Der erste Zeitungsbericht über die Reformersiedlung in Ascona

Im November 1901 besuchte ein Geschwisterpaar aus Zürich die Ansiedlung auf dem Hügel über Ascona. Sie waren vermutlich durch einen Vortrag auf den Ort aufmerksam geworden, den der Tischler Rudolf Rönneburg, ehemals Mitarbeiter der Reformer, am 13. November in einem Restaurant in Zürich gehalten hatte. Oder eher noch, wie sie selbst angeben, durch ein „Luftpaar“, das durch die Stadt an der Limmat wandelte. Es ist nicht recht klar, um wen es sich da handelte. Das Paar Hofmann-Oedenkoven käme in Frage oder Karl und Jenny oder Gusto und seine Freundin Albine Neugeboren. Die „braune Waidmannstasche, aus der rätselhafte Tüten gucken“ (Gustos Gedichte?) und das Barfußgehen der beiden weisen aber am ehesten auf Gusto und seine Begleiterin hin. Er war ja von Ascona weggezogen und hatte in Zürich Freunde. Dagegen waren Oedenkoven und Karl Gräser mit dem Aufbau der Siedlung beschäftigt.

Die Besucher treffen das Unternehmen zu einem Zeitpunkt an, als das Sanatorium noch nicht eröffnet, auch der Name „Monte Verità“ noch nicht gefunden ist. Auch der Auszug von Karl, Jenny und Lotte Hattemer hat noch nicht stattgefunden. Sie sprechen deshalb mit Recht von einem „Luftdorf“ und „Walddorf“. Noch war die Einheit nach aussen hin gegeben, und Gusto konnte leicht mit dem eingetragenen Besitzer Henri Oedenkoven verwechselt werden. Möglicherweise haben wir also hier ein Zeugnis von Gustos Auftreten in Zürich im Herbst 1901 und von seiner werbenden Wirkung für das entstehende Walddorf über Ascona.

 Ida Hofmann schrieb dazu folgende Notiz zum Jahr 1902:
„Im ‚Züricher Boten‘ erscheint der erste naiv verständnislose Artikel einer jungen Schweizerin, Marie Wyss, welche ein Kinderheim in Locarno leitet; auch die ‚vegetarische Warte‘ bringt Anfragen über Ascona“ (MV, S. 38f.).

Züricher Post, Nr. 2, 1902, Verlag Schabelitz
Feuilleton
Die Kolonie der Vegetarier in Ascona
Von M. W.

 

Seit Tagen waren die „Lufthüttenbewohner in Ascona“ unser Gesprächsthema. Die sonderbare Tracht der Leute forderte die Neugier geradezu heraus. Wo ein „Luftpaar“ – so nannten wir sie der Kürze halber – sich zeigte, da drehte sich Jeder nach ihm um. Es waren meist ein Er und eine Sie, die Hand in Hand das Land durchstreiften. Er trägt lang herabwallende Locken, die als „natürliche Kopfbedeckung“ den Hut ersetzen. Das eng anliegende blaue Tricot lässt Hals und Beine frei; die braunen Zonen treten mit lautem, wachsendem Schall die feste Straße. Über der Schulter hängt ihm eine braune Waidmannstasche, aus der rätselhafte Tüten gucken. Sie hat statt des Tricots ein kurzes Hängeröckchen übergestreift, das unter der Brust in großen Falten niederfällt. Ihr Haar ist in einen Knoten aufgesteckt; sie geht barfuß und barhaupt wie er. Die sonderbarsten Gerüchte sind über sie im Umlauf. Man erzählt sich, dass sie auf dem Asconerhügel, den sie käuflich erworben, eine Art Indianerwigwam erbaut hätten, dass sie in roh gezimmerten Hütten beisammen lebten, das Land bebauten und Abends wurzelnagend und kräuterkochend um helle Waldfeuer hockten. Die Wandung der Hütten sei ein offenes Gitterwerk, durch das der Wind ungehindert streiche.

Mich wandelte die Lust an, die Ansiedlung zu besuchen, und schon der nächste Tag fand meine Schwester und mich auf dem Wege nach Ascona. Es war ein arges Klettern, ehe wir durch stachliges Unterholz und wirres Gestrüpp den pfadlosen Hügel heil erstiegen hatten. Als wir pustend, aber siegesfroh den Fuß auf ebenen Boden setzten, sperrte uns eine weiße Bretterwand den Weg. Wir klommen auf ein Felsstück und hielten Umschau.

Kreuz und quer in dem struppigen Wald standen die hohen Pallisaden. Sie teilten den Hügelrücken in unregelmäßige Gevierte, in deren einem wir Spuren eines niedergebrannten Feuers entdeckten. Noch glimmte es rot aus der Asche. Drüben guckte aus dem Geäst ein zierliches, einstöckiges Blockhaus, grün angestrichen, mit hohen Fenstern und tiefhängendem Dach. Zur Linken ragten theergetränkte, scharf zugespitzte Pfähle in die klare Luft. Wir dachten unwillkürlich an das Marterholz. Nichts rührte sich im Walddorf. Ein rot glühender Abendhimmel flammte über die Höhe und färbte die weißen Dünste, die langsam den See zu verschleiern begannen. Die Schneekronen ferner Berge glühten rot wie funkelnder Rubin. Da klang ein Hämmern in die tiefe Stille, und als wir dem Tone nachgingen, stießen wir auf eine Schar Männer, die an einer Holzhütte klopften. Unsere hochgespannten Erwartungen sanken tief, als wir in den vermeintlichen Luftmenschen alltägliche italienische Arbeiter erkannten. Doch konnte einer derselben uns wenigstens als Wegweiser dienen. Unter seiner Führung durchschritten wir die erste Pallisade. Meine Schwester nahm den Hut ab und zog ihre Handschuhe von den Händen. „Thu‘s auch; das imponiert und stimmt sie milde!“ riet sie mir im Flüsterton. Wir kamen an mehreren der hübschen einstöckigen Häuschen vorüber. Sie enthielten je zwei Kammern. In der einen stand eine eiserne Bettstelle mit Matratze und Wolldecke; ein paar Bücher auf einem Tischchen, ein Tintengeschirr, im Hintergrund auf einem Gestell eine irdene Waschschüssel vervollständigten die spartanische Einrichtung, die bei aller Einfachheit doch einen wohnlichen Eindruck machte. In der Kammer nebenan war der Boden mit Äpfeln und Birnen bedeckt. Nach Eichhörnchenart legt sich wohl jeder Luftmensch eine Wintervorratskammer an und füllt sie mit beruhigenden Quantitäten.

Wir hatten die letzte Pallisade durchschritten und traten auf eine Art Dorfplatz. Hinter langen Zeilen aufgehängter Wäsche sahen wir weibliche Gestalten sich bewegen. Wir zögerten. Wie man wohl unser Eindringen aufnehmen würde? Im nächsten Augenblick standen wir vor zwei jungen Mädchen, auch Luftmenschen. Wir sahen uns heimlich an. Wenn die Luftbehandlung solche Schönheit zuwege brachte, musste sie beim weiblichen Geschlecht rasenden Anklang finden. Bewundernd schritten wir hinter unseren Führerinnen her. Wie schön war die große Blonde, der das weiche lockige Haar so reich und lose die weiße Stirn umrahmte. Wie gut passte der hohe kräftige Bau zu der natürlichen Ungezwungenheit ihrer Bewegungen. Ihre Gefährtin war kleiner, dunkler und beweglicher. In ihrem kurzen Hängeröckchen lief sie uns lustig voran, erklärend und erläuternd mit sprudelnden Worten.

„Haben sie denn nicht kühl?“ fragten wir vorsichtig, als wir im feuchten Gras die Nähmaschine stehen sahen. „Ein wenig schon!“ gestand die Blonde. „Wir sind eben noch nicht recht eingeschossen!“ Fügte die Braune bei. Also datierte die Schönheit schon weiter zurück. Wir atmeten erleichtert auf! Wohlgefällig sahen wir uns in der Haupthütte, die den gemeinsamen Eßsaal enthielt, um. In dem grün angestrichenen Gemach standen hübsche, leichte Rohrstühle um einen breiten Tisch. Lange Reihen verlockender Konservengläser füllten die Wandgestelle, ein Calorifère neuesten Systems strahlte eine behagliche Wärme aus. Das einzige Anstoßerregende in dem Raume war eine Riesenschüssel voll roher Erbsen, in der einladend ein großer Löffel steckte. Brrr! Wir dachten mit stillem Behagen an den dampfenden Risotto, der uns daheim erwartete. Zwar gab‘s in der kleinen, sauberen Küche einen richtigen Kochherd, aber: „Wir essen meistens Rohkost!“ hatte die Blonde stolz gesagt. „Und die Milch schmeckt kalt am besten!“ hatte die im Hängeröckchen beigefügt. Ob ihnen denn nicht vor dem Winter bange? I bewahre! Vor der Kälte fürchteten sie sich nicht. Übrigens nähmen sie noch jeden Tag ihr Sonnenbad, wobei es einem ordentlich auf den Rücken brenne. So sprach die Kleine und dann wies sie mit der Rechten nach der höchsten Pallisadenreihe. „Dort ist das Damenbad; weiter nach unten baden die Herren!

November und Sonnenbäder! Mich fror beim bloßen Gedanken. Aber wenn ich dann die zwei Mädchen ansah, die in ihren Kitteln und mit bloßen Füssen seelenvergnügt in der feuchten Herbstkühle liefen, wurde ich an meinen Begriffen von warm und kalt irre.

Ich erkundigte mich, ob denn auch Gäste in die Luftkolonie aufgenommen würden. Im Januar sollte die Ansiedlung den Kurbedürftigen sich öffnen. Größte Einfachheit und streng vegetarische Ernährung, danach sollte sich das Leben der Gäste regeln. Im gemeinsamen Eßsaal und im Klavierzimmer würde täglich geheizt werden, die Schlafhütten müssten Tag und Nacht offenstehen, damit die Luft freien Durchzug habe. Sonne, Luft und Wasserbäder brächten Abwechslung in den Tagesplan; wer Lust habe, könne sich am Land- und Hüttenbau beteiligen.

Hier ward das Gespräch durch die Ankunft des jungen Bruders unserer Schönen unterbrochen. Unter seiner Leitung machten wir uns auf den Heimweg durch den dunkelnden Wald. Leider hatten wir weder den Gründer des Luftdorfes noch seine Frau getroffen. Sie hatten sich auf einer Einkaufsreise verspätet. Unser junger Begleiter erzählte uns, was wir noch wissen wollten. Er erblickte unser Mitleid in hohem Masse, wie er in seinem dünnen Höschen, mit nackten, verkratzten Beinen vor uns herlief. Er fror in der Abendfeuchte und sein wiederholtes Schnäuzen und Nießen verriet deutlich, dass der Katarrh-Bazillus auch bei Luftmenschen heimisch ist. Eine Teilnahmsbezeugung unserseits wies er mit den Worten zurück: „Ach, das ist nun mal die erste Stufe in diesem Fegefeuer!“ Mögen ihrer nicht allzu viele sein, die in den Himmel führen! war unser stiller Wunsch, als wir dankend von dem Märtyrer der „Luftsache“ schieden.

Ein bleicher Mond leuchtete uns durch zarte Dunstschleier nach Hause. Wohl wäre es schön, auf dem freien Hügel, aller Hast des Lebens enthoben, ein einfach-ruhiges Dasein zu führen. Aber gerade das Beiwort „natürlich” passt auf solch ein Leben nicht. Ist uns doch als heiligste Pflicht und erste Bedingung gesunder Entwicklung die Arbeit gegeben. Wo diese fehlt, da ist Rückgang statt frischen Vorwärtsdringens.
Freudig zogen wir unserem Ideal entgegen, einem traulichen Heim, in dem nach Tagesarbeit und Müh Geist und Körper Kraft zu neuem Handeln sammeln.

„Du wirst sehen,“ sagte meine Schwester, „der Luftknabe wird fahnenflüchtig. Der ist zu jung, um sein Leben in der Wildnis zu verträumen.“ Wer wollte es ihm verargen?

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