Feuilleton
Ein Idealist
Rz. Zuweilen kommen in meine Redaktionsstube recht seltsame Gäste; z. B. jener alte Taglöhner und Vagabund, der daneben „dichtet“, der mit „seinen Geistern", mit früheren Dichtern und Philosophen lebt, und sich halblaut mit ihnen unterhält; oder jener Wanderbursche, der Flachmaler ist, aber in aller Literatur Bescheid weiß und originellste moderne Schriftstellerei treibt.
Neulich aber klopfte ein Mann an meine Türe, von dem ich etwas mehr erzählen möchte. Ein Mann aus fernster Zukunft vielleicht oder aus fernster Vergangenheit — so wenigstens kam er mir vor.
Hochgewachsen, schlank und schwank wie eine stolze Tanne, mit lang herabwallenden Haaren und ebensolchem braun-schwarzem Barte. Ohne Hut. Über die Schultern hat er einen gelbbraunen (wir würden heute sagen: einen tangofarbenen) sacktuchartigen Überwurf gelegt, vielfach geflickt; darunter frei die nackten, nervigen Arme. An den Beinen enganliegende, grauwollene gestrickte Hosen, an den Füßen einfache Sandalen. Ein lustiges Wanderbündel hängt ihm von der Schulter herab.
Wie er fragend eintritt, mit rhythmisch schwungvollem Gang, schaut er mir ein paar Atemzüge lang suchend und offen in die Augen, gibt mir dann die kräftige, nervige Hand und stellt sich vor: „Gusto Gräser, Dichter und Maler."
Ich habe schon von ihm gehört und lade ihn zum Sitzen ein.
„Ich möchte, dass Sie mich kennen lernen," spricht er mit tiefer, wohllautender Bassstimme. Mit einer Stimme, in der etwas Vertrauenweckendes tönt. „Die Polizei will ja nichts von mir wissen; in Zürich und in Bern hat man mich ausgewiesen . . . Aber ich kam wieder. Ich kann nicht glauben, dass man so kleinlich sein kann und einen Menschen verhaften, der doch gar nichts anderes fordert als das Recht, Mensch sein und sein eigenes Leben leben zu dürfen . . . Und deshalb habe ich nicht nachgegeben . . . und darf nicht nachgeben. Tausend Schufte laufen herum; man zieht den Hut vor ihnen und ... — Sie wissen ja . . lächelt er. „Aber einen ehrlichen harmlosen Menschen weist man einfach aus . .“
„Sind Sie Deutscher?", zweifle ich, da er die deutsche Sprache ziemlich holprig spricht.
„Ich bin Siebenbürger Sachse. Seit dem Kriege lebe ich in Ascona. Habe übrigens mit der Kolonie nichts zu tun. Ein Bruder, der im Felde als Offizier gefallen ist, hinterließ mir dort ein Stück Land, das nun meine Familie — ich habe sieben Kinder — ernähren soll . . . Es langt aber nicht . . . Und deshalb muss ich jetzt, statt auf dem Lande zu arbeiten, in die Städte wandern und sehen, wie ich etwas Geld heimbringe. Ich verteile meine Gedichte auf Flugblättern, nehme allerdings etwas Geld dafür, und suche mir nun einen Verleger." Hier holt er mit einem Schwung der Schulter sein selbstgeflochtenes Wanderbündel hervor, öffnet es und nimmt eine Handvoll Blätter heraus.
„Ich - möchte einen Kalender — ich nenne es „Jahrleiter" — schaffen; der soll ein rechtes Herzwerk werden. Sprüche, die ich dichte und Bilder, die ich zeichne oder male, sollen die einzelnen Tage begleiten und sollen den Sinn für Natur und Heim wecken. Der Sonne, dem Mond, der Erde, dem Heim, dem Manne, der Frau und dem Kinde sind die Wochentage gewidmet . . . Der Dienstag z. B. soll an die Erde, an die Arbeit und die Not erinnern; der Mittwoch an das Heim . . . Der Mann, der die schwere Müh und Not kennt, der ist glücklich . . . In Palästen mit Marmortreppen . . ., wo der Luxus ist, kann das Glück nicht sein. Mein oberstes Gebot ist: die Not! . . . Alles Starke und alles Freudige kommt allein durch die Not . . . Durch die Not werden wir frei, . . . wahrhaft frei . . ."
Längst schon mochte er meine stumme Frage erfühlt haben, warum er sich denn so auffällig kleide. Denn fast als Antwort sagt er plötzlich:
„Meine Kleidung? . . . Ja, ich muss mich so kleiden. Ich habe innerlich mit all dem Elend der Kultur-Flauheit und -Verlogenheit gebrochen . . So muss ich's auch äußerlich tun. Ich will keine Halbheiten . . . Die Leute meinen natürlich, ich sei verrückt oder mache Reklame [??]chen . . . So muss ich's auch äußerlich tun. Ich [füge?] hinzu:) Die kennen mich nicht . . ."
Er spricht nicht fließend. Aber aus seinen grünlichbraunen Augen strömt ein warmer Strom von Empfindungen und Gedanken. Und wenn er die edel geschwungene Stirne faltet, so weiß ich, dass er um den Ausdruck dessen ringt, was er empfindet. Denn er geht auch in seiner Sprache gewissermaßen auf die Natur zurück: oft schafft er sich die Worte neu und eigen.
Als er mir jedoch aus seinem „Jahrleiter" einige Sprüche vorliest, da scheint er erst so richtig in seiner Welt zu sein. Sein Auge schweift fast prophetenhaft über das Papier hinaus und blickt in helle Fernen. Seine tiefe Stimme aber singt den schönen Rhythmus der gedankenvollen und erlebniswahren Sprüche.
„Mich treibt der Hunger . . . Der Hunger nach Erlösung aus der Hirnkastenbildung mit ihrer öden Verstandes- und Gegenstandskultur, der das Herz, die Seele fehlt . . . Und ... ich glaube, ich habe gefunden ... Ich will das Heimgefühl wecken . . . Meine Heimat ist dort, wo ich freundlich derb und mit Freunden leben kann
Wohler kann ich am braunen Brot
Braver Freundschaft mich laben.
Wohler ist mir bei Hungersnot,
Und bei biederen Knaben.
Als bei den Herren matt und kommod.
Die um Geld sind zu haben ..."
Also die Heimat sucht er. Heimat ist ihm Glück, oder wie er es in seiner herrlichen Flugschrift von der Heimat schrieb: „Über alle Richtungen erhebt sich, für uns und unser Auge alle Einzelrichtungen überstrahlend und verbindend, die Aufrichtigkeit als die Sonne unseres Lebens und der aufrechte Handel und Wandel als die Erfüllung, unseres Glückes, das uns Heimat heißt."
Aufrichtigkeit! Ueberzeugungstreue! Mut, selbst zu sein! Das ist das Bewundernswerte an diesem Dichter, der nicht nur fühlt und denkt, was er dichtet, sondern auch bis ins Letzte lebt, was er dichtet. Ein Mann, der seine Weltanschauung tatsächlich lebt, der die Not und die Einfachheit nicht nur predigt, sondern selbst lebt und dabei glücklich ist, weil er von niemanden abhängt — wo gibt es noch solche Männer?
„Es ist schwer . . . sehr schwer. Aber Freund sein kann nur der, der von seinem Nachbar nichts fordert, nur der, der nicht an den Dingen und an den Menschen hängt," sagt er mit seiner ruhigen, markigen Bassstimme.
Aus seinem „Jahrleiter" sucht er ein Montagsbild heraus: „Am Montag bringe ich zuweilen das Bild verderblicher Kräfte.“ Er zeigt mir die Zeichnung eines Mannes mit gesträubten Haaren, kalt geistreicher Stirn, tiefen Nasenfalten, todgelber Farbe, stechenden Grübleraugen — ein Symbol der Verstandeskultur, des rechnenden Geistes der frostigen, grauen Hirnkastenbildung, die „den schöpfrisch frischen, den blühenden Menschen" ertötet. Und mit der Ruhe dessen, der klar und reif ist. sagt er: „Diese Kräfte . . . das hat uns dies Elend gebracht . . . diese Verwirrung . . . diesen Krieg . . . Und deshalb schreit es in uns nach Erlösung von all der rechnenden Verstandeskultur . . .
Farbe musst du mir bekennen.
Du, versteh! Ich meine Blut!
Innig in der Brust muss brennen,
Was dein Haupt, dein Handel tut,
Soll uns frischer Lebensmaien,
Soll uns Blütezeit gedeihen! . .
Während er mir vorliest, das heißt, er liest nicht vor: es ist, als ob er diese Sprüche eben vor sich hin improvisierte, ergriffen, suchend und doch ruhig und gesund — während er mir also vorträgt, schaue ich diesen Mann mit dem vornehmen, fein geschnittenen Gesichte an, und mir ist. als sähe ich ein Sinnbild frischen, freien, wahren Lebens vor mir. Und als er nun aufsteht, groß, imponierend, da muss ich an Tolstoi denken: vielmehr aber noch dünkt mich, vor mir stehe einer unserer alten Eidgenossen, der Tell oder der Stauffacher . . . Ein Mann aus fernster Zukunft vielleicht, oder aus fernster Vergangenheit... (Ein kleines Mädchen, das Gusto Gräser in der Stadt sah, behauptete nachher mit der Überzeugtheit der wundergläubigen Jugend: es habe den Niklaus von der Flüe gesehen . . .)
„Hoffentlich lässt die Polizei Sie nun diesmal in Ruhe," sage ich. Da lächelt er, dass seine großen weißen Zähne aus dem dunklen Barte hervorschimmern. „Sie muss mich gewähren lassen ... Ich verlange ja nur. nach meiner Überzeugung leben und für meine Familie leben zu dürfen."
In diesem Augenblick schrillt das Telephon. Ein Freund Gusto Gräsers ruft an, die Polizei wolle ihm den Aufenthalt gewähren. Da leuchten feine schönen, vollen Augen auf:
„Sehen Sie! ... .Er (der Freund) will, mich nicht im Stiche lassen!... Nicht wahr, Sie verlassen mich auch nicht!"
Und er schüttelt mir die Hand. Und schaut mir lange freudig in die Augen. In dieser stummen Zwiesprache der Blicke haben wir uns vielleicht das Tiefste und Schönste gesagt. —
„Und nun leben Sie wohl!" Wieder drückt er mir die Rechte, lang und fest, und blickt mich an. Ich glaube, in meinem ganzen Leben hat mir noch keiner so kräftig, so schlicht und so ursprünglich lebensvoll die Hand gedrückt wie dieser seltsame, mutige, stolze, freie, wahrhaft freie Mann. ...