Neue Hamburger Zeitung, 29. 11. 1911
„Vom hohen Genießen", so kündigt Gusto Gräser eine
„Botschaft für Lebenshungrige" an, einen Vortrag, den er diesen
Donnerstag halten will. Gusto Gräser weilt seit einiger Zeit in
Hamburg und ist gewiß schon manchem auf der Straße durch seine
seltsame Erscheinung und Tracht — er geht barhäuptig mit lang
herabwallendem braunem Haar, in chitonartigem Gewand, auf Sandalen,
Brust und Arme frei — aufgefallen. Mancher hat auch wohl gedacht, in
ihm einen Naturmenschen à la „gustaf nagel" zu sehen. Dem steht
Gräser aber völlig fern. Er hat dem Dichter Johannes Schlaf einmal
erzählt, wie er sich in verschiedenen Berufen versucht habe, bis er
„schließlich seinen Beruf zum Dichter" und noch besser: seinen
Beruf, Mensch und nichts als Mensch zu sein, erkannt habe. Er pries
die Not, Bedürfnislosigkeit und naturgemäßes Leben als Urheber jeden
wahren Lebens und Glückes. Der Vortrag Gusto Gräsers findet
Donnerstag abend in Rehbehns Gesellschaftshaus statt.
Neue Hamburger Zeitung, 1. Dezember 1911
Schwärmer.
Kein Augenblick ist ängstlicher, als wenn der Zahnarzt mit
einer scheußlichen Zange vor einem steht und sagt: Sie brauchen gar
keine Angst zu haben. Dieser Zuspruch erzielt genau das Gegenteil
dessen, was er bezweckt. Und wenn man die Einladungskarten zu einem
Vortrag bekommt und darauf liest:
Mensch, willst du zu uns kommen,
So komme unbeklommen —
dann kriegt man bestimmt eine Beklemmung. Besonders, wenn
man so feierlich als Mensch angeredet wird. Gewiß, man ist einer.
Aber wer einem das besonders sagt, der hat unangenehme Absichten. Er
geht darauf aus, uns an Herz und Nieren zu greifen, unser Inneres
nach außen zu stülpen und unsere Seele mit dem Feuer zu bearbeiten,
auf daß wir blankgeputzt als neue Menschen von ihm gehn. Eine solche
Prozedur kann sehr ungemütlich sein. …
Derartige Massivitäten hat man von Gusto Gräser nicht zu
befürchten. Wenn man ihn durch die Straßen Hamburgs wallen sieht,
das ernste Antlitz von langen Locken und einem Christusbart umrahmt,
ohne Hut; mit Tunika und flatterndem Mantel angetan und die Beine in
einer trikotartigen Hülse, um die die Bänder der Sandalen gewickelt
sind — dann macht er einen überaus appetitlichen und manierlichen
Eindruck. Allerdings einen sehr fremdartigen. Man ist in Hamburg an
vielerlei gewöhnt: Inder und Chinesen, Nigger und Malayen laufen auf
unserem Pflaster herum, und die Völkerschauen schütten alljährlich
eine Fülle exotischer Typen vor uns aus, vom Eskimo bis zum
Hottentotten. Hamburgs Arm und Interesse langt in die entlegensten
Winkel der Welt. Und daß wir mit außergewöhnlichen Erscheinungen
aller Rassen versorgt werden, dafür ist der Dom da. Aber zu dem
Paradiese, in dem Gusto Gräser lebt, haben wir hier gar keine
Beziehung, weder im Handel noch im Geiste. …
Dass Hamburg den nicht hat, merkte man beim Betreten des
Rehbehnschen Saales, in dem Gusto Gräser eine lauschende Menge um
sich zu versammeln hoffte. Ueber das Lokal war eine Prise von
Menschen zerstreut, die beim Beginn des Vortrags, um sich ein
bißchen an einander zu wärmen, zusammenrückten. An der Tür hütete
Gräsers Gattin, eine hübsche, frische Erscheinung mit fließendem
Gewande und gelöstem Haar, die Kasse. Auf der Bühne aber trat,
hinter einem Versatzstück. das einen Felsen bedeuten sollte, er
selbst hervor. Er redete mit einer warmen, dunklen Stimme, gefaßt,
aber doch innerer Erregung voll, vom hohen Genießen, oder auch vom
tiefen Genießen. Er leugnete, daß Genüsse, die zur Qual führen,
Genüsse sind. Genießen könne nur, wer mit sich im Einklang ist und
in Gemeinschaft mit anderen; genießen könne man nur Dinge, die sich
wirklich einverleiben lassen. Auch Kampf sei nötig, den die Leute
scheuen, die zufrieden sind, wenn sie die Bemmen zwischen ihre
Lippen klemmen. Reichlich mit Versen untermischt rann seine Rede,
häufig stockend (was ihn zu einer hübschen Verteidigung des
Stammelns, Stotterns und Stolperns veranlaßte) und klang aus in eine
Aufforderung zu — ja, wozu eigentlich? So recht wollte er nicht
heraus. Er sei kein Pillendreher und Rezepteschreiber. Sagen wir
also, denn darauf kommt's heraus:
er forderte auf zu einem Leben, das der eigenen Entwicklung gewidmet
ist.
Im Reden bot er das seltene Schauspiel eines vollkommen
glücklichen Menschen, der froh ist, sich mitzuteilen. Freilich, auch
dieses Glück ist Trübungen unterworfen. So z. B. kann Gräser es gar
nicht vertragen, wenn jemand während seines Vortrags fortgeht. Das
mögen diese Leute alle nicht, auch wenn sie noch so inbrünstig
betonen, daß sie keine Jünger machen wollen. Im Grunde meinen sie,
wenn sie sagen: „Jeder sei er selbst' — doch immer „Jeder sei wie
ich." …
Und mitunter wird einem bange. Der Mann da oben behauptet
fortwährend, die sogenannte nützliche Arbeit sei nichts wert, Mensch
müsse man sein, sein inneres Wesen herausstellen müsse man. Wehe,
wenn Tedje Möller oder Hinrich Kuhlenkamp damit anfangen und, statt
Schuhe zu flicken oder Briefe zuzukleben, uns fortgesetzt ihr holdes
Innere offenbaren! Wehe, wenn August Piepenbrink mit Zungen redet,
statt Koffer zu tragen, und gar — Schrecken aller Schnecken! — Hein
Swattsnut zu dichten anfängt! Hein Swattsnut, den ein weises und
gerechtes Geschick die Funktion zuwies, nachts mit der großen Bürste
die Rotenbaumchaussee langzufahren!
Es ist nicht wahr, daß der innere Mensch allemal eine sehr
erquickliche Erscheinung ist. Selbst Goethe wies die Zumutung -
Erkenne dich selbst! ab und lobte sich die fröhliche Maskerade des
Lebens.
Erkenne dich! Was hab' ich denn zum
Lohn? Erkenn' ich mich, dann muß ich gleich davon.
Und Goethe hätte immerhin lohnendere und angenehmere
Entdeckungen zu machen gehabt als mancher andere. Aber haben wir
keine Angst! Gusto Gräser wird die Menschheit nicht dadurch in
Schreck versetzen, daß nun auf einmal die Innerlichkeit zu
grassieren anfängt. Weit eher wird er erreichen, daß ihm einer die
Frisur oder das Kostüm, den Tonfall oder die Manier, Gedichte über
Eck zu drucken, abguckt. … Und kommt es wirklich dazu, daß die
Aufmachung Gusto Gräsers in weiten Volkskreisen Mode wird, so werden
wir uns rasch daran gewöhnen. Ein Pech wäre es nur für den
Original-Gusto, den alle seine Innerlichkeit, Begeisterung und Wärme
nicht davor schützen würde, andauernd verwechselt zu werden.
H. ?. V.