Dem Einen’ – eine Prophetie

Der früheste Aufsatz über Gusto Gräser


                                       

"Wohl wird er ein Prophet sein, wohl wird er die Stimme eines Patriarchen haben. Aber mehr: ihm gebührt ... der Ruhm des Dichters. ... Die Wärme, der zuckende Puls seiner Sätze: das wird das Außerordentlichste an ihm bleiben."

Mit solchen Worten wird Gusto Gräser in der 'Jugend' vom Februar 1904 begrüßt und gefeiert. Zwar wird sein Name nicht genannt, die Beschreibung zeichnet jedoch ein so genaues Bild von Gräsers geistiger Gestalt, dass Zweifel kaum möglich sind. Nimmt man hinzu, dass Gräser sich zu dieser Zeit tatsächlich in München befand, nimmt man ferner hinzu, dass er von einem Kreis junger Leute um die 'Jugend' freundschaftlich aufgenommen und gefördert wurde, und bedenkt man, dass er den Titel des besagten Aufsatzes auf einen farbigen Karton notiert und ein Leben lang mit sich herumgetragen hat, so wird die Vermutung zur Gewissheit.

'Dem Einen', so lautet der Titel. Dieser "Eine" und Einzigartige wird geschildert als ein künftiger Naturprophet. Schon der Eingangsabschnitt in diesem Essay eines gewissen Wilhelm Walther Krug weist in die Richtung: Natur und Naturmensch. Er spricht von Zivilisationsekel, von Erlahmung, von Müdigkeit, von Verzweiflung: "Der Odem der Städte", heißt es da, "der Dunst der Wissenschaft, die Fäulnis der Gedanken und Empfindungen (ist) so betäubend und giftig geworden, daß es auch dem Rüstigen und Wohlgemuthen den Athem versetzt. Man lebt und handelt noch, aber mit abgewandtem Gesicht, mit Ekel im Herzen; man zweifelt, verzweifelt; skeptisch, schließlich höhnend beginnt man den Versuch der großen Negation" (23). Und nun wird nach dem Gegenbild gerufen:

"Wird in solch unendlicher Wüste die Stimme des Einen noch gehört werden ... Wird in solch unendlicher Wüste ein Umfassender (sein), der frei ist von den Fesseln eines Dogmas oder Berufs ... ?" - Ohne Dogma, ohne Beruf! Enger noch als durch die erste Negation (kein Dogma) wird durch die zweite (kein Beruf) der Kreis der möglichen Gemeinten auf ganz wenige eingegrenzt: Gräser fühlte sich zwar berufen, war aber mit Bewusstsein ohne Beruf und polemisierte gegen die Heiligsprechung dieser Vokabel. Oft genug verberge sich hinter dem feierlichen Pochen auf Berufspflichten die Weigerung, dem inneren Ruf zu folgen. Oft genug werde „Gschaftelschwindelei, drob Allewelt verdreckt, schlau mit 'Beruf' - verdeckt“. Beruf, der so oft nur Geschäft meint oder Karriere, steht ihm gegen Berufung.

Das Bild eines erst Kommenden wird gezeichnet, aber zugleich wird an mehreren Stellen deutlich, dass er schon gegenwärtig, wenn auch erst in Entwicklung befindlich ist. Zwar wird von dem Verfasser Emerson zitiert, aber Emerson kann als der erwartete Dichter, Denker und Prophet nicht gemeint sein. Er ist ja schon ein Mann der Vergangenheit.

"Er wird kommen, er wird reden und wird gehört werden. Diesem Dasein, das seinen Sinn verloren hat, diesem Leben, das unendlich, verworren, unübersehbar scheint, wird er ein neues deutliches Gesicht geben, ein inneres Licht, von dem aus alles überstrahlt sein wird. Er wird zeigen, daß das Leben so göttlich wie unfaßbar sei. Er wird Dinge sagen, die unerhört scheinen, obwohl sie nicht unerhört sind. Denn es kommt nicht darauf an, daß etwas unerhört ist; es kommt darauf an, wer dahinter steht." (S. 23)

So kann nur reden, wer jemanden vor sich stehen sieht. Und dann kommt der Verfasser auf ein Merkmal zu sprechen, das Gräser auch nach außen hin auszeichnete: "Man wird ihn nicht übersehen können" (ebd.). Gräser war - nicht nur durch seine eigenartige Tracht - tatsächlich unübersehbar, selbst in dem an Originalen nicht eben armen Schwabing.

"Ihm wird der Mensch gelten, welcher der Natur nicht entfremdet ist; weil die Natur ein Symbol des Göttlichen ist" (24). Damit ist das Glaubensbekenntnis Gräsers ausgesprochen, das Bekenntnis eines Apostels der Naturheiligung. Gräser ist „der Mann der stillgewaltigen Natur - Urmutter unser voller Erdsternhimmel“ (GG). Er verehrt, umwirbt und freit „die Muttermaid, die wildschön Große, will grüßen Sie im Kranz der Dornenrose“ (GG). Aber er ist nicht, was man ihm nachsagt und alle Welt von ihm glaubt: einer, der um jeden Preis "zurück zur Natur" will. "Zurück zur Natur! - Geht nit - Unsinn. - Hindurch zur zweiten, zu Menschnatur!“

Krug räumt ein, dass sein Bild des Einen "sehr ungenau" sei. Und lässt dann doch die Botschaft des Ungenannten deutlich genug erkennen. Und auch die Umrisse der Person, die offenbar über die Maße eines Schriftstellers oder Philosophen noch beträchtlich hinausgeht.

"Wer dürfte vergessen, daß dieser Denker, Dichter und Prophet - um in diesen Worten seine Eigenschaften so gut es geht, zu bergen - kein Gleichmacher sein wird; daß er das große Leben vom kleinen Leben gerade durch die Wahrheit, durch die Deutlichkeit unterscheiden wird, mit welcher es ein Bild der 'Idee', des Geistes der Natur gibt." (24)

Gräser gibt ein Bild des Geistes der Natur allein schon durch seine Erscheinung: sein grün- und braunfarben fließendes Gewand, sein ungeschoren wallendes Bart- und Haupthaar - und damit ein Abbild des großen und freien Lebens im Unterschied zum "kleinen" Leben des vielfach beschnittenen, sich selbst beschneidenden Bürgers. Er wird, in Person und Wort, ein Botschafter der Natur.

Dieser "Denker, Dichter und Prophet" werde "kein Gleichmacher" sein, sagt Krug (ebd.) - wie denn Gräser jederzeit und zumal in seinen Schwabinger Jahren gegen jede Gleichmacherei sich ausgesprochen hat: „Gleichheit - der Bleichheit Ruf! Das blühe Leben braucht Gestuf. Von den GLeichen zu den Reichen!“

Erst recht aber und weit mehr noch als der Verfasser ahnen konnte, trifft die folgende Beschreibung auf Gräser zu: "Man wird ihn verkennen. Wir dürfen das nicht übersehen" (ebd.). Zwar hat Krug noch die optimistische Hoffnung, jener "Eine" werde Einfluss gewinnen und "bald die kleine Insel geistesverwandter Verehrer" verlassen, sieht aber schon, dass dessen Bestes "nicht so sehr für die Vielen, als für einen engeren Kreis geistiger Nachbarn gesprochen" wird (ebd.). „Ihr paar Entschlossnen - ! - Freunde - Vertraute der Erde - Heimat im Vaterland! Aus allem Verfremdungsgraus, aus allem Ruin heraus - die Rettung seid Ihr!“

Über organisierte Reformen und Vereine werde er lächeln - wie denn Gräser sich nie einer Organisation angeschlossen oder eine solche gegründet hat. „Von den zahmlahmen Vereinchen, Bündchen, Partein zu urlebendigen Banden der Freundschaft, donnerdrein!“

"Sein Denken und Wollen wird aus der Sehnsucht seines Herzens fließen, Geister zu finden, die gleich ihm der Natur nachspüren; aus der Sehnsucht seines Herzens, solche Geister aus der Masse herauszuheben und ihre Fleischwerdung zu ermöglichen" (ebd.). Der Kern von Gräsers Wollen und Wirken könnte nicht besser beschrieben werden als mit diesem Satz. „Ich wünsch mir Freunde, ja, und Freundesmühen; Ihr Freunde, kommet, folget Eurem Wahn! Ich schlage vor, ich brech die schwerste Bahn“.

Zuletzt gibt der Verfasser eine Kennzeichnung, deren sinnliche Anschaulichkeit eigentlich nur einem Menschen gelten kann, den man tatsächlich gesehen hat, der einem vor Augen steht: "Er wird einem Menschen gleichen", schreibt Krug, "der, nachdem er in ein eisiges Bad untertauchte, nun wieder an die warme Luft emporkommt, an das Licht, an die Sonne" (ebd.).

Zitate von Krug aus Wilhelm Walther Krug: ‚Dem Einen‘. In; ‚Jugend‘. 1904, Nr. 2, S. 23f.



      „Dem Einen - Er wird zeigen, dass das Leben so göttlich wie unfassbar sei.“

     

      Notiz von Gusto Gräser