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Die Künstlerkolonie als Sehnsuchtsort
 
Natur, Kreativität, Gemeinschaft - das sind die fast unvermeidlichen Assoziationen beim Wort "Künstlerkolonie". Eine Ausstellung im
Landesmuseum Hannover widmet sich nun dem Rückzug der Künstler aufs Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zeigt, dass dies keine deutsche Erscheinung war, sondern ein Phänomen in ganz Europa.
 
"Heimat" im Landesmuseum Hannover 2016 - Sendung des NDR
"Heimat"-Motive aus Künstlerkolonien


Barbizon, Jules Dupre: "Der Teich" (1868, Öl auf Leinwand, 85 x 81 cm) - Das Waldgebiet von Fontainebleau wurde in den 1830er-Jahren von Künstlern entdeckt und bot mit seinen uralten Baumriesen Motive für die Freilichtmalerei. Sie hielten die Ansichten in kleinformatigen Gemälden, den "paysages intimes", fest. Der Mensch wird dabei harmonisch in die Natur eingebettet. Die Mutter aller Künstlerkolonien, wegweisend für die Verbreitung der Bewegung in ganz Europa, war geboren.


Laren, Anthonij 'Anton' Mauve: "Schäfer mit seiner Herde" (Öl auf Leinwand, 38,6 x 66,5 cm) - Die Künstlerkolonie Laren gilt als das "Land Mauves". Mit Darstellungen der umliegenden Heidelandschaften und Schafherden machte der Künstler den nordholländischen Ort populär.

St Ives, Robert Borlase Smart: "Morgenlicht, St Ives" (1922, Öl auf Leinwand, 64 x 105,5 cm) - In Großbritannien war es vor allem die Abgeschiedenheit Cornwalls mit seinem urwüchsigen Charakter, die zahlreiche Künstler anzog. In Küstenstädtchen wie Newlyn, St Ives und Falmouth entstanden in den 1870er-Jahren die bedeutendsten britischen Künstlerkolonien.

Skagen, Peder Severin Kr0yer: "Sommerabend am Südstrand von Skagen. Anna Ancher und Marie Kr0yer" (1893, Öl auf Leinwand) - Fasziniert von den hellen nordischen Sommernächten mit ihrem besonderen Licht bannt der Maler den Spaziergang seiner Frau Marie und Anna Ancher am Südstrand von Skagen während der "blauen Stunde" ins Bild. Beide Frauen waren selbst Malerinnnen.

Dachau, Adolf Hölzel: "Mädchen mit Schubkarre" (um 1895, Öl auf Leinwand, 40,2 x 50,1 cm) - Seit den 1880er-Jahren kamen Künstler nach Dachau, um die umliegende Mooslandschaft zu malen. Zu den zentralen Künstlerpersönlichkeiten der Kolonie Dachau zählte Adolf Hölzel, der - vor seiner Hinwendung zur Abstraktion - hier die Landschaft und die ländliche Bevölkerung im Bild festhielt.

Worpswede, Fritz Mackensen: "Hamme-Hütte" (1897, Öl auf Leinwand, 97 x 125 cm) - Als einer der Gründer der Künstlerkolonie am Teufelsmoor war auch Mackensen von der Weite und Urwüchsigkeit der Worpsweder Landschaft fasziniert. Sein Werk "Hamme-Hütte" fängt mit der Darstellung der einsamen Hütte am Moorgraben das Leben und Arbeiten der einfachen Landbevölkerung ein.

Ascona, Marianne Werefkin: "Der große Mond" (1932). Besonders Künstlerinnen fanden fernab des von Männern dominierten Kunstbetriebs in den Kolonien kreative Freiräume. Die russische Malerin ließ sich dauerhaft am Monte Veritä im schweizerischen Ascona nieder und schloss sich dort einer Gemeinschaft von alternativen Lebensreformern an, die ihr Leben so naturnah wie möglich, ohne konventionelle Zwänge gestalten wollten.

Szolnok, Lajos Deak Ebner: "Geflügelmarkt" (1885, Öl auf Leinwand, 132 x 96 cm) - Die Werke des Malers zeigen realistische Szenen des bäuerlichen Lebens, die den damals verbreiteten Vorstellungen vom ländlichen Ungarn entsprachen. Bevor Ebener sein Arbeiten in die ungarische Tiefebene verlegte, lebte er lange in Barbizon. Später pendelte er zwischen Frankreich und Ungarn. (Textquelle: Landesmuseum Hannover)
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Heimat - ein Mythos?
"Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien" lautet der Titel der Ausstellung. Die Künstler seien Eroberer in ihren Heimatländern gewesen.
Karte

 

  
Europäische Künstlerkolonien um 1900
Sehnsucht zu finden und sie zu stillen, das habe vor 100 Jahren "Heimat" für die bedeutet, die diese ländlichen Lebensräume für sich erschlossen, so Museumsdirektorin Katja Lembke. "Mythos Heimat" bedeute aber auch, dass diese Sehnsucht nicht immer erfüllt wurde. Die heile Welt, die die Bilder ausstrahlen, existierte auch zu dieser Zeit nicht.
Das ist kaum zu glauben, wenn man die romantischen Landschaftsbilder aus dem französischen Barbizon, den idyllischen Arbeitsplatz des Schäfers im holländischen Laren, das tosende Meer des urwüchsigen Cornwalls oder den "Sommerabend am Südstrand von Skagen" betrachtet. Gemeinsam ist den Motiven die Ruhe, die sie ausstrahlen - als wäre die Zeit stehen geblieben.
Vorbild Worpswede
Künstlerkolonie
Worpswede: Lieblingsort der Künstler
Das Örtchen Worpswede steht für Kunst und Kultur. Namhafte Künstler haben dort gelebt und ihre Spuren hinterlassen. Eine aktuelle Ausstellung verbindet deren Werke mit neuen Bildern. mehr
Schon lange bevor die Künstlerkolonie Worpswede entstand, ließen sich Künstler gemeinsam an einem Ort nieder. Die herausragende Bedeutung von Worpswede ist, dass die Kunstschaffenden sich zusammenschlossen, gemeinsame Einrichtungen betrieben, gemeinsam ausstellten und ihre Gemeinschaft mit einer Satzung manifestierten und damit zu einem Vorbild für andere Künstlervereinigungen wurden.
Werke aus der niedersächsischen Künstlerkolonie Worpswede aus der eigenen Sammlung des Landesmuseums bilden deshalb auch den Grundstock der Schau. Neben diesen 40 Bildern werden 220 Leihgaben aus 60 europäischen Museen, etwa aus Kopenhagen, Budapest oder Den Haag und aus privaten Sammlungen gezeigt.
Zu viele rote Fäden
Die Anordnung der Kunstwerke verfolgt nicht nur die Idee, abzubilden, wo die 30 ausgewählten Künstlerkolonien entstanden sind, was sie hervorbrachten und wie die Werke kunsthistorisch einzuordnen sind. Gezeigt werden soll auch, wie durch den Wechsel von Künstlern eine Vernetzung der Kolonien untereinander entstand, welche Bedeutung einzelne Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft hatten, etwa die der Künstlerinnen in Worpswede, und welche Nachwirkung das Lebensgefühl der Zeit auf die Nachwelt hatte - etwa das Bohemienleben auf die Hippies der 70er.
Die Anzahl der Bilder, dicht angeordnet, und die vielfältigen und umfassenden Informationen dazu könnten manchen Besucher mutlos zurücklassen. Die Ausstellung beleuchtet zu viele bemerkenswerte Aspekte von Künstlerkolonien. Wer sich aber die Zeit nimmt, um in mehreren Besuchen einzelne Themen zu erkunden, der wird Einsichten gewinnen, die so an keiner anderen Stelle zu finden sind.
Weitere Norddeutsche Künstlerkolonien

2010 in Worpswede:

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Zu dieser Aufführung ist ein reichhaltiges, schön gestaltetes, höchst informatives Programmheft erschienen mit Szenenbeschreibungen, Kurzbiografien von 40 Personen, Zitaten, Zeittafel und 100 teils farbigen Fotos. Damit wird dem Besucher die Doppelgeschichte von Ascona und Worpswede in die Hand gegeben, ein anschauliches, farbiges Bild zweier Urzellen der Reformbewegungen um 1900.

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Siedlung Grappenhof in Amden, Schweiz


Amden als schwäbische Kolonie mit schwäbischen Künstern
Künstler, Lebensreformer, Okkultisten, Spiritisten in Amden 1901-1912
Max Nopper, Josua Klein, Fidus, Otto Meyer-Amden


1912 kehrte der in Bern aufgewachsene Maler Otto Meyer (1885-1933) aus Stuttgart, wo er als Meisterschüler Adolf Hölzels (1853-1934) studiert und anschliessend in einem kleinen Vorort als freier Künstler gelebt hatte, in die Schweiz zurück. Er zog zu Hermann Huber (1888-1967), der um die schwierigen finanziellen Verhältnisse seines Künstlerfreundes in Stuttgart wusste und ihn deshalb zu sich nach Amden am Walensee eingeladen hatte, wo er seit 1912 ein Bauernhaus bewohnte. Das Jahr 1913 verbrachten sie gemeinsam in Amden, danach überliess Hermann Huber das Haus ganz seinem Malerkollegen, der nicht nur bis 1928 dort bleiben, sondern sogar den Dorfnamen zu seinem eigenen machen sollte.

Es wohnten ausser Hermann Huber und Otto Meyer-Amden auch die Maler Willi Baumeister (1889-1955) und Albert Pfister (1884-1978) im Bergdorf. Zu den Künstlerfreunden Otto Meyer-Amdens, die ihn in Amden besuchten, gehörten neben Oskar Schlemmer (1888-1943) auch Johannes Itten (1888-1967) und der wie Baumeister und Schlemmer aus Deutschland stammende, in den Jahren 1913-1914 in der Schweiz lebende Maler Johannes Mohlzahn (1892-1965). Albert Pfister hatte Huber auf die leerstehenden Häuser in Amden aufmerksam gemacht, die zur lebensreformerischen Siedlung Grappenhof gehörten. Die Siedler um den «Propheten» Josua Klein (1867-1945), der die Höfe 1903 erworben hatte, wollten das Bergdorf zu einem Wallfahrtsort für Gottsucher, Spiritisten und Okkultisten entwickeln. 1

Willi Baumeister kehrte nach Meinungsverschiedenheiten mit Otto Meyer-Amden schon 1913 nach Stuttgart zurück und besuchte Amden erst wieder in den zwanziger Jahren. Als Baumeister 1933 vom Tod Meyer-Amdens erfuhr, schrieb er in sein Tagebuch: «Ähnlichkeit mit den Selbstbildnissen van Goghs. Kleidung sehr dürftig. Nicht nur sein Vollbart, sondern sein ganzes Gehabe war merkwürdig, auch durch das Schweigen. Es war mir auch rätselhaft, dass er sich in unserem Freundeskreis wohl fühlte, da wir doch im Gegensatz zu seinem Ernst harmlos lustig waren bei den Zusammenkünften in den Ateliers, auf Spaziergängen, im Café, beim Baden. Humor bei jeder Gelegenheit, was ihm sehr gefiel, und in späteren Jahren mitentwerfend von Wortspielen. (...) Was nicht oft erreicht wird, ist, die durchaus originale Zone. Er hat sie erreicht. Was er malte, zeichnete, sollte leicht fasslich sein aber auch hintergründig. Das Gedankliche und Formale beziehungsreich bis zur 'Dichte'.» 2

Ähnlich positiv äusserte sich Oskar Schlemmer über Otto Meyer-Amden, mit dem er einen intensiven Briefwechsel unterhielt. Schlemmer, der wie Meyer-Amden bei Hölzel in Stuttgart studiert hatte, hielt sich im Jahre 1919 erstmals in Amden auf. Weitere Aufenthalte folgten 1922, 1924 und 1927. Schlemmer lehrte in diesen Jahren am Staatlichen Bauhaus in Weimar und ab 1925 in Dessau. Meyer-Amden, der zurückgezogen, aber nicht weltabgewandt in Amden lebte, blieb für den weltzugewandten Bauhausmeister Schlemmer dennoch zeitlebens der wichtigste Gesprächspartner. Am 15. Januar 1936, dem dritten Todestag von Meyer-Amden, schrieb Schlemmer in sein Tagebuch: «Ich habe niemanden mehr, dem ich das Geheimnis im Künstlerischen und Menschlichen darlegen könnte, mit der Gewissheit der richtigen Aufnahme und Antwort dazu.» 3

Einige Jahre zuvor, im Sommer des Jahres 1927, während eines Aufenthaltes im Tessin, versuchte er vergeblich den Kunstwissenschaftler Siegfried Giedion, den Künstler Moholy-Nagy und den Sammler Eduard von der Heydt zu überzeugen, sich für die Kunst seines Freundes Meyer-Amden einzusetzen. Am 18. August jenes Jahres schrieb Schlemmer nach Amden: «- die Asconeser sind durch die sonderbaren Käuze, Heiligen, Naturapostel und Maler, scheint's, an alles gewöhnt, so dass nichts und niemand mehr auffällt.» 4 Und weiter heisst es in diesem Brief: «Ich glaube, dass Sie diesen Zustand zu schätzen verstehen.» Der Brief erreichte Meyer-Amden im Jahr, bevor er sein Atelier im Bergdorf und die freie Künstlerexistenz aufgab, um in Zürich ein Lehramt anzutreten.

Die Ansiedlung von Otto Meyer und seiner Künstlerfreunde Albert Pfister, Willi Baumeister und Hermann Huber in Amden im Jahre 1912 fiel zeitlich zusammen mit dem Wegzug von Josua Klein und seiner Familie. Josua Klein hatte 1902 zusammen mit Max Nopper in Amden die lebensreformerische Siedlung Grappenhof gegründet, zu deren Besuchern auch die Gründer des Monte Verità zählten. Max Nopper, ein ehemaliger Hauptmann der württembergischen Armee, bewohnte seit 1901 mit seiner Familie das unterhalb der Dorfzone auf 600 Meter gelegene Heimwesen Grappen. Im Sommer 1902 hielt sich Josua Klein besuchsweise erstmals für drei Wochen in Amden auf. Er war im Vorjahr von einem längeren Aufenthalt in den USA nach Europa zurückgekehrt.

Ein privater Gönner stellte Klein für die Siedlung 400'000 Franken zur Verfügung. Josua Klein betrachtete diesen Betrag als Honorar für seine angebliche Mitwirkung bei der Heilung der seelisch erkrankten preussischen Kronprinzessin Luise von Toscana. Er erwarb 1903 nach seiner Rückkehr nach Amden Liegenschaften zu hohen Preisen. Er schloss in den Monaten Juni und Juli 13 Kaufverträge ab und kaufte für 321'850 Franken zehn Wohnhäuser, 23 Wirtschaftsgebäude, dazu Wiesen, Äcker und Wald. Zu seinem neuerworbenen Grundbesitz zählte auch die in der Nachbargemeinde Weesen am See gelegene Villa Seewarte. Er baute und reparierte auf Grappen und Umgebung. Im unteren Grappen wurde eine grosse Scheune und als Gemeinschaftshaus der Kolonie der Grappenhof errichtet. Josua Klein war bald der grösste Bodeneigentümer des Dorfes. Er reiste nach Berlin und beauftragte den Jugendstilkünstler Fidus mit dem Bau von Tempeln auf dem Gelände seiner in Amden entstehenden Siedlung. Dieser begab sich für einen Augenschein nach Amden und entschloss sich, den Auftrag anzunehmen.

Im Herbst 1903 löste Fidus seinen Berliner Haushalt auf und übersiedelte nach Amden. Er bezog mit seiner Familie den Neubau im unteren Grappen. Fidus arbeitete an den Plänen für das ihm von Klein versprochene Atelierhaus und am Glasbild «Die Sonnenwanderer», das im Gemeinschaftssaal des Neubaus eingesetzt wurde. An Sakralbauten waren ein «Tempel der Erde», ein «Tempel der Eisernen Krone» und ein «Tempel der Tat» zum Bau vorgesehen. Fidus spricht zusammenfassend von «Tempeln des undogmatischen Glaubens». Im November 1903 ersuchte Klein um die Erteilung des Bürgerrechts für ihn und seine Familie. Er kündigt dafür eine Schenkung von 1'000'000.– Franken an und verspricht den Bau einer von Fidus entworfenen Marienkapelle. Die Gemeindeversammlung stimmte der Einbürgerung zu. Rechtskräftig wurde diese nie, da Klein die Einkaufssumme nicht aufbringen konnte.

Anfangs 1904 beantragte Josua Klein beim Gemeinderat von Amden eine Konzession für den Betrieb einer Elektrischen Bahn von Weesen über Amden nach der Bergstation Speer auf 1'950 Meter. Der dem Gesuch beigelegte Kostenvoranschlag rechnete für die 13,7 Kilometer lange Schmalspurbahn mit Gesamtkosten für Schienennetz, Tunnel, Installationen, Gebäude, Rollmaterial, Mobiliar und Wasserkraftwerk von rund fünf Millionen Franken. Fragen der Wirtschaftlichkeit wurden vernachlässigt, da Klein die Bergbahn ausdrücklich als gemeinnützliches, von ihm zu finanzierendes Werk verstand. Die finanzielle Situation der Kolonie verschlechterte sich allerdings zusehends.

1905 musste Josua Klein einen Grossteil seines Amdener Grundbesitzes verkaufen, da die Mittel aufgebraucht waren und neue Gönner versprochene Unterstützung zurückhielten. Im Frühjahr 1906 war der Amdener Siedlungsversuch gescheitert. Im März verkaufte Josua Klein auch die Villa Seewarte in Weesen, die als Künstlerhaus hätte betrieben werden sollen. Max Nopper blieb mit seiner Familie und einigen Anhängern in Amden. Josua Klein übersiedelte mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten.

Zu den wenigen authentischen Berichten über den Grappenhof gehört ein Zeitungsartikel von Irma Goeringer aus Zürich, der 1904 in der Frankfurter Zeitung und in einer gekürzten Fassung auch im St. Galler Tagblatt erschienen ist. Im selben Jahr veröffentlichte das Neue Wiener Tagblatt einen Artikel von Max Lesser, der die Kolonie im Unterschied zu Goeringer aber nicht aus eigener Anschauung kannte. Ihr durchwegs positiver, stellenweise sogar enthusiastischer Bericht über die Person Josua Kleins und die Ziele seiner Kolonie in Amden ist darüberhinaus der einzige überhaupt, der nicht rückblickend verfasst wurde, sondern unter dem Eindruck der Begegnung mit Klein geschrieben wurde und anschliessend sofort in Druck ging. Irma Goeringer schildert Klein als einen «Mann, der kraft seines Verstandes das Wissen seines Jahrhunderts nicht nur in sich aufgenommen, sondern bis zu einem gewissen Grade verarbeitet hat, dem eine grosse Güte nicht Willens-, sondern Naturnotwendigkeit ist und der ausserdem mit straffer Energie auf sein Ziel losgeht». 5

Ihr Urteil bildete sie sich im Anschluss an mehrere Gespräche, die sie mit Anhängern Josua Kleins, diesem selbst, aber auch aussenstehenden, im Dorf Amden ansässigen Personen geführt hatte. «Wenn ich recht verstanden habe», fasst Irma Goeringer die Ausführungen Kleins zusammen, «so ist der Lebenszweck Josua Kleins und aller, die zu ihm halten: erstens: sich selbst erkennen, das heisst also, sich selbst erforschen, bis man weiss, was die innerlichste Notwendigkeit der eigenen Individualität ist; die Gesetze aller Kulturen, aller Erkenntnis in sich verarbeiten, um herauszufinden, nach welchen Gesetzen man selbst zu leben und zu handeln hat, und dann seine Existenz danach einrichten, selbst wenn man deshalb die bisherigen Daseinsbedingungen und Gewohnheiten über den Haufen werfen muss». Wer sich nun selbst kenne, habe zweitens die Pflicht, anderen zu helfen.

Kranke oder mit sich und ihrem Schicksal hadernde Menschen seien deshalb zur Kur auf dem Grappenhof willkommen. Eine eigentliche Lehre lasse sich nicht feststellen, meint Goeringer, ausser vielleicht der, dass alle ihre eigene Individualität kennenlernen sollen. Qualität und Eigenart jeder menschlichen Leistung bemesse sich daran, ob sie gerne erfüllt worden und wie notwendig sie gewesen sei. Daraus ergäben sich nun aber auch Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen: «Die grosse Familie der Gleichgesinnten in Amden hat ausser einer Hilfe in der Landwirtschaft und einer Helferin in der Küche keine Dienstboten. Jeder der Anwesenden findet irgend eine Beschäftigung im Haushalt, die er gerne verrichtet. Die wird ihm übertragen, und er führt sie so lange aus, bis er der Abwechslung wegen einmal mit einer andern tauscht.

So entpuppte sich der Sohn eines deutschen Oberstabsarztes als Koch, ein junger Künstler als geschicktes Zimmermädchen, Hauptmann Nopper als tüchtiger Landwirt und kluger Leiter der praktischen Angelegenheiten.» Klein gedenke, erfahren wir weiter und nur in diesem Bericht, namhafte Künstler für die Ausschmückung der Tempel nach Amden einzuladen und habe seine Villa am See «neu eingerichtet für Maler, Bildhauer und Dichter, die einmal ganz ausspannen möchten oder sich in der Einsamkeit künstlerisch vertiefen wollen und dabei Komfort und Luxus nicht entbehren mögen. Von solchen Pensionären will Josua Klein jedoch keine pekuniäre Vergütung annehmen. Die Gegenleistung soll praktisch oder ideal sein, aber jedenfalls nicht in Silber oder Gold bestehen.»

Max Lesser aus Berlin beschäftigt sich in seinem Zeitungsartikel nur am Rande mit der Siedlung, ihn interessiert vor allem Kleins Persönlichkeit. Die eigentliche Botschaft Kleins bleibe dunkel, meint Lesser: «Gar so spiritualistisch, gar so jenseitig erhaben scheint er sich doch nicht zu fühlen, denn er sagt von sich (oder seine Dolmetscher sagen es nach seinen tiefsinnigen Verworrenheiten von ihm), dass er zwar der neuerstandene Christus sei, doch aber wieder ein anderer, denn er habe, weil vom Weibe geboren, auch den Satan in sich. Das Land, das Josua Klein zusammengekauft hat, liegt brach, die Gemeinde hat gerade genug mit der sozusagen konsumierenden Wirtschaftsführung zu tun.» 6

Irma Goeringer und Max Lesser bewerten die Siedlung Grappenhof auf Grund völlig unterschiedlicher Kriterien. Während es für die Zürcherin selbstverständlich zu sein scheint, dass ein Experiment wie dasjenige von Amden in erster Linie ideelle Zielsetzungen verfolgt und deshalb immer auf Unterstützung angewiesen bleiben wird, vertreten Lesser, aber auch der deutsche Bodenreformer Damaschke und mit ihm die Pragmatiker innerhalb der Lebensreformbewegung die genau gegenteilige Ansicht: Da das eigentliche Ziel die Gesellschaftsreform bleibe und diese nur in der beispielhaften Selbstreform wurzeln könne, verdienten ausschliesslich Projekte, die zumindest selbsttragend seien, Anerkennung durch die Bewegung. Nun kann man es drehen und wenden wie man will, die bislang bekannten Fakten zur Geschichte des Grappenhofs lassen keinen Zweifel daran, dass Josua Klein nie daran dachte, seine Siedlung auf eine betriebswirtschaftlich gesunde Basis zu stellen und entsprechend zu bewirtschaften.

Glauben wir Adolf Damaschke, so zeigte sich die anfängliche Seriosität des Siedlungsversuchs in Amden an der Mitwirkung von Paul Schirrmeister, der zuvor während dreier Jahre erfolgreich als Geschäftsführer der Vegetarischen Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg amtete. Damaschke versteht denn auch dessen überstürzte Abreise aus Amden, vermutlich am 3. Juli 1904, als ein deutliches Anzeichen für das baldige Scheitern des Experiments. Er kannte Schirrmeister und Fidus aus Berlin, wo alle drei 1902 im Ausschuss der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft mitarbeiteten.

In Oranienburg arbeitete Paul Schirrmeister 1903 mit Menschen, die sich für Selbstversorgung mit Gemüse und Früchten auf eigenem Boden und ein selbstgenügsames Leben auf dem Lande im Kreise ihrer Kleinfamilien entschieden hatten. Im selben Jahr überredete er Fidus, die Berufung zum Tempelbauer anzunehmen und nach Amden auf die Kolonie von Josua Klein zu übersiedeln. In Amden trifft er auf Menschen, die in Häusern zusammenleben, die ihnen nicht gehören und von fruchtbarem Land umgeben sind, das niemand fachmännisch bewirtschaftet. In Oranienburg gingen seine Genossen tagsüber einem Beruf nach und arbeiteten abends in ihren Gärten. Entscheidungen, die die Gemeinschaft aller Familien betrafen, wurden von den Genossenschaftern gemeinsam getroffen.

In Amden beschäftigte sich jeder mit was er gerade Lust hatte, ausser es stand wieder eine der stundenlangen Unterweisungen durch Josua Klein bevor. Ziele eines jeden menschlichen Lebens sollten Selbstkenntnis und Selbstentfaltung sein, hiess es auf dem Grappenhof, doch alle die Gemeinschaft betreffenden Entscheide fällten ein ehemaliger Offizier, der sich inzwischen als Landwirt ausgab, und ein Gutsherrensohn mit entsprechendem Habitus, der christologische und therapeutische Ambitionen hatte.

Max Nopper schreibt rückblickend, die einen hätten sich von dem angeblich zur freien Nutzung bereitgestellten Reichtum angezogen gefühlt, andere seien gekommen, weil sie in Amden «Das Reich Gottes auf Erden» zu finden hofften. Er selbst, sagt Max Nopper, und mit ihm der Kern der Siedlung hätten allen diesen Menschen klar zu machen versucht, dass der einzige legitime Grund, auf dem Grappenhof zu bleiben, derjenige sei, sich auf jenen Weg zu begeben, den Christus in Jesus gegangen sei: ein schmaler und steiler, dornenvoller und beschwerlicher Weg mit zahllosen Prüfungen. Zu diesem Selbstbild passt, dass Fidus, der als Architekt nach Amden gekommen war und dort in Stein bauen wollte, in den Erinnerungen an seinen Aufenthalt von der immer bestimmter erhobenen Forderung nach der Arbeit am inneren Tempel spricht.

Max Nopper behauptete nachträglich, die Schmarotzer, Betrüger und Verräter unter den vielen Besuchern seien auf der Siedlung erwartet worden und sogar willkommen gewesen, da der innere Kreis der Kolonie durch deren Anwesenheit zusätzlichen Proben und Versuchungen unterzogen worden sei, die ihm und seinen Freunden erst wirklich ermöglicht hätten, ihren Willen zur Vollkommenheit öffentlich zu bezeugen: Wir treffen hier auf die heilsgeschichtliche Vorstellung, wonach schon Jesus ohne Judas die Menschheit nicht von ihrer Schuld erlöst hätte. Das Scheitern, sagt uns Max Nopper, war eingeplant.

Die geschilderten Ereignisse aus dem Kreis von Josua Klein sind nicht nur beispielhaft für den Eklektizismus an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, sondern auch für den in den industrialisierten Ländern Europas schon im letzten Jahrhundert einsetzenden Individuationssprozess, dessen weitere Entfaltung bis in die Gegenwart reicht. In ihrer Vielfalt nämlich zeugen die im 20. Jahrhundert formulierten und zeitweise real existierenden Utopien weit mehr vom Zerfall als von der Neuformulierung der grossen Ideen und gesamtgesellschaftlichen Entwürfe. Im Falle der Lebensreform ist dieser Widerspruch besonders krass, glaubten doch deren Vertreter, dass die altruistische Utopie einer besseren, einer neuen Welt nur durch die Einsicht der Menschen in die Notwendigkeit der Selbstreform erreicht werden könne. Josua Klein empfand das Scheitern seines öffentlichen Wirkens denn auch nach der Hospitalisierung in einer Wiener Psychiatrischen Klinik, damals die grösste denkbare soziale Niederlage, nicht als ein persönliches Versagen.

Hermann Huber hatte im Jahr, bevor er nach Amden gezogen war, dem Beuroner Mönch Pater Wilibrord Verkade in Jerusalem bei der Ausführung von Wandmalereien im Kapitelsaal der Benediktinerabtei der Dormition vom Berge Zion geholfen. Der holländische Malermönch Jan Verkade, ein enger Freund Paul Gauguins und Mitglied der Nabis, war 1894 in das Kloster Beuron eingetreten, ein Schritt - der Zivilisationsflucht seines Freundes Gauguin vergleichbar -, von dem er sich neue Impulse für seine Malerei erhoffte. Im Juni 1910 kehrte Hermann Huber aus Jerusalem in die Schweiz zurück.

Das gemeinsame Jahr mit seinem Freund Otto Meyer 1912 in Amden stand noch ganz unter dem Eindruck der Erlebnisse mit Pater Willibrord. Die Kunst von Otto Meyer-Amden gründet wie jene des zehn Jahre vor ihm in Amden lebenden Fidus im Symbolismus. Gemeinsam ist den beiden Künstlern die Verklärung von Jugend, Sonne und Natur, die bei Fidus ihren formelhaften Ausdruck im Lichtgebet fand und bei Otto Meyer-Amden in seinen Zeichnungen nackter Knaben thematisiert ist. Der Unterschied ist einer der künstlerischen Qualität: Während der Kleinmeister Fidus an eigentlichen Bildprogrammen arbeitete, blieb Otto Meyer-Amden zeitlebens ein von der Bildform begeisterter Experimentator.

Amden war nun ein Ort des künstlerischen Experiments und nicht mehr wie zur Zeit der Siedlung ein Ort des sozialen Aufbruchs. Die Knabendarstellungen von Otto Meyer-Amden sind dafür beispielhaft. Man findet Kinderdarstellungen zwar auch im Schaffen seiner Freunde Paul Bodmer, Hermann Huber und insbesondere Eugen Zeller, allerdings handelt es sich da vor allem um ein Motiv der Frühwerke. Otto Meyer-Amden dagegen hat das Knaben- und Mädchenbildnis zeitlebens gepflegt. An Huber schreibt er 1918: «Ich habe, ausser von greisen Männern u. Frauen, am meisten von Knaben gelernt. Dich lernte ich fast als Knaben kennen. Ich hing an Deinem Unbewussten, mein Wunsch war, während Du die schöne Art der Unbewusstheit bewahrest, Dich in manchem, was ich wusste für Dich, bewusst zu machen, sanft.» 7

Die Knabenbildnisse sind wie die Meditationsblätter, welche unmittelbar nach der Ansiedlung in Amden entstanden sind, Studien zum Geistigen in der Kunst. Der Kunsthistoriker Reinhold Hohl hat bestimmt richtig gesehen, wenn er schreibt, im Kinde zeige sich für Otto Meyer-Amden «die mystische, die 'wahre' Anschauung der Existenz, bevor sie sich im biologischen Leib (und im Zwang, männlich oder weiblich zu sein und nicht beides) verkörpert: Originalnatur als Engel.» 8 Otto Meyer-Amden schuf in Amden neben religiösen und mystischen Kompositionen, den Knabenbildnissen und Landschaften auch einige Farbstiftzeichnungen, die den Alltag der benachbarten Weberfamilie Büsser schildern.

1 Roman Kurzmeyer, Viereck und Kosmos: Künstler, Lebensreformer, Okkultisten,Spiritisten in Amden 1901-1912: Max Nopper, Josua Klein, Fidus, Otto Meyer-Amden, Springer: Wien, New York 1999 (Edition Voldemeer), mit einem Verzeichnis der Quellen und der weiterführenden Literatur.

2 Wolfgang Kermer (Hg.), Aus Willi Baumeisters Tagebüchern, Ostfildern-Ruit 1996, S. 14/15.

3 Oskar Schlemmer: Werke von 1908-1942, Katalog, Museo Comunale d'Arte Moderna. Ascona 1987, o.p.

4 Ebd.

5 Irma Goeringer, Ein Mensch eignen Rechts: Josua Klein und die Seinen, in: Frankfurter Zeitung (Erstes Morgenblatt, 21. August 1904), S. 1/2.

6 Max Lesser, Ein Schwärmer, in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ (13.Dezember 1904), o.p.

7 Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich: Brief von Otto Meyer-Amden an Hermann Huber, 1. September 1918.

8 Reinhold Hohl, Knabenbilder - ein Thema im Werk von Otto Meyer-Amden, in: Otto Meyer-Amden (1885-1933), Katalog, Kunsthalle Basel, 1979, S. 11.

Die Künstlerkolonie als Sehnsuchtsort
Das Landesmuseum Hannover zeigte vom 18.03.2016 bis 26.06.2016 Bilder aus historischen Künstlerkolonien auf dem Land.
Sie geben einen imposanten Überblick über die europäische Landschafts- und Genremalerei.
Zur Ausstellung ist der Katalog "Mythos Heimat" erschienen (ISBN 978-3954982271, 536 Seiten)