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Im Weltnaturerbe Nationalpark Hainich

Station Gusto Gräser, gestaltet von Peter Stibane





Peter Stibane spricht bei der Einweihung der Gedenktafel am 17. April 2019







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Das Buchenherz im Hainich

Am 17. April 2019 wurde der „Pfad der Begegnung“ im Nationalpark Hainich eingeweiht. Der 7500 Hektar große Park, der zum UNESCO-Weltnaturerbe gehört, liegt am südlichen Rand von Thüringen, in einer Gegend also, die jahrelang ein Wirkort für den Freiwanderer und Waldverehrer Gusto Gräser und seine Familie war. Durch Thüringen war 1920 der von ihm inspirierte Zug der Neuen Schar gezogen, die tanzend und singend Zehntausende in ihren Bann zog und als „Kreuzzug der Liebe“ in die Legende eingegangen ist. „Revolution der Seele“ lautete ihre Losung. Hermann Hesse hat diesen „Aufbruch in das Reich einer kommenden Psychokratie“ in seiner Erzählung 'Die Morgenlandfahrt' als den ewigen Zug der Seelen in die Heimat des Lichts gedeutet. Grund genug also, an diesen prophetischen Dichter und Heiliger des Waldes zu erinnern. Peter Stibane, durch den Wandervogel geprägt und seine Geschichte erforschend, hat auf dem 3 km langen Pfad der Begegnung im Hainich eine Gedenktafel für Gusto Gräser gestaltet und aufgerichtet, die nicht von ungefähr sowohl die Form eines Buchenblatts wie eines Herzens aufweist. Ein Herzblatt in Holz, in das der Dichter mit langer Hand einige seiner Herzworte eingeritzt hat.

Ohne Dein Entgegenkommen
kann mein Kommen Dir nit frommen.
Sinnst, sehnst, träumst Du auch
um des Freundes Wunderhauch?
Horchst Du, spähst Du auch ins Land:
Kommt wohl Einer, geistgesandt?
Naht ein Wandersmann – herfür!
Öffne selbst des Hauses Tür!
Oder aber - halt dich stolz
und - - -  verholz!
*

Gusto Gräser - grüner Prophet aus Siebenbürgen

Mancher kann ein Liedel singen von durchgrauster Schulezeit - heute wird auch meins gesungen, spitzt die Ohren, liebe Jungen, denn Euch ist mein Lied geweiht.
Eh Euch frisst der Anstaltsjammer auf der engen, langen Bank, in der Formelfolterkammer - horcht, gehorchet meinem Sang!
Die Natur hat ihn gerettet. Als der Fünfzehnjährige unter der Fuchtel der Lehrer stand, unter dem Druck der Schule, Prüfungen nicht bestand, schlechte Noten nach Hause brachte, da flüchtete er in seiner Not sich in den Wald.
Wenn in ihrem Frühlingskleide draussen jubelte Natur - an die Tafel mit der Kreide musst ich arme Kreatur.
Musst mit bangen Seelenqualen sagen, was mein Herz nit wusst, bleiche Ziffern, graue Zahlen musst ich da ins Schwarze malen, und zum Roten glühte Lust!
Aber Herzfarb war verboten, ward gescholten, war die Schuld.
Und nach alten kalten Noten, nach Geschichten, nach den Toten musst ich treiben Totenkult. ...
Endlich schwänzt ich in die Wiesen, nach dem Bächlein, in den Wald:
Da gab’s keine „Analysen”, da bekam mein Geist Gestalt - da entschied ich: Hol’s der Geier!
Und - so - ward - ich - frei - und - freier.
Endlich fiel ich aus den Krallen, denn ich hatte noch Gewicht - endlich bin ich durchgefallen ...

Eine Grunderfahrung, die seine Zukunft bestimmte. Das Durchfällen und Durchbrennen wurde ihm zur Lebenslosung. Die Grundmelodie war ange­stimmt: Nicht in der Kultur - in der Natur finde ich mein Heil. Er hat dann das Durchfallen und Durchbrennen fleissig geübt. Bei mehreren Lehrmeistern, an der Kunstgewerbeschule in Wien, schliesslich sogar bei einem Meister, der selbst Naturapostel war, bei dem Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach. Auch aus dessen Humanitas-Gemeinschaft auf dem Himmelhof bei Wien - einer alternativen Künstlerkommune - flüchtete er nach wenigen Monaten. Damit war freilich schon eine neue Stufe erreicht: Natur allein (in einem äußeren Sinn als Licht, Luft, Sonne, Grün) genügt nicht. Es muss hinzukommen die Freiheit des Selbst. Die innere Natur: der Drang, der aus mir heraus will, die Stimme des Herzens. Beides verbindet sich unauflöslich in seinem Denken und Dichten. Das macht seine Eigenart aus.

Naturdichter gibt es zu Tausenden. Das Schwärmen in Mondschein-, Waldes-, Meeresstimmungen gehört zum Grundbestand aller Lyrik ebenso wie die Beschreibung von Landschaften, Gewächsen, Wanderungen und Wetterlagen. Aber Gusto Gräser ist kein „Gräserbewisperer“, auch wenn sein Name dies nahelegt. Er ist kein Stimmungsdichter (aufs Ganze gesehen) und kein Landschaftschilderer. Natur ist ihm fast immer ein Gegenbild zur (damaligen, in überholten Traditionen erstarrten) Kultur. Natur ist ihm Programm, Fanfare, Kampfruf. Zuerst und zunächst aber Erlebnis einer Befreiung.

Hinter mir der Stuben Staub - Leben! frisches Leben!

Dieser Jubelruf geht durch viele seiner frühen Gedichte. In der Bergwelt des Tessin zumal, in der kaum berührten Wildnis zwischen Felsen, kleinen Seen, Wasserfällen, Farn- und Kastanienwäldern, atmet er auf.

In die Wildnis sinnt mein Sehnen, wo frohrohes Leben quillt ...

Er wird ein Sänger und Lobredner der Wildnis. Nicht aus Schönheitsgenuss allein, sondern weil sie die Wildnis der eigenen Seele weckt, das Unbewusste in ihr, das Verdrängte und Verschlossene. Wildnis ist Therapie - für ihn selbst zunächst, dann aber als Botschaft auch für seine Mitwelt, für die Gesellschaft, für unsere Kultur. An der Wildnis kann sie genesen, zu ihrer eigenen inneren Natur zurückfinden. Darum gilt es nicht nur, sie zu erhalten, es gilt - und das ist seine eigenste Aufgabe -, sie ins Wort und ins Bild zu bringen.

Gräser ist freilich nicht so blind, den Wert der Kultur zu leugnen, er will sie nicht zerstören. Er will „Bildung und Wildung trauen“, d. h. Natur und Kultur
versöhnen, verbinden, verschmelzen. Unsere - traditionell und aktuell naturfeindliche - Kultur muss naturfromm werden. Sie muss ein neues Gesicht gewinnen, ein neues Ethos. Darin sieht er seine Aufgabe, das ist seine prophetische Berufung.

Welt - wer kann dich wie dein Hochwald loben
in der schauerschönen Sommernacht,
dieser duftvoll funkelsternereichen
Wandernacht voll deiner Wunderzeichen?

Helle spür ich meinen Mut entfacht!

Heilge Speise hast du mir gespendet,
als dein Bote heute ausgesendet
ward ich, künden deine Waltemacht ...

Und weniger romantisch, dafür deutlicher, nüchterner, härter in späteren Jahren:

Sag, wollen wir um Herrschaft-Bombast weiter wüten, wetten -
oder den Wald mit aller Erd, des Erdsternmenschseins
heitre Würde retten - ???

Allso: Aus allem Stückwerk zu dem großen Ganzen,
aus allem Wirrwarr in die Reihe tanzen!?

Er ist wirklich ein Apostel der Natur. Und dies nicht nur in Worten sondern in seinem ganzen Tun und Trachten. Zum Beispiel in seiner eigenartigen Tracht, die allen bürgerlichen Gewohnheiten ins Gesicht schlägt, ihn gesellschaftlich isoliert aber auch heraushebt: als einen wieder lebendig gewordenen „Rübezahl“, als Waldmenschen und Waldgeist, als den sprichwörtlichen „Naturmenschen“. Als solcher predigte er auch ohne Worte, war Wald und Wildnis in eigener Gestalt, erschreckte den in seiner Uniformierung gefangenen Bürger.

Die Jugendbewegung

Mit den Wandervögeln war das eine andere Sache. Die hoben ihn früh auf ihren Schild, jedenfalls ihr progressiver Teil. Schon 1907 sah ihn ein Roman „im Übergang zur Prophetenrolle“ (Gustav Naumann: Vom Lärm auf dunklen Gassen). „Wahrlich, ein Wegweiser und Prophet, den wir brauchen!“ schrieb Johannes Schlaf. Und der Wandervogelführer Walter Hammer pries ihn 1912 in seinem Nietzschebuch: „Ich will Dir einen Namen nennen, dem Du als Wandervogel schon begegnet bist: Gusto Gräser. Ein ganzer Kerl! ... Gräser ist einer der wenigen urwüchsig schaffenden Dichter unserer Zeit, ein Prachtmensch im Sinne Nietzsches“ (Walter Hammer: Nietzsche als Erzieher. Leipzig: Hugo Vollrath, 1914. S. 43f.).

Seine Gedichte erschienen als „Wandervogelfutter“ in den Blättern der Jugendbewegung. Friedrich Muck-Lamberty gründete einen „Freundeskreis für Gusto Gräser“, dem u. a. auch Hans Paasche angehörte. Als Gräser aus Sachsen wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ - er hatte seine zweijährige Tochter nackt fotografiert! - aus Sachsen ausgewiesen wurde, behängten die Leipziger Wandervögel (Erich Matthes, Rudolf Mehnert u. a.) seinen Wohnwagen mit Korsetten und Büstenhaltern und begleiteten ihn so mit Klampfenklang und Hallo bis zur Stadtgrenze. In Jena gab es eine Protestausstellung zu seinen Gunsten und bekannte Persönlichkeiten wie Richard Dehmel, Arno Holz, Ferdinand Avenarius, Hans Thoma und Gerhart Hauptmann setzten sich für ihn ein.

Nachdem er 1912 auf seiner Deutschlandfahrt im grünen Planwagen in Berlin angekommen war, fand er schnell Freunde im Aufbruch-Kreis um Wyneken und Landauer. Die protestierten dann 1915 gegen seine Ausweisung aus Deutschland. Einer von ihnen, der Wandervogelführer Jakob Feldner, Sohn des gleichnamigen Fidusfreundes, ging 1916 illegal in die Schweiz, um im Auftrag der Berliner Freistudentenschaft Friedenskontakte mit dem „feindlichen“ Ausland zu knüpfen. Er besuchte Gusto Gräser und Romain Rolland, wurde Mitarbeiter von Ernst Bloch bei der Freien Zeitung, dann Akteur in der Münchner Revolution. Seine Kampfschrift gegen die Militarisierung der deutschen Jugend - Deutsche Jugend und Weltkrieg’ - wurde von der Heeresleitung sofort beschlagnahmt und vernichtet. Dieses Dokument des Widerstands ist bis heute selbst in der Geschichte der Jugendbewegung unbekannt geblieben. Vom Monte Verita schrieb er am 16. September 1916 jubelnd an den in seinem Vaterland zum Tode verurteilten Romain Rolland:

„Wie könnte man es nur laut, meilenweit schreien? ... Das Deutschland, das von dieser Jugend und diesen Gedanken getragen wird, ist nicht tot. Es lebt! Es lebt gesund! ... Das kommende Deutschland wird durch uns, durch die deutsche Jugend, durch den trotzig übriggebliebenen Rest nicht Totgeschossener frei werden. ... Noch gibt es Leute, die für ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit, ihre freie Erziehung zu kämpfen wissen. Kämpfen ohne eisernes Kreuz, ohne Ehrenlegion, aber kämpfen im Lichte einer besseren, kommenden Zeit. Kampf gegen den Krieg: das ist es, was wir wollen und predigen.“ (Romain Rolland: Zwischen den Völkern, Bd. II, S.380)

Er hatte Gusto Gräser getroffen und vermutlich auch dessen Freund Hermann Hesse. Gräser war erst wenige Tage zuvor aus der Gefangenschaft in Siebenbürgen zurückgekehrt, wo er wegen Kriegsdienstverweigerung er­schossen werden sollte, dann aber ins Irrenhaus gesteckt worden war. Um ihn sammelten sich Kriegsgegner aus ganz Europa: Ernst Bloch, Hans Arp, Hugo Ball, Klabund, Emmy Hennings, Claire und Ivan Goll und andere. Ascona wurde eine Zitadelle des Widerstands gegen den Krieg, zugleich ein Zentrum der oppositionellen Künstler: Die Dadaisten feierten dort ihre Feste zusammen mit den Tänzern und Reformern vom Monte Verità. Höhepunkt wurde das „Sonnenfest“ von 1917 vor der Felsgrotte Gusto Gräsers, ausgeführt von seinen Tänzerfreunden Rudolf von Laban und Mary Wigman. Durch sie und Isadora Duncan wurde der Berg zum Geburtsort des Ausdruckstanzes. Durch Mary Wigman wurde er als „modern dance“ in der ganzen Welt bekannt.

Ein Stützpunkt dieses „anderen Deutschland“ war das Haus Neugeboren in Monti über Locarno. Die Besitzerin gehörte dem Bund der abstinenten Wandervögel an, verehrte Hesse und lud ihn und andere Pazifisten - Gusto Gräser, Ernst Bloch, Klabund - als Gäste in ihr Anwesen. Hesse war schon 1907 ein Jünger des Siebenbürgers geworden, hatte mit ihm in seiner Felsgrotte zusammengelebt. Unter dem Druck des Krieges vertiefte sich ihre Freundschaft. Gräser wurde zum Vorbild für Hesses Meistergestalten von ,Demian’ bis zum ,Glasperlenspiel\ In der Flugschrift ,Zarathustras Wiederkehr’ von 1919 legte er seinen nach Deutschland zurückkehrenden Freund den Wandervögeln ans Herz, ihnen, die „alle im Beginn ihrer Jugendzeit in Zarathustra den Propheten und ihren Führer gesehen“ und über ihn gesprochen hatten „auf ihren Wanderungen in Heide und Gebirg, und in nächtlichen Zimmern bei Lampenschein“ (GW X,467).

Aber nur Wenige verstanden, wer mit diesem „Zarathustra“ gemeint war. Zu diesen Wenigen gehörte sein Freund Muck-Lamberty. Der brach 1920 mit einer „Neuen Schar“ von fünfundzwanzig jungen Männern und Mädchen zu einem Wanderzug durch Thüringen auf. Mit Tanz, Spiel und Gesang sollten die Menschen aus ihrer Routine gerissen und in das „festliche Dasein“ (Laban) geführt werden. Zehntausende schlossen sich ihnen an. Gräser sprach an ihren Lagerfeuern. „Ganz Thüringen tanzt!“ schrieb fasziniert Eugen Diederichs. Als aber Muck mit zwei Frauen zugleich Kinder zeugte, da schlug die klassische Moralklappe zu - Muck wurde aus Thüringen ausgewiesen, Gräser verhaftet, die Schriften über diesen „Kreuzzug der Liebe“ (Lisa Tetzner) und „Kreuzzug der

Fröhlichkeit“ (Werner Helwig) wurden aus den Archiven der Jugendbewegung entfernt, Muck und Gräser für Jahrzehnte tabuisiert. Dafür wurde der Zug der Neuen Schar durch Hermann Hesse als „Morgenlandfahrt“ ins dichterische Gleichnis, ja in den Mythos erhoben - als ein „Blumenfest“ der „untrennbar vereinigten Brüderschaft“ vom Monte Verita (GW VIII, 347), als ein „Zug nach Osten“ (333), in die „Heimat und Jugend der Seele“ (338), als eine „Welle im ewigen Strom der Seelen ... nach Morgen, nach der Heimat“ (329). „Revolution der Seele“ war der Kampfruf der Neuen Schar gewesen.

Ein anderer Vorstoß ging von Berlin aus. Wandervögel aus dem Aufbruch-Kreis unter Führung von Hans Koch ließen sich von dem Monteveritaner Oskar Maria Graf nach Bayern locken. Graf verschaffte ihnen das Geld zum Aufbau der Landkommune Blankenburg. Doch auch dieses Experiment wurde - trotz der Fürsprache einer geistigen Elite - polizeilich unterdrückt.

Ein dritter Vorstoß ging von Stuttgart aus. Die Gräserfreunde Willo Rall und Hermann Bühler, zwei Maler, gründeten die Künstlersiedlung „Freistatt“ im Schwäbischen Wald. Folgesiedlungen umfassten zeitweise bis zu hundert Mitglieder. Mit ihnen verbunden gründete Albrecht Leo Merz die freie Kunstschule Merz, aus der die heutige Stuttgarter Hochschule für Gestaltung hervorgegangen ist.

Nach Aufenthalten in der Schweiz und in Dresden kehrte Gräser 1926 nach München zurück, wurde aber sofort verhaftet und sollte als „staatsgefährlicher Rumäne“ aus dem ganzen Deutschen Reich ausgewiesen werden. Durch die Fürsprache von Thomas Mann und anderer prominenter Schriftsteller - „Dieser Mann ist reinen Herzens und liebt Deutschland“ (Mann) - konnte Gräser dann wenigstens in Preußen bleiben, in Berlin. In monatelangen Redereihen warnte er 1928 vor dem heraufziehenden NS.

Groß kann ein Volk nur in der Tiefe werden / ... Stell dich nicht hoch, o Volk, sonst muss dich Neid zernichten, / halt klein, halt tief, so wirst Du - bist Du groß. / ... Weil es sich unten hält, wird’s Unterhalt und frohe Kraft und Nahrung vielen Völkern.

Sein Schwiegersohn sollte eine Tagung der Artamanen beobachten. Dessen Bericht von Pfingsten 1929 war eindeutig: „Stahlhelm, Wotansgläubige, Jugend­Turnerbund u.s.w., also, ich will es mal so ausdrücken: ,säbelrasselnde Jugend!’, Das Wort ,Rache’ das oft ausgesprochene Wort. Ich habe darunter gelitten, wie ich am Pfingstfeuer die vielen Racheschwüre mit anhören mußte. Nicht auszudenken, was wird, wenn sich diese Gedanken vermaterialisieren sollten. ... Gut war die Tagung, indem man sah------- so geht es nicht ... Nicht Rache sondern Liebe !

Die Massen aber liefen dem Trommler zu. Gräser, in dessen Versammlungen die jungen Leute mit Schillerkragen und langem Haar saßen, „überhaupt Menschen, die aus den verbittertsten Kreisen des Proletariats stammen, (manche der langhaarigen Gestalten trägt das Abzeichen der zerbrochenen Gewehre der Kriegsgegner)“ (Karl Otto Paetel im Deutschen Tageblatt, 5. Januar 1928), verlor nach und nach seine Zuhörerschaft. Er entschliesst sich, da er kein Gehör mehr findet, zu einer symbolischen Aktion: „Er hat vor, Eselskarren anschaffen, durch die Lande ziehen“ (Brief von Henri Joseph vom 4. 2. 1930). Und das tut er auch. Mit einem jungen Freund, Otto Großöhmig, unternimmt er die Eselfahrt durch Deutschland. Sie endet 1933 im KZ (Mitteilung des mit Großöhmig befreundeten Paul Buscher). Nach dem Krieg setzten Großöhmig und Buscher die Fahrt mit dem Eselwagen fort. Wieder hieß ihr Eselchen Fanny und wieder verbreiteten sie die Schriften von

Gusto Gräser. Ein Sohn von Gusto und ein Sohn von tusk und ossy - sie hatten sich gefunden. „Wie einst Hermann Hesse zu Füßen Gusto Gräsers, in jener Wohnhöhle am Fuße des Monte Verita bei Ascona, seine Straßen sah, auf denen er wandern und wandeln müsse, so saßen wir damals zu Füßen ,ossy’ Beckes, in seinem Grünen Bunker am Waldberg hinter der Glör“ (Paulus Buscher: Das Stigma, 215). Auf den illegalen Flugblättern der Widerstandsgruppe um Buscher finden wir Gusto Gräsers Haus- und Heilszeichen: den Fünfstern, das Pentagramm. Großöhmig wurde 1979 ein Mitbegründer der „Grünen“.

Gräsers Tochter Gertrud hatte 1930 mit Henry Joseph und dem Maler Max Schulze-Sölde die Landkommune „Grünhorst“ vor den Toren Berlins gegründet. Sie wurde zu einem Treffpunkt der Wandervögel und der Biologischen Bewegung um den Biosophen Ernst Fuhrmann. An Pfingsten des selben Jahrs lud Schulze-Sölde zu einer „Religiösen Woche“ nach Hildburghausen ein: „In unheimlicher Weise mehren sich die Anzeichen des drohenden Chaos in unserem Volke“ (Aufruf). Die freireligiösen Kräfte jeder Art sollten sich in einem „letzten Aufgebot“ verbünden mit den freischwebenden, linksliberalen Sozialisten und „die große Einheit im Inneren finden“, nicht zuletzt in ihren gemeinsamen „ökologischen“ Überzeugungen. In ihrer Zeitschrift ,Der Dom’ von 1930 lesen wir die Namen dieser frühen rot-grünen Koalition: Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Karl Otto Paetel, Muck-Lamberty, Henry Joseph, Max Schulze-Sölde, Gusto Gräser und andere. Die Biosophen hatten ihr Organ in der Zeitschrift ,Gegner’, zu deren Herausgebern Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Franz Jung und Harro Schulze-Boysen gehörten. Hugo Hertwig, ehemaliger Spartakist und Landkommunarde, schreibt am 17. 11. 1935 in sein Tagebuch: „Je mehr die Massenbewegungen wachsen, desto mehr interessiere auch ich mich für die Einzelgänger - die letzten Wilden - Vertreter der Wildnis - oder besser: Bekenner der Wildnis. ... Leider gibt es für uns, sobald wir bekannt werden, nur Naturschutzparks = Konzentrationslager.“ Und am 29. 7 1936: „Heute kam auf diesem Wege z. B. der alte Gräser zu mir ... ein guter Kerl mit wirklich menschlichem Empfinden. . Er sieht wie ein alter gutmütiger u. abgelebter Indianer aus - viel Aufsehen. Alle Leute bleiben stehen“.

Für diese Leute war die Siedlung Grünhorst ein Stück konkrete Utopie gewesen: ein Modell, ein Ort der Gespräche und der Zusammenarbeit. Als Otto Groß- öhmig, aus der Haft entlassen, 1936 nach Grünhorst zurückkam, um Gräser aufzusuchen, fand er nur noch verkohlte Reste vor. Grünhorst war abgebrannt.

Die Naturpropheten

Nun mag man fragen: Was hat dies alles mit dem Naturerlebnis der Jugendbewegung zu tun? - Sehr viel. Denn am Beispiel Gusto Gräsers zeigt sich: Nicht die Jugendbewegung, wohl aber die Naturpropheten hatten ein klar umrissenes, praktikables und gesellschaftlich relevantes Bild von „Natur“. Und sie haben damit wesentlich auf die Jugendbewegung eingewirkt.

Die Naturpropheten: damit ist der Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm Diefenbach gemeint und seine Schüler Johannes Guttzeit und Gusto Gräser. Am Rande und mit Abstrichen auch der Maler Fidus. Sie begnügten sich nicht mit gefühliger Naturromantik, ihnen ging es um einen radikalen Umbau unserer Kultur. Und dies auf allen Gebieten des Lebens: Ernährung, Kleidung, Wohnen, Sexualität, Wirtschaft, Gesellschaft, Staat und Religion. Ihr Grundimpuls: Schonung alles Lebendigen, deshalb kein Töten ohne Not, keine Kriegs­beteiligung.

Die Naturpropheten gehörten nie offiziell der Jugendbewegung an, aber sie haben sie, direkt und indirekt, zu ihren besten Taten beflügelt. Die Tagung auf den Hohen Meißner von 1913 war eine Initiative der Lebensreformer unter den Wandervögeln, und ihre Gesinnung hat sich in der berühmten „Meißnerformel“ niedergeschlagen. Wohl möglich, dass im Hintergrund Gusto Gräser der eigentliche Stichwortgeber gewesen war, durch seine mannigfachen Begeg­nungen mit Wandervögeln in den Jahren 1911 und 12. So war es selbst­verständlich, dass er auf dem Berg erschien und redete, umringt und bewundert von den rebellischen Geistern unter den Jungen: Kurella, Mehnert, Hans Paasche, Muck, Walter Hammer. Hammer hatte schon 1907, als Neunzehnjähriger, über den Monte Verità geschrieben, Hans Blüher hatte dort 1908 sein Erweckungserlebnis gehabt. Muck-Lamberty war seit 1907 mit Gräser befreundet, ebenso Georg Stammler. Dessen im Geiste Gusto Gräsers verfasste Mahnschrift ,Worte an eine Schar’, wurde nach dem Krieg, zusammen mit ,Zarathustras Wiederkehr’, das Grundbuch für die Neue Schar von Muck. Über den Einfluss, den Fidus auf die Jugendbewegung hatte, muss man keine Worte verlieren. Am stärksten jedoch war die Wirkung von Hermann Hesse, der in seinen Büchern den namentlich ungenannten Freund in vielfältigen Variationen der Jugend vor Augen stellte. Wie Fidus malerisch das Kultbild einer ganzen Generation geschaffen hat, so Hesse literarisch. Der Sonnenwanderer, Naturbursche und Lichtanbeter - er steht noch am Ende des ,Glasperlenspiels’.

Gräsers Natur-Religion

Gräsers Naturbild hat wenig mit Stimmung zu tun, umsomehr mit Denken und Schau. Er wendet sich kritisch gegen die Naturfeindschaft sowohl der christlich­platonischen wie der modernen technisch-wissenschaftlichen Tradition.

Berechnet ihr’s? - Dass ihr’s nit brecht!
Leben folgt keinem Ziffernknecht.

Seine Dichtung schafft einen neuen Mythos. Natur ist nicht im Begriff zu fassen, sie ist fühlend zu ahnen in Bild und Gestalt. In mütterlicher und polarischer Gestalt.

Urwesen des Lebens, Allmuttergeduld,
das pflechtet uns, fern aller pflichtigen Schuld,
fern allem Zählen und Zielen,
hinein ins gewaltige Spielen
O Menschenkind im Sternweltenschoß ...

Es ist nicht die barmherzige Mutter Maria, die er beruft, nicht die grausame Kali-Durga und auch nicht die vielbrüstige Diana von Ephesus. Keine Fruchtbarkeits- und keine Gnadengöttin. Gräser schafft ein neues, ein modernes Bild der Allmutter: Sie warnt und schützt vor der Verführung in kalte Wissen­schaft, in „Ratzrationalität“.

"Herein, herein,”
ruft ’s Allmaidmütterlein ...
in ihrer Hütten mitten in der Welt wildwonnig wohnend,
all Krumb und Krank zu junger Schöne schonend, bis wiederwohl
es ihr ins Herz gefällt!
Hei, wie das biengleich aus-ein-tänzeltummelt,
allsingsangseelig immersammelsummelt - ein Tausendsaus,
ein sommerduftig urfideles Haus!
Nur angepocht!

„Herein, herein,
Ihr gwissensbissig Wissenschaft-Verirrten!
Lasst hier uns mal, fern Hirnverbranntheit Quaal,
mit Wesenssaft, mit Lebensfrucht bewirten,
mit Mahl, mit Mahl!“

Seine Muttergestalt hat viele Namen. Er nennt sie „Urgroße Mutter“, „Mutter Not“, „Mutter Treu“, „Allweltmutter“, „Allweltmütterlein“, aber so gut wie nie „Mutter Natur“. Der geläufige Name „Mutter Natur“ bezeichnet die Außenwelt. Seine Urgroße Mutter ist Innenwelt und Außenwelt und Überwelt: ist Ethos, Eros und Kosmos zugleich. Sie ist auch Wahrheit, von der gesagt wird:

Immer ruft sie alle ihre
Kinderlein tiefheim zu sich,
dass sich keins in Trug verliere,
keins in Gscheitelkeit erfriere -
Menschenkind,
auch dich, auch
Dich!

Ein anderes Symbol für sein mütterliches und polares Weltbild ist der Weltenbaum oder Lebensbaum. In seiner Gestalt entfaltet und schließt sich Welt und Bewusstsein in immerwährendem Kreislauf: vom Samen zum Baum, vom Baum zu Samen; aus der Einheit in die Vielfalt, aus der Vielfalt in die Einheit.

Lebt doch imgrund
nur - eine -Welt,
tief, still, gewaltig, vielgestaltig
in einen
Wonnewunderkugel-Weltenbaum
gesellt,
der zweiget, dreiet, wirbeldreht,
hah, trilliont, sich trennt, sich paart,
sich hasst, sich liebt, heissfeurig freudger nur
zusammenwandelwohnt im Sam, Allhochzeitsam,
Urfreunds Paarheiterkeit!

In seinem Bild des Weltenbaums hat Gräser ein Mantra geschaffen, ein Meditationsbild, das den lesend Rezitierenden wieder einfügt in das Ganze des kosmischen Prozesses. Es ist ein Weg der Einigung mit dem All, ein „Allweltvermählungssang“

Von einem „Naturverhältnis“ möchte man in seinem Fall kaum noch sprechen. Hier geht es um das Verhältnis des Menschen zum Ganzen, damit letztlich um Religion. Er spricht deshalb - dichterisch, nicht als Prediger - von „Erdsternreligion“. Sein Suchen nach dem Grund der Natur hat ihn erst zum Selbstgrund und dann zum Urgrund geführt. Gräser ist Mystiker. Seine Bildsprache ist aber nicht die des Kreuzes oder anderer traditioneller Chiffren sondern die des Baumes und des Waldes. Er ist - als „Baumgeist“, „Waldgeist“ und „Weltwirt“ - ein Mystiker der Natur.

Heihoh, Baumgeist - fideles Haus, bau s'Notnest, bau's!
In knorrgen Kronen, in der Armut Schoß, wie arm so warm, so
wunder-wunne-groß, drein unsres Heiteren Glückvöglein horsten,
umwogt, umwallt von Grüngoldseligkeit,
draus Urdung fällt, draus Ursam fällt, der Felsensprenger,
der, wie er Stein geborsten voll Stillgewalt,
mit Wonne birst den lumpigen Asphalt - - -
„Ping pink Triuring“ - grüßt schon ein Vögelein - ! -
Hei, glückhaft Ding!

Sein Baumgeist sprengt den Asphalt, sprengt den Beton einseitiger Verstandes­besessenheit und öffnet die Lichtung zum Geist.

Die Wissenschaft hat unsere Welt verändert, hat einen früher nicht vorstellbaren Reichtum und Komfort geschaffen. Eine Sinngebung des Lebens, wie sie einstmals die Religionen geboten haben, kann sie nicht bieten. Die Religionen ihrerseits sind in überholten, wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Weltbildern befangen. In der Dichtung Gusto Gräsers, die Ursymbole der Menschheit neu belebt - den Weltenbaum, die Heilige Hochzeit, das Heilige Mahl, die Große Mutter, den Wirweltreigen, die Weltmusik - , und zwar in der Sprache und im Geist unserer Zeit, in dieser seherischen Dichtung wird ein Gegenbild aufgerichtet zu den naturzerstörerischen Kräften in Vergangenheit und Gegenwart.

In seiner Dichtung geht es um mehr als ästhetischen Genuss, um mehr als Kunst. Er will nicht unterhalten sondern umgestalten - unsre Welt, zuallererst aber uns selbst.

Sag, wollen wir um Herrschaft-
Bombast weiter wüten, wetten - oder
den Wald mit aller Erd,
des Erdsternmenschseins heitre
Würde - retten?!
Allso:
Aus allem Stückwerk zu dem großen
Ganzen, aus allem Unfug in die Reihe
tanzen???
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