„Messias des Westens“

Der Ungar Emil Szittya (1886-1964) war Schriftsteller, Vagabund und Klatschreporter des Untergrunds. Seine Darstellungen sind oft unzuverlässig, teilweise pur phantasierend und zynisch im Ton und im Urteil. Er ist aber fast der einzige der vagabundierenden Bohème, der aus diesem Milieu berichtet hat, und der kundigste. Deshalb sind seine Angaben zwar kritisch zu lesen aber doch von Interesse als öffentliche Reaktion eines Zeitgenossen. In seinen meist unveröffentlichten Romanen spricht Szittya ganz anders von Gusto Gräser, nämlich mit höchstem Respekt.

 

Emil Szittya: Das Dorf der Extreme

In: Berliner Börsen-Courier, Jg. 55, Nr. 315 vom 8. 7. 1923, 1. Beilage, S. 5-6. Auszüge

Ascona liegt an dem Strand des schönen Lago Maggiore in der italienischen Schweiz. Eine ideale Landschaft, von felsigen Bergen und Wäldern umrahmt, die an Rübezahlmärchen erinnern. – Als man sich in den letzten 20-30 Jahren an allen Ecken und Enden der Welt religiösen Phantasien hingab, entstand auch in dem kleinen Dorf eine religiöse Kolonie. Die Begründer waren komische Käuze: ein Carlo Grässer, ein ehemaliger ungarischer Leutnant aus Oedenburg, der sich schon in frühester Jugend mit Welterlösergedanken herumtrug. Nach dem Tode seiner Eltern verteilte er sein Vermögen, weil er das Geld für sündig hielt, und trat aus dem Militärdienst. Er bewog zur gleichen Tat auch seine beiden Brüder und einen jungen Miltärarzt Scarvan, der mit der Begründung seinen Dienst verließ, daß ein reiner Mensch keinem Staat dienen darf. Scarvan wurde später durch den Gnostiker Eugen Heinrich Schmidt (ein persönlicher Freund Tolstois) beeinflußt. Sie wollten eine idealistisch-anarchistische Kolonie gründen und gewannen für ihre Pläne einen belgischen Millionär namens Oedenkoven, von dem man sich erzählte, daß er von Krankheiten befallen sei und sich durch das idealistische Leben reinigen wollte. Auch zwei Frauen gesellten sich zu den Schwärmern, eine Klavierspielerin aus Darmstadt und ein Mädchen namens Lotte, über die man sich noch seltsame Legenden in dem kleinen Dorf zuraunt. Sie soll die Tochter eines deutschen Bürgermeisters gewesen sein, hatte ihre Eltern beraubt und entfloh. Die Obengenannten fanden das hübsche Mädchen in einer Hamburger Matrosenkneipe, wo sie als Kellnerin in dem Sumpf rein geblieben war.

 

II.

Die Phantasten zersplitterten sich sehr bald. Die Grässers lösten sich als erste von der Gemeinschaft, Carlo versuchte Geschäfte zu machen und lockte reiche Leute in die Kolonie. Er peinigte seine Frau so lange, bis sie verrückt wurde. Die Ideale steckte er auf und arbeitete an Entdeckungen, mit denen er sich ein Vermögen erwerben wollte. Oedenkoven fing an, auf verrückte Engländerinnen zu spekulieren ...

 

Der erste Mensch, dem ich in Ascona begegnete, war ein Bruder des Begründers, Gustav Grässer. Er studierte Philosophie und warf unter dem Bann des Ideals seine Studien über den Haufen und wurde Landstreicher. Mit 40 Jahren passierte dem guten Gustav ein Unglück. …

Zurzeit hält Gustav Grässer sich in Berlin auf, wo er zum Gaudium der Kinder durch die Straßen spaziert, Predigten gegen Häußer hält, den er für einen Charlatan hält und seine phantastischen Sprüche verkauft. Die Straßenkinder in Berlin haben ihm den Namen „Kartoffelchristus“ und „M. d. W.  – Messias des Westens“ gegeben. ...

So hatten in Ascona die Anarchisten, Theosophen und Vegetarier einen fortwährenden Streit untereinander. ...                                                                                                                                                     (5)

Selbstverständlich haben sich die Asconeser gegen derartige Dinge aufgelehnt. Aber nicht nur die Anarchisten gingen den Asketen auf die Nerven, auch der Schriftsteller Emil Ludwig säte Zwiespalt in der Kolonie. Ludwig hatte eine Zeitlang eine Villa am Seestrand, wo er romantische Feste arrangierte ...

Im Anfang des Krieges verließen nicht nur die reichen Ausländer, sondern auch die Theosophen und Spiritisten das Dorf und überließen es ganz den Anarchisten. In Brione, neben Ascona, gründeten deutsche Defaitisten eine Arbeitsgemeinschaft, die von dort aus Propaganda gegen den Krieg trieb. Und von hier aus bekam Ascona ein neues Antlitz. Es wurde der Hort der pazifistischen Bewegung. Es weilten dort viele berühmte Pazifisten, wie Baron Wrangel. Eine Zeitlang wohnte dort auch Fürst Hohenlohe, Alfred Fried, Hugo Ball, Professor Fleiner (der Professor in Jena war und mit Deutschland in Konflikt kam, weil er das Protestmanifest wegen der Reimser Kathedrale unterschrieb). Aus allen Weltteilen kamen pazifistische Künstler und schlugen ihr Heim in Ascona auf. Guilbeaux, Rubiner, Wigging Eggeling (der seit zehn Jahren an einer neuen malerischen Aesthetik arbeitet). Heute ist Ascona ganz verlassen und die Künstler haben dem kleinen Dorf als Andenken ein Museum geschenkt.                                    [Ende]                                                                                                                                                       (6)