Die Gräser-Höhle in Arcegno
Aus dem italienischen übersetzt von einem ad-hoc Monte-Verità-Team
In einem Raum, im ersten Stock des
Museums Casa Anatta auf dem Monte Verità in Ascona,
befindet sich ein grosses Ölgemälde von Gustav,
bekannt als Gusto, Gräser (1879-1958). Mitbegründer der vegetarischen Kolonie
Monte Verità im Jahr 1900, im Gegensatz zur unternehmerischen Idee des
Sanatoriums - "Salatorium", wie es Mühsam
betitelt hatte - des Ehepaars Oedenkoven-Hofmann,
lebte er ab einem gewissen Zeitpunkt in einer nicht weit entfernten Höhle in Arcegno. Dies ist ein kleines Dörfchen mit Steinhäusern
oberhalb von Losone, das ich durchquere und Mitte Oktober zur Mittagszeit auf
der Via Pestalozzi hinter mir lasse. Jenes Gemälde von Gusto Gräser wurde im
Sommer 1981 in Budapest im Haus eines Neffen von Gusto Gräser aufgefunden und
stellt eine mystische und traumhafte Landschaft dar. Es zeigt eine nackte
Familie in der Abenddämmerung aus einem höllischen Morastgebiet
kommend, mit Krähen und Kondoren, die im Dunkeln über einer Felsklippe hocken,
überblickt eine himmlische Lichtung im Dschungel, wo drei Rehe äsen. Gräser war
inspiriert von der visionären Malerei des utopistischen
Nacktkultur-Gründers Karl-Wilhelm Diefenbach, der später nach Capri
auswanderte, und in dessen Kolonie bei Wien – einem Vorläufer des Monte Verità
- Gusto Gräser eine Zeitlang lebte. Proto-Hippy und
Guru von Hermann Hesse, war er für ihn die Inspiration zu Demian (1919). Als
Visitenkarte pflegte er, Grashalme zu verteilen.
Vorbei am trostlosen Campo Pestalozzi,
einem verlassenen Feriendorf, das seit 1929 dem berühmten Schweizer Erzieher
und Pädagogen gewidmet ist, atme ich endlich den befreienden Geruch von Humus.
Wo die im Zweiten Weltkrieg von internierten polnischen Soldaten gebaute Strada dei Polacchi
- woran eine Gedenktafel im Felsen erinnert - in den Wald führt, tauchen
seltsame riesige Felsen wie Landzungen zwischen Teichen und Gräsern auf.
Glatte, mächtige, für die Gegend typische Felsformationen. Unten schwarz
poliert, wegen der vielen Quellen, die sie durchfließen und umspülen, sind sie
oben von Horden von Bergsteigern verunstaltet. Ich habe es nie ertragen,
gestehe ich, Haken in den Fels, Seile und so weiter stecken zu sehen, aber
selbst die Skigebiete ruinieren mir die Landschaft. Ein absichtlich eingeschlagener
falscher Weg, um mich im Wald zu verirren, lässt mich schöne große braune
Kastanien und einen merkwürdigen Brunnen im Felsen finden, aus dem ich erfrischendes
Wasser trinke. Ein paar Tage lang von frischem Wasser, Kastanien und Sonne im
Gesicht zu leben, wäre meiner Meinung nach nicht schlecht. Wie Gusto, der so
heißt, weil er das Leben genoss.
Die Gräserhöhle (437 m), wie einige Leute sie nennen,
besser bekannt als Grotta dei
Pagani und in der offiziellen Kartographie als Tana dei
Pagani markiert, obwohl sie nicht ausgeschildert ist, und der überwachsene Pfad
nicht leicht auszumachen oder zu erraten ist, ist sie letztendlich weniger
verwildert, als ich mir vorgestellt hatte. "Nach dem Parkplatz gehen Sie
links einhundert Meter in den Wald hinein", sagte ein Mann, der sich mit
dem Zacky-boy - fröhlicher Helvetismus für Reisigschneider, dessen Variante der Jacky-boy ist - in
Richtung Ruino-Berg inmitten von unregelmässigen
Felsblöcken oben auf dem Gipfel herumtrieb. Ein alter Kastanienbaum wacht wie
ein Wächter über die Höhle, zwischen mit Moos bewachsenen Felsblöcken. Ich bin
nicht einmal ein großer Fan von Höhlen, das muss gesagt werden, aber diese hier
ist ungewöhnlich. Die Öffnung im Stein ist besonders, wie ein Mund oder ein
Schnabel, und sie bildet einen Bogen. Überreste eines Brandes vor dem Haus. Die
Erde ist so schwarz. Auf dem Felsen im Inneren sind ausgewaschene Zeichnungen
von Neonandertalern zu sehen. Ich gehe in die Höhle
und setze mich, nicht sehr ruhig, auf einen Felsbrocken. Die Luft ist feucht,
ich bemerke zwei Kettenglieder, die an einer verbolzten Schraube befestigt
sind. "Die 20 000 in der Höhle beobachteten Bovis
(Erdstrahlenkräfte, Anm. der Red.) sind eine klare Einladung zu einem Moment
der Besinnung", schreibt Claudio Andretta in
"Luoghi energetici in
Ticino" (2016). Hier gelang Hermann Hesse, der 1907 im Sanatorium Monte
Verità zu Gast war, um sich vom Alkohol zu entgiften, dank der Einweihungstage
bei Gusto Gräser die Wende in seinem Leben. Ein Wanderprophet mit Ledersandalen
wie Sklaven sie tragen, dem vor einem Monat in der "Libération" ein
schönes, von Agnès Giard unterzeichnetes Lebensbild,
gewidmet wurde, in dem er als "der berühmteste" unter den Gründern des
Monte Verità bezeichnet wird.
Ich werde Holz machen und ein Feuer
anzünden. Ich brachte alles, was ich für die gerösteten Kastanien brauchte, in
meinen Rucksack mit: Kastanien, die ich vor Tagen aufgelesen und in die Sonne
gelegt hatte, einen speziellen schmiedeeisernen Topf, ein geschmiedetes
Dreifußgestell aus Schmiedeeisen, das ich vielleicht sogar zu Hause hätte
lassen können, da einige ausgewählte Steine die gleiche Stützfunktion erfüllen
könnten. Ich denke zurück an dieses jugendliche, geheimnisvolle Gemälde - das
einzige, das von Gräser übrig geblieben ist, die anderen zerstörte er im Alter
von zwanzig Jahren und machte sich dann auf den Weg -, der mich hierher
brachte. In die Mitte des jahrhundertealten Kastanienwaldes, an die Schwelle
des Ashrams von Losone. Ein idealer Ort für eine südalpine Robinsonade.
Ich atme bereits den starken Geruch der
gerösteten Kastanien auf der Glut. Reich an Vitaminen und Mineralien stärken
sie die Muskeln, regenerieren die Nerven, und sind nützlich bei seelisch-körperlicher
Ermüdung. "Die Kastanien sind ein Geschenk der Mutter Gottes, nicht nur des
Herrn", verkündete in seiner wöchentlichen Rede auf dem Platz, in Ponte Capriasca der Rot ein etwas verrückter Einsiedler, der in
einem rustikalen Doppelhaus mitten in den Wäldern von Meraggia
lebte.