessenes Lebensexperiment, das zwischen 1900 und 1920 europaweit für großes Aufsehen sorgte. Ausstellungskuratorin Chiara Gatti: "Die Kommune des Monte Verità war ein Ort, an dem Utopien zur Verbesserung des Lebens und der Überwindung anachronistisch empfundener Moral- und Lebensvorstellungen realisiert werden sollte. Wo aus Utopie Realität wurde."

Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, Anarchisten, Freigeister, Aussteiger aller Art ließen sich in selbstgebauten Hütten und Häusern nieder. Unter ihnen der Anarchist Michail Bakunin und Schriftsteller Hermann Hesse, der Philosoph Ernst Bloch, der Maler Paul Klee, der Komponist Richard Strauss und viele andere.

Naturheilanstalt

Dieses Lebensexperiment zwischen Utopie, Anarchie und Schaffung einer neuen Form des gemeinsamen Zusammenseins von Menschen durchlief verschiedene Entwicklungsphasen. Eine ganze Sektion der Ausstellung zeigt auf einem reich bebilderten Zeitstrahl diese einzelnen Phasen. Beginnend mit den Gründern des Monte Verità, unter ihnen die Musiklehrerin Ida Hofmann und der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven. Sie lernten sich bei einem Kuraufenthalt in Siebenbürgen kennen. Mit anderen zivilisationsmüden Gesellschaftskritikern gründeten sie schließlich auf dem Tessiner Berg oberhalb von Ascona eine so genannte "vegetable Cooperative" mit einer Naturheilanstalt.

Die internen Konflikte der immer größer und heterogener werdenden Lebensgemeinschaft führten zu immer neuen Wandlungen. Die Ausstellung zum Monte Verità versucht diese unterschiedlichen Entwicklungsphasen mit zahlreichen Objekten auf den Punkt zu bringen. Chiara Gatti: "Wir zeigen Koffer der Gründer der Kommune, selbstgebaute Möbel aus Ästen von dem Gründungsmitglied Gustav Gräser, Fotografien, auf dem Berg geschaffene Kunstwerke, Briefe, Tagebücher, Modelle der Wohnhäuser etc. Und dann zeigen wir auch Objekte aus der Bauhausphase, mit Möbeln von Marcel Breuer, der Gast auf dem Monte Verità war."

Bauhausphase

Die Bauhausphase wurde von dem deutschen Bankier Eduard von der Heydt eingeleitet. In der Phase des Niedergangs der Lebensgemeinschaft erwarb er den gesamten Berg und ließ dort 1929 ein Hotel im Bauhausstil errichten. Ein Hotel, unbestritten eines der schönsten der Südschweiz, das bis Kriegsende von Reichen und Schönen frequentiert wurden, die sich von dem inzwischen Legende gewordenen Monte-Verità-Mythos angezogen fühlten.

Die Ausstellung berichtet auch von der Wiederentdeckung der Geschichte der Aussteiger-Kommune durch den berühmten Schweizer Museumsleiter und Kurator Harald Szeemann. Die von ihm 1978 organisierte Ausstellung zum Monte Verità, die in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich gezeigt wurde und ein großer Publikumserfolg war, gab den alternativen Bewegungen der 1970er Jahre eine historische Grundlage.