Ein
Jünger Jesu ?
Aus:
'Tessiner Zeitung', 10. Februar 1917
Gusto
Gräser aus Ascona.
Wer hätte ihn nicht schon gesehen, den eigenartigen Menschen, angetan
mit dem selbstgefertigten Kleide, dem wallenden Bart und den dunklen
feurigen Augen, ihn, der, wo er geht und steht, nicht verstanden,
kleinlich beurteilt, ja eingesteckt wird, selbst in unserer freien
Schweiz? Ihm, der seit Jahren vor keinem Leiden zurückgeschreckt, wenn
es gilt, den Menschen Liebe und Friede, Freiheit und Erlösung zu
predigen, wollen wir heute einige Zeilen widmen, weil wir durch seine
kurzfristige Verhaftung durch den Polizeikommissar in Locarno uns dazu
veranlasst fühlen, da wir es bedauern, dass man einen in jeder Hinsicht
harmlosen Menschen, von dem man von vornherein schon den Eindruck
bekommt, dass er nur seinen Idealen lebt - wenn vielen Menschen auch
nicht verständlich – so behandeln konnte.
Es ist eine tiefbedauerliche
Tatsache, dass man heute die Männer mit den edelsten Ideen und reinsten
Ueberzeugungen nicht mehr beachtet, sie nicht nur keines Blickes
würdigt, sondern ihnen – in Gedanken – ins Gesicht speit! Da mir eben
dieser Ausdruck in den Sinn kam, gestatte man mir die Frage: „Wie würde
es wohl Jesus ergehen, wenn er heute zur Erde käme?“ Aber freilich,
gegenwärtig, in dieser Zeit des Hastens und Jagens, der Vergnügungen
und Zerstreuungen, hat man nicht mehr Zeit, eine Sache zu prüfen, nach
dem Guten zu trachten, geschweige denn – man bedenke, dass wir in der
Christenheit leben – nach dem Reiche Gottes! Da brennen Männer wie
Gräser an, denn sie rütteln auf, wecken da und dort ein Gewissen, und
das ist doch unmodern, taktlos, zum mindesten gesellschaftswidrig. Nun,
wir wollen doch eigentlich zur Orientierung fragen: “Wer ist Gräser?“
Die Antwort auf diese Frage
gibt uns ein gewisser Dr. P. F. Jickeli, Hermannstadt: „Es ist schwer,
diesen Mann zu definieren, aus dessen kraftvoll sehniger Gestalt, aus
dessen leuchtenden Augen ein reiches, kampfesfrohes und gütiges Leben
spricht. Gusto Gräser, der kein anderes Gesetz für seine Handlungen
kennt als sein Gewissen, seine innere Stimme, und nur ein Gebot: ‘Lüge
nicht!‘ lässt sich nicht leicht in gesetzte Worte fassen. Das Packende
in seiner Erscheinung liegt nicht darin, dass er ‚Naturmensch’ ist,
sondern dass er in einem frohen und kräftigen Leben seine Ideen
verwirklicht. Er ist kein Prediger in der Wüste, er drängt sich
niemandem auf. Er ist ein Mensch, mit dem man scherzen und lachen kann.
Er will keine Jünger werben, sondern mutig seinen Weg gehen, und seine
Hoffnung ist, dass andere vielleicht ‘bei den Rhythmen seiner Schritte
aufhorchen und dann ihren Weg leichter finden!‘ Er will kein System
aufstellen, er lässt die Worte und Gedanken frei seinem Innern
entströmen, so wie sie dort entstehen. In ihm ist der Protest unserer
Zeit gegen die Mechanisierung und Schematisierung des Lebens
verkörpert. Aus seinen Worten und Blicken fliesst ein reicher Strom
gütiger und reiner Menschlichkeit. Sein tapferes Leben ist uns ein
Beweis, dass die Menschheit noch Kraft und Mut hat, neue Wege zu gehen!“
Weiter: „Was will Gusto
Gräser?“ Ganz einfach: Er ist ein Jünger Jesu, der es ernst nimmt mit
seines Meisters Lehre – für viele, für alle vielleicht etwas zu ernst –
der selbst predigend im Lande herumreist, um die Menschen daran zu
erinnern, dass die Liebe mehr frommt denn Gewalt, und Verzeihen und
Vergeben mehr denn Hass.
H.
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Gusto Gräser aus
Ascona. Der in Nr.
12 der Tessiner Zeitung erschienene Artikel muss dahin berichtigt
werden, dass Gusto Gräser nicht sich als Jünger Jesu
ausgibt, auch nicht den biblischen Standpunkt vertritt, sondern
lediglich als Idealmensch seine Ideen über Heimat und Krieg
predigt und an den Mann zu bringen sucht. |
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