Der Bund, Eidgenössisches Zentralblatt
Organ der freisinnig-demokratischen schweizerischen und bernischen Politik
23./24. Juli 1906, Nr. 341
Einfügungen in eckigen Klammern [...] von Hermann Müller im Jahr 2021

Feuilleton

Ascona, das Paradies voll Ruhe und Schönheit!

Von Gertrud Westphal.

Ganz durch Zufall kamen wir mit lieben Freunden aus Rom hierher und genossen eine schöne Zeit völligen Ausruhens zwischen den hohen Schneebergen — wir nervösen Grossstädter. Ja, es war hübsch dort in dem kleinen Nest am Lago Maggiore, wo die Bevölkerung den Fremden freundlich und offen entgegenkommt; wollten doch unsere Wirte — ein ältliches Schwesternpaar, die uns das Leben so angenehm wie nur möglich zu machen suchten durch liebenswürdiges Wesen, prachtvolle Milch und guten heissen Kaffee — absolut nicht vor Ablauf eines Monats bezahlt werden. Und billig war's, so lächerlich billig, aber sauber und gemütlich, trotzdem wir uns in dem völlig italienischen Zipfel der freien, deutschen Schweiz befanden. — Malerisch und reinlich liegt das friedliche Städtchen am See, mit freundlichen Häusern, gepflegten Gärten und interessanten alten Palästen. Der täglich dreimal ankommende Dampfer bringt Menschen, Post und Neuigkeiten, und bietet, besonders abends bei Mondschein, einen reizenden Anblick.

Eine sonderbare, amüsante Gesellschaft hat sich in diesem schönen Fleckchen Erde zwischen Bergen und Wasser angesiedelt, die von den Einwohnern kurzweg „die Vegetarier" genannt wird. Die Vegetarier! Ja, ein ganz eigenes Völkchen von Originalen ist's, die weit verstreut, ganz einsam in den waldigen Weinbergen bei Ronco, Ascona und Locarno hausen. Das ihnen allen Gemeinsame besteht darin, dass sie ganz von dem Althergebrachten, Ererbten und Anerzogenen abweichen und dadurch stets zwischen gewöhnlichen Sterblichen auffallen. Ihr Bestreben ist, sich möglichst unabhängig von den Menschen zu erhalten und sich alles eigenhändig anzufertigen. Aber das ist auch das Einzige, denn in allem andern sind sie untereinander grundverschieden. Da ist als Erster der drollige Baummensch, der sich hier und da in den Bergen Obstbäume mietet, drinnen wohnt und sich von den Früchten ernährt. Ist ein Baum abgegessen oder der Ertrag verkauft, so zieht er weiter zum nächsten; sind die süssen Kirschen vorbei, so kommen die sauren; ist die Birnenernte zu Ende, so folgen Pflaumen und Nüsse. Seine ganze Habe trägt der sonderbare, bedürfnislose Mensch im Rucksack mit sich herum; jeder grüsst ihn voll strahlender Freude, denn überall ist er als ratender, helfender Freund tätig. Ist sein Anzug reinigungsbedürftig, so springt er schnell in den See oder in eine sprudelnde Quelle, wäscht dort sich und das Gewand, legt es dann ans Ufer in die Sonne, während er im Wasser den Trockenprozess abwartet, um schliesslich als gereinigter Mensch zurückzukehren. Natürlich geht er meist barfuss oder in leichten Sandalen und überlässt Haar und Bart sich selbst. Dabei liest er viel, spielt förmlich Fangball mit den Vererbungstheorien und den Rassenunterschieden und steckt stets voller Ideen und Pläne, die selten oder nie zur Ausführung kommen. Dann verschwindet er für einige Wochen, für Monate, und die betrübten Bauern berichten, dass er eine Fusstour über den Gotthard mache, um seine Mutter zu besuchen, oder dass er ein wenig nach Russland gereist sei, um dort die Revolution zu studieren. Es ist eine wahre Freude, seine schlanke Gestalt so elastisch und leichtfüssig in den Bergen umherklettern zu sehen; da ist er so recht in seinem Element, sprudelt von komischen Einfällen und springt ausgelassen hin und her wie ein fröhlicher, argloser Knabe. — Dann sind ihrer drei Brüder [Gräser] aus Ungarn, die sich in alten Ruinen oben in den Weinbergen, stundenweit von einander entfernt, angesiedelt haben, und dort einsam und allein ihren Philosophien leben. Alle sind hübsche, grosse Gestalten — besonders der Mittlere [Gusto] ist prachtvoll gewachsen — die in den selbstgemachten, phantastischen Gewändern und den langen, fliegenden Locken malerisch genug aussehen. -Sie haben der hastenden Welt und ihren Berufen — sie waren Offizier [Karl] , Bildhauer [Gusto] und Maler [Ernst Heinrich]— für eine Weile, vielleicht für immer Valet gesagt, um im innigen Zusammenhange mit der ewig neuen Natur den Körper zu kräftigen und die Seele mit frischen Eindrücken zu füllen, um dann später vielleicht die Erde mit grossen Schöpfungen zu überraschen, vielleicht! Vorläufig gefallen sie sich seit Jahren sehr gut dort oben in ihren Einöden, wo der Älteste [Karl] die prachtvollsten Erbbeeren, die grössten Kirschen und die schönsten Trauben züchtet, der Mittlere [Gusto] mit eigenen Händen ein Schiff baut, das ihm als schwimmende Wohnung dienen soll, und der Jüngste [Ernst Heinrich] Studien für neue Bilder und phantastische Rahmen für die alten macht. — Von einem alten Sonderling, der hoch oben in den Bergen in dem kleinen, einzimmerigen Häuschen mit dem leuchtend roten Dach wohnt, und nur ganz selten zu den Menschen herabsteigt, weiss man nur, dass er seit langen Jahren vergebens eine Haushälterin sucht, die das Besitztum, zwei alte, schwärenbedeckte Hunde und ihn selbst in Ordnung halten soll. Ob er solch ein opferfreudiges Wesen wohl finden wird?

Am reizendsten liegt das Grundstück eines Ehepaares aus Polen; ganz versteckt zwischen Weingärten und dichten Laubwäldern ist das kleine, grüne Holzhäuschen, das sie ganz eigenhändig, ohne fremde Hilfe, gebaut und sehr einfach aber gemütlich eingerichtet haben schon um der schönen Aussicht willen, die man von der kleinen Veranda über den langgestreckten, von hohen Bergen umschlossenen See geniesst, steigt man gern den beschwerlichen Weg von Ascona hinauf, auch wenn die freundliche Aufnahme und die anregende Unterhaltung, die dem Besucher dort wie überall zuteil wird, nicht wäre. Sie alle leben da oben still für sich, mit der Welt durch rege Korrespondenz in alle Lande verbunden, da die meisten viel und weit gereist sind und zahlreiche Freunde erworben haben.

So gibt es noch viele, rundum in den Bergen, die alle zu den Vegetarianern gerechnet werden, meist aber nur durch die Umstände zur einfachen, gesunden Pflanzenkost gezwungen sind, da Fleisch sehr schwer für sie zu erlangen, in der heissen Zeit schlecht und fabelhaft teuer ist. Wir befinden uns eben auch hier im Zeitalter der Fleischteuerung! Aber da Obst, Eier, Gemüse und Schokolade umso schöner und billiger sind, lässt sich der Zustand ja sehr gut ertragen. — Dass ausser den Fremden — die durch ihre grosse Anzahl dem nahen Kurort Locarno zum Aufblühen verholfen haben, in Ascona jedoch selten oder nie auftauchen — noch eine Handvoll Anarchisten sich zu friedlichem Schuldenmachen dort angesiedelt haben, ist in der freien, Asyl bietenden Schweiz wohl selbst, verständlich.

Wir verlebten in diesem stillen Winkel voll Sonnenschein und Seeluft eine schöne, ruhige Zeit. Täglich unternahmen wir weite Spaziergänge in die grünbewaldeten Berge mit dem Blick auf den tiefblauen See und auf die schneebedeckte Gotthardkette; zu versteckten, kleinen Kapellen, die über frisch sprudelnden, heilkräftigen Quellen erbaut sind - zum Preise der Madonna und der Heiligen; in das enge, tiefe Tal der Maggia. zu den grossen Wasserfällen bei Ponte Brolla; nach Intragna, wo man auf die weisse Spitze des Simplon blickt. Oft auch ging's zum amüsanten grossen Wochenmarkt in Locarno, der zweimal im Monat stattfindet und Bauersleute aus weitentlegenen Tälern in seltsamen Nationaltrachten, zur Kur hier weilende Fremde, mit riesigen Körben bewaffnete, fürsorgliche Hausfrauen und viele Vegetarier in ihren phantastischen Gewändern zu einem bunten, abwechslungsreichen Bilde vereinigt.

Doch auch in Ascona selbst gibt's Interessantes und Anregendes. Zahllos sind die Festtage hier im katholischen Kanton Tessin, die frühmorgens mit energischem Glockenläuten beginnen und abends mit langen, feierlichen Prozessionen durch die mit Teppichen und Blumen geschmückten Strassen schliessen. Dazwischen liegen grosse Kirchenzeremonien mit den Priestern in hohem Ornat und der sonntäglich geputzten Gemeinde. Den Höhepunkt all dieser Kirchenfeste bildet die alle drei Jahre stattfindende Inspektionsreise des Bischofs, der dann eine Woche lang im Collegio pontificale in Ascona wohnt und von hier aus seine Diözese bereist. Voll kindlicher Begeisterung wird der hohe Gast mit Musik und Böllerschüssen empfangen und durch Ehrenpforten, gedichtaufsagende Schulkinder und abendliche Illumination der ganzen mit Flaggen und Girlanden geschmückten Stadt gefeiert.

Dann gibt es die interessante Seidenraupenzucht! Fast jede sparsame Bauersfrau hier betreibt nebenbei dies mühsame Geschäft, das doch immer einige Lire einbringt. Im Frühjahr kauft sie Schmetterlingseier aus Italien, aus denen in den ersten warmen Tagen die kleinen, ewig fressenden Tiere auskriechen und sich gierig auf die ausgestreuten Maulbeerblätter stürzen. Beglückt durch das Interesse, führen die freundlichen Leute die Fremden gern in das dumpfige Hinterzimmer, wo die fingerlangen, weisslichen Raupen auf langen, rechteckigen Brettern hausen, Unmengen des dunkelgrünen Laubes vertilgend. Dann kriechen sie an den hingesteckten Ruten hinauf und vergessen Schlafen und Fressen über der mühevollen Arbeit des Einspinnens. Nach acht Tagen beginnt die Ernte, und wohlverwahrt werden dann die hübschen, gelblichen Cocons kiloweise an die Seidenfabriken in Canobbio, Brissago, Lugano und Como verkauft. So lebt sich's in Ascona gesund, schön und preiswert, und ich kann jedem Erholungsbedürftigen von aufrichtigem Herzen raten: Geh nach Ascona, wo dich Ruhe, Naturschönheit und freundliche Menschen erwarten!