Dieser Artikel erschien 1907 als Ende einer langen Reihe von ähnlichen, die schon 1903 begann.


A Modern Utopia and an Order of the Samurai

Von H. G. Wells zu Harold Monro

Wer oder was brachte den englischen Dichter Harold Monro nach Ascona? – Vor ihm war schon ein anderer, berühmterer, heute noch bekannter englischer Dichter dort gewesen und hatte ein Buch daraus gemacht: der Verfasser des Welterfolgs ‚Die Zeitmaschine‘, H. G. Wells. Er war im Tessin gewandert und hatte sich von der Naturmenschenkolonie auf dem Monte Verità zu einer Zukunftsvision inspirieren lassen, die unter dem Titel ‚A Modern Utopia‘ 1905 erschien. Dort beschreibt er eine Welt, „close to the actual one, post-Darwinist and evolving, but governed by a voluntary nobility, the ‘Samurai’, who live under a Rule requiring among other things simple dress, abstention from alcohol and meat (everyone in this Utopia is vegetarian), and at least a week every year walking alone in the wild country. The effect of the Rule is by no means conformist; in fact Wells declares that the ultimate significance of life is in individuality” (Hibberd: Monro 35).

Wie später Daphne Du Maurier, so sieht auch Wells die Monteveritani als einen Orden, als eine Elite der Zukunft. Ihre Lage und Wirkung beschreibt er schonungslos realistisch: „After all, after all, dispersed, hidden, disorganised, undiscovered, unsuspected even by themselves, the samurai of Utopia are in this world, the motives that are developed and organized there stir dumbly here and stifle in ten thousand hearts…” (in Hibberd 35).

Dass er “walking alone in the wild country” empfiehlt, könnte ein Hinweis sein, dass er Gusto Gräser gekannt hat. Wer mehr als dieser lebte „hidden, disorganised, undiscovered“ - verborgen, unorganisiert, unentdeckt - im Tessin? Wer wanderte und wohnte dort allein der Wildnis? Wells muss zwischen 1902 und 1904 in Ascona gewesen sein.

Seine wirklichkeitsnahe Utopie entflammte den jungen Harold und seine Freunde. Sie gründeten einen Orden der Samurai, stellten 1906 eine ‚Samurai Press‘ auf die Beine und veröffentlichten ‚Proposals for a Voluntary Nobility‘.

Gegen Ende des Jahres 1906 Monro’s „Samurai ardour redoubled and he decided to give up drink for ever in the new year. It occurred to him that what he was looking for was the sort of life Jesus had preached” (Hibberd 40). Diese Absicht und diese Gesinnung mussten ihn schließlich nach Ascona führen.

Doch, nächste Frage: Wer führte Wells ins Tessin? Woher wusste er von der Naturmenschenkolonie? Die Antwort ist klar. Der Exkonsul Joseph Salomonson, der aus der Naturheilanstalt von Oedenkoven vertrieben worden war, machte seit 1903 unermüdlich Propaganda für eben diese Anstalt, vor allem in Frankreich, Holland und England. Er gab sich dabei als den Gründer dieser Anstalt aus, befriedigte so zugleich sein Rachebedürfnis und sein Bedürfnis nach Renommé. Der mehrsprachige Mann mit Neigung zur Hochstapelei, der sich auch als der Naturmensch MEVA vorstellte, war ein hervorragender Propagandist. Er machte den Berg in Westeuropa, in USA und selbst in den Südsee-Kolonien bekannt. Oedenkoven nannte ihn einen „sandwich-man“. Seine Reklame hatte Erfolg.


England in Ascona – Ascona in England

1903 wandert der englische Schriftsteller H. G. Wells im Tessin. Er besucht den Monte Verità. Der inspiriert ihn zu seinem Buch ‚A Modern Utopia‘, in dem er eine lebensreformerisch geprägte Zukunftsgesellschaft entwirft, die von einer Elite, „Samurai“ genannt, getragen und vorangetrieben wird. Man könnte sie auch „Monteveritani“ nennen.

Zerstreut, verborgen, unorganisiert, unentdeckt, unerkannt sogar von ihnen selbst, leben die Samurai in dieser Welt“ (Wells in Hibberd 35, übersetzt von HM).

Der junge Dichter Harold Monro gründet tatsächlich einen Samurai-Orden, dessen Anforderungen er unter dem Einfluss Nietzsches noch steigert. Konsequenter-weise unternimmt er 1908 eine Fußwanderung quer durch Frankreich ins Tessin und siedelt sich auf dem Monte Verità für mehrere Jahre an. Während dieser Zeit wechselt er zwischen Ascona und Florenz, wo er sich mit Edward Carpenter austauscht, dem englischen „guru of the Simple Life“ (Martin Green: Prophets 52). Nach 1914 gründet Monro in London die Buchhandlung ‚The Poetry Bookshop‘, die mit ihren Publikationen zum Sammelpunkt einer Generation junger Schriftsteller wird. Zu ihnen gehörten T. S. Eliot, Ezra Pound, Richard Aldington und andere. Wieweit Monro mit seinem alternativen Denken diese Generation beeinflusst hat, wäre noch zu untersuchen. Sicher ist jedenfalls, dass es seit 1903 eine Verbindung zwischen dem Monte Verità und der dichterischen Elite Englands gab, die wesentlich durch Harold Monro und Edward Carpenter geschaffen wurde.

Wie Martin Green zu berichten weiß: “Edward Carpenter wrote in his auto-biography that we should learn to understand Christianity as a version of a universal solar religion, and that ‘the world is coming round again to a concrete appreciation of the value and beauty of actual life, and to a neo-Pagan point of view.’ Carpenters ‘s work includes such titles as Love’s coming of Age and The Art of Creation. The latter, of 1904, begins, ‘We seem to be arriving at a time when, with the circling of our knowledge of the globe, a great synthesis of all human thought on the ancient and ever-engrossing problem of Creation is quite naturally and inevitably taking shape. The world-old wisdom of the Upanishads, with their profound and impregnable doctrine of the Universal Self, the teaching of Buddha or of Lao-tzu, the poetic insight of Plato, the inspired sayings of Jesus and Paul, the speculations of Plotinus, or of the Gnostics, etc., … all this, combining with ... modern physical and biological Science, and Psychology, are preparing a great birth, as it were` (Martin Green: Prophets 50f.).

Wie die Industrialisierung in England früher begann als auf dem Kontinent, so gab es dort auch früher schon eine harsche Kritik der technischen Moderne – zugleich mit einer Besinnung auf zeitlose Lebensweisen und Lebensweisheiten. Der Blick weitete sich über den Erdball und nahm die künftige Entwicklung denkend und ahnend voraus. „Like Tolstoy“, schreibt Green, „Carpenter began his New Age career in the spring of 1881, the beginning of the New Age period” (Green 52). In einer Nacht im Februar 1882 erlebt Karl Wilhelm Diefenbachs seine Vision des Sonnenaufgangs einer neuen Zeit. In seinem Gefolge wird Gusto Gräser im November 1900 mit anderen zusammen die Reformersiedlung auf dem Monte Verità begründen. Als Harold Monro um 1910 in der Mühle von Ronco über Ascona sich niederlässt, fließen demnach zwei Ströme in eins, die sich scheinbar unabhängig voneinander entwickelt hatten. In Wirklichkeit waren sie von Anfang an unsichtbar verbunden durch Emerson, Whitman und Thoreau, durch Morris und Ruskin, durch Tolstoi und die Romantik. In Wells, Monro und Carpenter wurde diese Verbindung sichtbar und dichterisch fruchtbar.

Gleichzeitig mit Gusto Gräser feíerte Monro das heilige Leben des Baumes und in ihm ein Urbild des Immerbleibenden:

The tread of God is murder: if he comes
Pursuing us with vengeance, let us stand
Together, silent still, against some tree,
Whose sacred life we shall be conscious of
Within trunk, boughs and leaves. Thus let us pass
If need be underneath the foot of God,
Back to the everlasting ... (in Hibberd 87)

In Ascona fand er “the mountain that was really to count, and glorifying every-thing that came after it … “ (in Hibberd 90).

Quellen:

Invocation

Thou living Oversoul, on thee I call;
Thine is all beauty: thou that dost inspire
The vision of eternity in all,
Quicken me with the glory of thy fire! …
Thee I have seen by mountain, wood, and stream,
As One, through myriad passing forms, abide;
Thee I have worshipped when thy perfect dream
Sends peace into the world at eventide.
O give me beauty in the inward soul;
Give light within and outward power to do:
Give me desire, and give me self-control:
Thou Oversoul of beauty flood me through!
Harold Monro