Ein moderner Diogenes

Von Martin Müllerott

Müllerott, Bibliothekar an der Bayerischen Staatsbibliothek- München, hat sich in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts öfters mit Gräser unterhalten. Ihm ist es zu verdanken, dass der Nachlass des Dichters – und damit sein Lebenswerk – vor der Vernichtung im Müll gerettet wurde. Sein Aufsatz war die erste Würdigung Gräsers, die nach dessen Tod erschien. Der Aufsatz enthält einige Unrichtigkeiten, weil dem Verfasser nur wenige Informationen zur Verfügung standen. Sie wurden hier weggelassen oder in eckigen Klammern berichtigt.

Er nannte sich einen Bildner und seine selbstgeschneiderte Tracht, nun freilich alt und abgetragen, an die eines Franken aus der Zeit Karls des Großen erinnernd, gab einen ersten Begriff von dem, um was es ihm ging. Wer ihn sah, rätselte ein wenig an ihm herum oder photographierte ihn doch wenigstens; ab und zu erschienen ein paar feuilletonistische Artikel über ihn, die es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahmen. Denn noch immer war die hohe, sich nicht ganz gerade haltende Gestalt Gräsers, die schon Karl Arnold 1908 einmal für die „Jugend“ festgehalten hatte, eindrucksvoll genug, um einen pikanten Reiz in einer Illustrierten abzugeben. Und ebensowenig durfte der weiße Vollbart des Greises, den man in einem Café oder in der Bayerischen Staatsbibliothek an seinen Gedichten herumbasteln sah, in einem Bildband von Schwabing fehlen, jenes Schwabings, das froh war, auch einen „Clochard“ sein eigen zu nennen. Nun, in der toleranten Luft Münchens hat er in der Tat wiederholt gelebt und die letzte gute Mandel Jahre bis zu seinem Tod im Oktober 1958 verbracht. …

Halb belustigt, halb befremdet, nahm man Notiz davon, daß der Natur­mensch die Rolltreppe nicht verschmähte, um zum Hauptbahnhof zu gelan­gen, von dessen Kommen und Gehen er rätselhaft angezogen schien. Tauchte er dann an der Tür des Wartesaales auf, um einen Blick auf die Gäste zu werfen, dann wurde er an diesem hektischsten Ort der Stadt zu einem unvergänglichen Archetypus, dann war er ein moderner Diogenes, der einen Menschen zu suchen kam: und so war es in der Tat.

Es war nicht schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen, eher wartete er darauf, und wenn er einen mit ehrlicher Freude begrüßte oder sich mit „Lebwohl" verabschiedete, so war man nicht nur von der wohltönenden Stimme, sondern auch von der einen oder anderen Formulierung überrascht. Sätze wie „Ich lausche so ein wenig in die Dinge herein" oder „Ich grabe nach Wurzeln, nach Wortwurzeln" mag man in hundert Jahren gut und gern für apokryphe Heideggerworte halten. Gar manchen Studenten hat er mit seinen Sprachgrübeleien – das Wort „Narr“ hielt er z. B. für ein nicht weiter ableitbares Urwort – sichtlich beeindruckt; hoffentlich übersahen solche Jünglinge den inneren Frieden nicht, der sichtlich aus ihm leuchtete. Und wenn man herumhörte, konnte man von manchem Schriftsteller oder Professor erfahren, daß sie ihn kürzere oder längere Zeit beherbergt hatten – aus Dachkammern wurde man ihn angeblich nicht so leicht wieder los – und jeder bedauerte eigentlich, daß er sich das Leben durch seinen Aufzug so schwer gemacht habe. Aber: „Durch, das ist der Hecke Zweck“, wie er sich einmal in dem Stammbuch einer Münchner Künstlergesellschaft verewigt hat, war seine Devise; Gusto Gras, wie er sich zeitweilig nannte, wollte vor allen Dingen „ein Individuum, kein Plural sein“. Wenn man ihn nach seinem Leben fragte, wich er aus. „An meinem Leben ist nichts wichtig; der alte Icke, das Ichmichlein ist schon lange gestorben.“

Immer aber gab er gern zu, daß er aus Siebenbürgen stamme und auch einiges unter dem Namen Arthur Siebenbürger veröffentlicht habe. Daß er mit Michael Georg Conrad, vor allem aber mit Johannes Schlaf befreundet gewesen sei, das konnte man aber bei näherer Bekanntschaft schon erfahren, und Johannes Schlaf, der seit der Jahrhundertwende zurückgezogen und versponnen bei seiner Schwester in Weimar lebte, ist von Gräser, dem Georg Klinghammer seines Romans „Aufstieg“, sichtlich beeindruckt. „Der ist weiter als wir“, heißt es, und mit einigen Artikeln „Ein neuer Dichter“ rührte Schlaf für Gräser, in dem er einen Nachfolger Thoreaus’, einen Geistesverwandten W. Whitmans sah, die Werbetrommel, die er eigentlich schon selber ganz gut hätte brauchen können.

Darauf wird in Max Geißlers „Führer“ [durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts] Bezug genommen, und Gräser bestätigte die dort angeführten Tatsachen, war aber mit dem Werturteil nicht zufrieden. Auf die Ähnlichkeit einer Abbildung in Betttex „Spiegelungen“ angesprochen, erzählte er einiges von seinem Bruder Carl Gräser und der Naturmenschensiedlung auf dem Monte Verità bei Ascona – das müßte auch noch mal richtig dargestellt werden – aber daß er einer Gelehrtenfamilie entstammte, daß insbesondere sein Großvater Andreas Gräser als Superintendent gewirkt und ein kraftvoller Vertreter des Deutschtums in Ungarn gewesen war, sein Vater als Bezirksrichter geamtet, sein Bruder Ernst sich als Kunstmaler in Stuttgart einen Namen gemacht hatte – das alles kam erst nach seinem Tode ans Licht.

Es war ein denkwürdiges Armenbegräbnis, mit dem sich der Pfarrer, ein entfernter Landsmann des Verblichenen, viel Mühe gegeben hatte, vom biblischen Leitspruch angefangen: „Das Leben des Menschen ist wie ein Gras“ bis zu der hier besonders naheliegenden Feststellung, daß man ins letzte Geheimnis eines Menschen nicht hineinblicken könne.

So war es nun in der Tat, und so hatte es wohl auch früh begonnen. Schon als kleiner Knabe soll er seine Mutter gefragt haben, warum machen sich die Männer Frauengesichter, indem sie sich rasieren? Im Februar 1879 geboren, hatte Gusto Gräser das Gymnasium in Kronstadt [richtig: Hermannstadt] besucht, dann in Wien die Kunstschlosserei erlernt, wie es dann aber weiterging, nachdem er bei einem kunstge-werblichen Wettbewerb [der Weltausstellung von Budapest 1896] einen Preis gewann und bald darauf dem kleinlichen Meister, für den er nicht mehr länger das Frühstück holen wollte, durchgegangen war, das läßt sich in der perspektivischen Verschiebung von beinahe 70 Jahren nur noch ungefähr ausmachen. Seine künstlerische Ausbildung kann nicht sehr lang gedauert haben, denn Gräsers Steinzeichnungen haftet, was allerdings zum Teil auch ihren Reiz ausmacht, etwas Ungelenkes an; der Predigerton fehlt selten, etwa wenn das aufbrechende Volk, von einem rüstigen Großvater angeführt, der das strahlende Enkelkind auf den Schultern trägt, den im Hintergrund rauchenden Fabriken den Rücken kehrt und den Spaten schultert, um das Land zu bebauen…

Eine ähnliche Vision vor Augen zog in der Fin de siècle-Stimmung eine Schar von Kulturmüden, unter ihnen der belgische Millionärssohn Ödenkoven, der ehemalige k.u.k. Oberleutnant Carl Gräser und sein Bruder Gustav, die aus Wien stammende Pianistin Hofmann und ihre Schwester über die Alpen, um eine Siedlung neuen Menschentums zu gründen. Es waren die Gebrüder Gräser, die den Platz für das zukünftige anarchistische Gemeinwesen auf dem später sogenannten Monte Verità auskundschafteten, das ganz auf freiwilliger Mitarbeit und „ohne Zwang“ aufbauen sollte. Denn also hatte schon der Bund geheißen, den Carl Gräser in der Langeweile der galizischen Garnison Przemysl gegründet hatte. Sein Vorgesetzter, der Erzherzog Leopold von Toskana, war bald dazugestoßen, weil ihm die Antwort Carl Gräsers, die als vorschriftswidrig beanstandete Barttracht sei naturgewollt und keinesfalls wolle er in ihr Walten eingreifen, gar sehr imponiert hatte. Nach der Familientradition war es Gusto, der den älteren, gesell-schaftlich umgänglicheren aber auch schwermütigen Bruder Carl zum Naturmenschentum bekehrte. Wenn er also mittelbar zu einem der Katalysatoren des Standesverzichts des Erzherzogs, des späteren Leopold Wölfling, wurde, der auch eine Zeitlang auf dem Monte Verità lebte, so hat er sichtlich in das Rad der Geschichte eingegriffen.

Die Atmosphäre dieser anarchistischen Siedlung, in der man, wohl von G. Landauer angeregt, die Ansicht verfocht, daß man alles, was man zum Leben brauche, selbst erzeugen müsse, an der Natur so wenig wie möglich verändern dürfe und das Geld nicht gebrauchen solle, hat Erich Mühsam prächtig eingefangen. Nicht unkritisch gegen die einzelnen Teilnehmer, hielt er offensichtlich etwas von der Idee, die sich nicht realisieren ließ. Ödenkoven war so vorsichtig gewesen, das Grundstück auf seinen Namen eintragen zu lassen und betrieb in der Folge das Unternehmen als eine nicht eben billige Naturheilanstalt, die zahlreiche berühmte Gäste anzog. Die Gräsers aber lebten weiter konsequent nach dem Prinzip des Tauschhandels, sodaß die Lebensgefährtin Carl Gräsers den unbedingt nötigen Zahnarzt einmal mit dem Gesang einiger Lieder bezahlen mußte. 

Auch Gusto hielt es sein Leben lang ähnlich. Bis ans Ende seiner Tage dankte er für jede erwiesene Gastlichkeit mit dem Vortrag seiner Gedichte. Aber ist das so ganz abwegig? Hat nicht Schiller einmal gesagt, daß gemeine Naturen mit dem zahlen, was sie tun, edle mit dem, was sie sind? Die Schwierigkeit ist nur, daß man sich über den Tauschwert geistiger Güter, über die Gaben der Persönlichkeit, aber auch über Spruchkarten und Steinzeichnungen weniger leicht einigt als über den Wert von Gartenfrüchten. Gustav betonte immer wieder, daß er auch „ohne Geld gedeihe“, die Anekdote aber, die ein Stuttgarter Freund von ihm berichtet, daß er einmal einen größeren Geldschein, den er auf der Straße gefunden, mit den Worten „Das Geld, das schnöde Geld“ wieder fortgeworfen habe, hat sich wohl kaum zu der Zeit zugetragen, da er für eine Familie sorgen mußte.

Es war um das Jahr 1908, als Gräser anläßlich einer Vortragsreihe, die er in Wien hielt, auf seine um ein paar Jahre ältere Lebensgefährtin Elisabeth Doerr traf, die Tochter eines Mainzer Redakteurs, von der es im Roman „Aufstieg“ heißt, „daß sie schon länger so lebe als er.“ Aus dem selbstgebauten Haus in Siebenbürgen, das sie planten, ist wohl nichts geworden, dafür zog er eine Zeitlang mit einem selbstgebauten Reisewagen, zeisiggrün angestrichen und mit Sprüchen versehen, durch die Lande, wie das J. Schlafs Erzählung „Fruchtmahl“ beschreibt, die auch seine vielfachen Beziehungen zur Wandervogelbewegung erwähnt und seine Gewandtheit in der Diskussionsführung sichtbar werden läßt, mit der es ihm gelang, das Gespräch immer wieder an sich zu reißen.

Als Familienvater hat Gräser wohl die meisten Kämpfe mit den Behörden ausfechten müssen, denn natürlich hatte er die Familie „ohne Zwang“ und ohne Standesamt gegründet, selbstverständlich schickte er die Kinder nicht in die Schule, die dennoch Lesen und Schreiben lernten, und ebensowenig kümmerte er sich um einen Gewerbeschein, wenn er seine Gedichte, Spruchkarten und Steinzeichnungen vertrieb, „man gibt, was man gibt“. Und die Polizei, in der wie in jeder Behörde etwas von einer Primitivperson steckt, die also wie ein kleiner Junge zum Angriff übergeht, wenn sie etwas nicht versteht und sich nicht fürchtet, wies ihn aus, sobald sie eine Handhabe fand. So wurde er 1911[richtig:1912] aus Leipzig wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ausgewiesen, weil er eines seiner Kinder als kleinen Nackedei auf dem Pferd reitend photographiert hatte. Freunde aus der Jugendbewegung behängten daraufhin den zeisiggrünen Reisewagen mit Korsetten, Büstenhaltern, Modellpuppen und ähnlichen Attributen und gaben ihm so unter Klampfenbegleitung das Geleit bis zur Stadtgrenze.

Es ging wohl nicht immer so spektakulär und glimpflich zugleich ab, immer wieder aber fand er Fürsprecher, die für ihn eintraten, und es waren darunter wahrhaftig auch solche, die dabei nicht einmal an die eigene „Publicity“ dachten, wie Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Max Klinger, Thomas Mann und Hans Thoma. In solcher Situation [tatsächlich in der Nazizeit] ist vermutlich auch das folgende Gedicht entstanden …

Gebührt nicht diesem Dichtersmann

Ein Freipaß durch das Land?

Sonst fällt, wie jüngst schon wieder,

Er, doch getreu und bieder,

Er, Mund der Heimatlieder,

Dem Büttel in die Hand.

Wer tilgt die Schand?

Wer löst Urheimatsohnes Pein,

Daß er sein Herzwerk wirke

Uns alln zum Frohgedeihn?

Kolkrab, Bussard ziehn frei im Land,

Weil sie zu sterben drohten.

Wer hält ob diesem Boten

Des Wildheils seine Hand?

Während des ersten Weltkriegs wurde Gräser von Stuttgart aus nach Ungarn ausgewiesen, doch scheint ihm keine Uniform gepaßt zu haben oder kein geeigneter Feldwebel für ihn verfügbar gewesen zu sein [er verweigerte den Kriegsdienst], denn eine Notiz der Schweizer Zeitung „Der Bund“ vom 19. Januar 1917 brachte einen Gabenaufruf von Hermann Hesse für den mit seiner Familie in Askona lebenden Gräser und belegt damit sein ziviles Dasein. Von einem selbstgebauten Einbaum, mit dem er über den Langensee gefahren sei, ist anderswo die Rede. J. Flach erwähnt die ihr Kind auf der Straße stillende Frau Gräser als seinen ersten Eindruck von Ascona, und die Freiheit, welche die Kinder „ohne Zwang“ genossen, ist ebenfalls in die Erinnerungen an dieses Idyll eingegangen.

Es ging 1919 schnell zu Ende, als ihn die Schweizer Fremdenpolizei in einem Aufwasch mit anderen, die sich lästig gemacht hatten, des Landes verwies. Gräser lebte nacheinander in München, Berlin und Dresden und man sah ihn als einen der vielen, die um 1920 die „Messiasseuche“ ausmachten. Er pflegte sich damals Arthur Siebenbürger zu nennen, hielt als Volkwart allwöchentlich Gesprächsabende in der Aula des Königstädter Gymnasiums am Alexanderplatz ab, und die Lokalreporter bemerken, daß er mit seinen Appellen „Zurück zur Natur und zum deutschen Volkstum“ auch Eindruck auf die „verbittertsten Kreise des Proletariats“ machte, die mit dem Abzeichen der Kriegsdienst-verweigerer gekommen waren.

„Er schreitet in selbstverfertigtem Gewand, er geht mit wallendem Haupthaar, er verteilt Sprüche und verbreitet eine Atmosphäre um sich, die halb achtung-gebietend, halb komisch wirkt. Seine biblischen Prophetenzüge gehen ins Altgermanische, ins Wotanspriesterhafte. Immer gewaltiger tönt sein sonorer Baß durch den Raum, die rollenden Rs passen gut zu dem kindlichen Wald- und Naturmenschenpathos mit den ein wenig skurrilen Wortbildungen, den Assonanzen, den plötzlich eingestreuten schwerfälligen Verszeilen“. …

Mitte der zwanziger Jahre [richtig: 1918] trennte sich sein Weg von dem seiner Frau und seiner Töchter, die wohl mehr in bürgerliche Bahnen einbogen, auch sollen weltanschaulich-religiöse Gründe eine Rolle gespielt haben. Gräser wandte sich [1926] erneut nach München, das ihn zur Zeit der Räterepublik ausgewiesen hatte. Thomas Mann bestätigte ihm im Dezember 1926: „Dieser Mann ist reinen Herzens und liebt Deutschland. Er meint es gut und freundlich mit uns, und gut und freundlich sollte man ihm begegnen“. Ob es Erfolg hatte steht dahin [es hatte Erfolg: die Ausweisung aus Deutschland wurde in eine solche aus Bayern abgemildert], eine geplante Feierstunde für Michael Georg Conrad, den „wackeren Achtziger“, wurde jedenfalls verboten, auch saß er wieder einmal im Arrest.

Er hatte vielerorts Freunde. 1929 soll er den Vagantenkongreß in Stuttgart besucht haben [er trat dort als Redner auf]. In der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg steuerte er einmal auf die Wohnung eines Münchner Schriftstellers zu, der ihn gerade noch kommen sah und sich verleugnen ließ. Der Naturmensch zeigte sich der Lage gewachsen, rief den Hausherrn von der nächsten Telefonzelle an und ermahnte ihn mit sonorer Stimme, das nächste Mal doch mehr bei der Wahrheit zu bleiben. Dann warf er dem Schriftsteller noch ein Gedicht in den Briefkasten, in dem die Verse standen: „Sieh, du willst den Mensch beschreiben; kommt er, muß er draußen bleiben.“ Er tauchte noch in mancher Stadt Deutschlands auf, bevor er um 1940 [richtig: 1938] ein altes Hausboot auf der Havel [richtig: auf dem Langen See bei Berlin-Eichwalde] erwarb, behielt aber auch diese Bleibe nicht lange. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er, von den Zeitläuften verhältnismäßg unangefochten, in einer Dachkammer im Münchner Stadtteil Freimann. Vielleicht hat der Name den Ausschlag gegeben.

In dieser Zeit ist auch eine Bilderserie entstanden, die das Münchner Stadt-museum von ihm, dem „Einsiedler“, anfertigen ließ. Eine Illustrierten-Abbil-dung aus den fünziger Jahren zeigt ihn, einen strahlenden bukolischen Alten, von Blumengirlanden und Früchtekörben umrankt, zwischen Maiskolben und Weintrauben auf der selbstgezimmerten Lagerstatt. Ein fröhliches Bild, das nachdenklich stimmt. Gut, daß wir es haben. Denn … ihm nur die Position der lächerlichen Person zuzuweisen, ohne welche die Gesellschaft freilich nicht auskommen kann, wäre lediglich eine verfeinerte Form der Ablehnung, mit der man sich die Einsicht in dieses Leben verbauen muß. Uns scheint zwar, als ob dieses sein reibungsreiches Leben einen großen Teil seiner schöpferischen Kräfte, seiner zweifellos vorhandenen künstlerischen Begabung verbraucht und vergraben habe. Auch schließt die Notwendigkeit, alles selbst zu tun, wohl die Spitzenleistung auf einem oder wenigen Gebieten aus, so wie der freistehende Baum sich kugelförmig allseits ausbreitet, aber niemals so hoch wird wie der im Kronenschluß gewachsene. Doch bei diesen negativen Aspekten allein darf es nicht bleiben! Auch Diogenes hat ähnlich gelebt und die Welt dennoch bereichert. In des bedürfnislosen Gustav Gräsers Dachkammer standen die Bleistifte in den Löchern eines zerbrochenen Hohlziegels und die Stopfnadeln waren in dem Gefilz eines Vogelnestes untergebracht.

Gräsers Schreibtisch in Freimann

Es ist wohl nicht überliefert, welches Verhältnis Diogenes zu diesen Gebrauchs-gegenständen hatte, wenn er dergleichen überhaupt verwendete, aber einfacher hätte auch er das Problem ihrer Aufbewahrung nicht lösen können. Vielleicht hat ihn sein selbstgewähltes Leben vor Manchem bewahrt, hat ihn seine Kutte getragen wie das Ordenskleid einen Mönch. Es könnte sein, daß sich sein Unbewußtes mit Traumsicherheit die einzig für ihn zuträgliche Lebensform gewählt hatte.

Was bedeutete er der Mitwelt? Auch hier empfiehlt sich Aufgeschlossenheit! Gräser, der so manchen Zug eines alttestamentlichen Propheten aufweist, hat sich in seiner Bedürfnislosigkeit von dem genährt, was die Bücher Leviticus und Deuteronomium für die Witwen, Waisen und Fremdlinge an den Feldecken und in den Weinbergen aus Vergeßlichkeit übrig zu lassen befahlen. Die Biologen meinen, daß diese leichte Verschwendung, auf eine Milderung des Konkurrenz-kampfes zielend, letztlich gute Früchte bringe…

Und wer will sicher sagen, ob der Archetypus, den Gräser verkörperte, nicht doch auf die Menschen einwirkte? Ob nicht bei dem einen oder anderen der stumme Protest des Diogenes gegen den Kult des äußeren Wohlstands Widerhall fand? Ob die Medizin, die er der Menschheit in allopathischer Form reichen wollte, nicht doch in homöopathischer Dosis genommen wird?

Aus Martin Müllerott: Gusto Gräser – Prophet auf Spruchkarten.

In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, München 1964, Folge 4, S. 193-198